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GRINGO GROUND ZERO

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Noch ehe mein Jetlag richtig einsetzen konnte, sitze ich also bereits wieder im Flieger und betrachte durch die Fenster die imposanten Berggipfel der Anden unter mir. Wenn uns niemand sagen würde, dass hier alles ungefähr 2000 Meter höher ragt als in den Alpen, dann könnte diese Landschaft genauso gut daheim vor unserer Haustür liegen. Beim Warten auf unser Gepäck am Förderband hören wir plötzlich eine unverkennbar österreichische Stimme hinter uns: »Na he, des gibts jo jetzt echt ned, oda?« Ich drehe mich um und sehe zwei junge blonde Mädels mit den klassischen Traveller-Rucksäcken und Bergschuhen vor uns stehen. Nachdem Tom sie lachend begrüßt hat, erfahre ich, dass er mit den beiden Schwestern zur Schule gegangen ist. Eine der beiden macht derzeit den gleichen Studienaustausch wie er, allerdings in Brasilien. Aber »wenn man schon mal da ist«, kann man ja auch gleich noch 4000 Kilometer an die andere Küste Südamerikas fliegen, um mit seiner Schwester den Machu Picchu zu besuchen. Dass wir uns nun hier am Flughafen treffen, halten alle für einen unglaublichen Zufall. Doch seit ich gelesen habe, dass nur drei Prozent der Weltbevölkerung jährlich fliegen, ist mir klar, dass das mit Zufällen rein gar nichts zu tun hat. Ständig erzählen mir Leute nach einer Reise, dass sie zufällig der Arbeitskollegin des Anwalts ihres Onkels, die im Nachbardorf lebt, irgendwo auf einer Safari in Südafrika begegnet sind. Begeistert kreischen dann alle und stellen philosophisch fest: »Wie klein die Welt doch ist!« Doch da unterläuft uns ein grober Denkfehler. Nur die Welt derer, die sich diesen Lebens- und Reisestil leisten können, ist verdammt klein. Die anderen siebenundneunzig Prozent der Weltbevölkerung hätten garantiert keine Bekannten auf dieser Safari getroffen – es sei denn, sie sind Arbeiter im Safaripark.

Wir erreichen das Stadtzentrum dieser touristischen Hochburg Perus, ein fein säuberlich herausgeputztes koloniales Städtchen mit allen Angeboten, die das Gringo-Herz begehrt: Mit Sicherheitszäunen umgebene Hostels mit eigenem Irish Pub, spottbilligen Massagesalons, Boutiquen bekannter Sportartikelmarken, in denen man sich für das geplante Anden-Trekking ausrüsten kann, und kleine Hipster-Cafés mit 500 Zubereitungsarten ihres »Organic Coffees«. Ich frage mich: Gefällt das tatsächlich irgendjemandem, diese offensichtlich verwestlichte, unauthentische Altstadt, oder nehmen das alle nur in Kauf, weil nun mal jeder dieselbe Sehenswürdigkeit besuchen will? Anscheinend gefällt dieser geschützte Kokon den meisten, denn sobald wir den Stadtkern verlassen und in die heruntergekommenen Vorstädte spazieren, findet sich kein einziger Tourist mehr. Dafür Müllberge, unverputzte, aber bewohnte Rohbauten, ein Verkehrschaos voller alter Rostlauben und sehr viel Armut. Ein bisschen peruanische Realität darf auch auf dem Hauptplatz der Stadt auftreten: Gerade findet ein dreißigtägiger Streik der Lehrkräfte statt, denn nach fünf bis sechs Jahren akademischer Ausbildung verdienen Lehrerinnen und Lehrer in Peru umgerechnet etwa 350 Euro. Ein Polizist bekommt nach zehn Monaten Ausbildung mehr als dreimal so viel. Der Hauptplatz ist für die Demonstrierenden großräumig abgeriegelt – »para no molestar a los gringos«. Für die Peruaner sind nicht nur US-Amerikaner Gringos, sondern alle weißen Touristen, und die sollen natürlich möglichst wenig gestört werden. Die Gringos tragen selbst am meisten dazu bei, das möglich zu machen: Während ich begeistert mit den Demonstranten mitsinge: »No somos uno, no somos dos, hoy somos todos!«, bemerke ich, dass der Großteil der Touristen die Streikenden einfach ignoriert. Ein paar machen Fotos des Geschehens, einzelne sind verärgert, dass die Demonstranten ihr perfektes Fotomotiv des Hauptplatzes stören. Doch die meisten gehen vorbei, ohne die Protestierenden eines Blickes zu würdigen. Ich fühle mich genauso schuldig, denn was bedeutet schon ein bisschen Mitklatschen vom Straßenrand aus? Meine Reise in dieses Land nährt vor allem die peruanische Staatskasse, wo Geld unfair und korrupt verteilt wird. Das gilt leider für die meisten Reiseziele, die für uns Europäer so angenehm leistbar sind. Doch in den touristischen Pubs rund um den Hauptplatz kann man trotzdem an einem Abend leicht ausgeben, was ein Lehrer in Peru monatlich verdient. Wir bereuen es bald, ein solches Pub betreten zu haben. Im ganzen Lokal befinden sich, abgesehen von den Bedienungen, nur Gringos, überall wird Englisch gesprochen. Eine Gruppe von jungen Briten Anfang zwanzig unterhält sich lautstark und ausschweifend darüber, für welche organisierte Tour sie wie viel bezahlt haben. Niemand spricht davon, dass junge Peruanerinnen und Peruaner sich solch eine Reise nicht einmal ansatzweise leisten könnten. Niemand scheint sich daran zu stören, dass dieses Lokal mit dem realen Peru genau gar nichts zu tun hat. Die Kolonialzeit, die ist ganz offensichtlich nur auf dem Papier passé.


Das Hauptziel all dieser Gringos ist der Machu Picchu, eine riesengroße Inka-Ruine inmitten der Anden. Sämtliche Details zu dieser Geldmaschine lassen sich auf Wikipedia oder in jedem Reiseführer nachlesen, wesentlich ist: Alle wollen hin. Und darum ist das inzwischen ganz schön teuer, auch wenn es in Peru in Wirklichkeit fast an jeder Straßenkreuzung eine Inka-Ausgrabung zu bewundern gibt, für die sich aber kaum jemand interessiert. Jede Travel-Agency in der Stadt bietet geführte Trekkingtouren zum Machu Picchu an und jeder geschäftstüchtige Touristen-Informant erklärt dir, dass es viel zu gefährlich ist, diese Wanderung alleine anzutreten. Manche, so auch wir, versuchen es trotzdem und stellen fest, dass es problemlos möglich ist. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass wir unsere Campingausrüstung inklusive Zelt selbst tragen, auf- und abbauen und unser Essen selbst kochen. Während wir das tun, können wir bei den benachbarten Reisegruppen beobachten, wie die Gringos sich von den peruanischen Guides die Zelte aufbauen lassen, bekocht werden und tagsüber von Eseln und Pferden ihre Rucksäcke tragen lassen. Anders gesagt: Wer ohne Reisegruppe loszieht, überlegt es sich zweimal, ob er das Stativ seiner Spiegelreflexkamera einpackt. Der Besuch des Machu Picchu selbst ist eine reine Massenabfertigung, die den streitsüchtigen, verschlossenen Inkas wohl gar nicht gefallen hätte. Kein Wunder, denn täglich werden fast 3000 Personen hier durchgeschleust. Jeder Taxifahrer in Lima wird uns später fragen, ob wir den Machu Picchu besucht haben und stolz anmerken, wie beeindruckend dieser Ort sei. Die meisten gestehen im weiteren Gesprächsverlauf, dass sie selbst noch nie dort waren. Tom erzählt mir, dass für die meisten Peruanos der Besuch ihres größten Kulturerbes ein lebenslanger, kaum erfüllbarer Traum bleibt. Mir wird fast übel, wenn ich die fotografierenden Horden mit Selfiesticks betrachte, denen dieser Ort weit nicht so viel bedeutet – mich eingeschlossen – wie den vielen Menschen, die ihn wohl nie zu Gesicht bekommen werden. Auch wir warten brav, bis wir an der Reihe sind, um das klassische Foto mit der Machu-Picchu-Kulisse im Hintergrund zu machen, das ich schon tausendfach auf Facebook und in den Reiseberichten meines Vaters gesehen habe. Ich sende das Foto auch bald meinen Eltern via WhatsApp und ernte von Papa ein mit grinsendem Emoticon versehenes »Das kommt mir bekannt vor!« als Antwort. Für die meisten Backpacker in Peru ist dieser so besondere Ort nicht mehr als ein »nettes Must-see« auf ihrer Reise. Für mich ist dieser Besuch ein imposanter Einstieg in die peruanische Welt, doch es ist gewiss kein authentischer erster Eindruck. Ich fühle mich in dieser Touristenzone alles andere als nützlich. Wem bringt es irgendetwas, dass ich diese uralten Inka-Steine live gesehen habe? In Anbetracht der Lebensverhältnisse nur wenige hundert Meter von den Touristenzentren entfernt kann ich nicht glauben, dass ich etwas Gutes tue, nur weil ich mein Geld hierhertrage. Monate später werde ich Menschen, Lebensrealitäten und Wesensarten dieses Landes kennengelernt haben und den Machu Picchu nur als eines in Erinnerung behalten: als Touristenmagnet, der die Gringos von dem ablenkt, was dieses Land wirklich ausmacht.

Das nächste Mal bleib ich daheim

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