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Die Hand der Fatima

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Mit den vielfachen Bedeutungen und Funktionen der Hand sind wir spontan gut vertraut. Wir kennen die Hand, die gibt, die nährt, die Hand, die schützt, die schöpft, die Hand, die streichelt, die heilt, aber auch straft, die erhobene Hand, die schwört oder Distanz schafft, und die ausgestreckte Hand, mit der man auf jemanden zugeht, um ihm mit einem kräftigen Händedruck einen guten Tag zu wünschen. Diese „Sprache“ wird allerdings nicht überall verstanden, und im Zeitalter vor der globalen Kommunikation hätten wir mit dieser Geste nicht selten ein befremdetes Stirnrunzeln geerntet. Dabei wollen wir nach unserer längst vergessenen Tradition eigentlich nur kundtun, dass wir keine Waffe in der Hand haben und in bester Absicht kommen.

Wenn wir jemandem gegenübertreten, sind es neben dem Gesicht vor allem die Hände, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die wir als einen eigenständigen Teil der Kommunikation wahrnehmen. Hände sind ausdrucksstark, ein Teil der Persönlichkeit eines Menschen und seiner Kraft im konkreten wie im übertragenen Sinne: So stärken elf Fußballer, die sich an den Händen fassen, die in ihnen ruhende, gemeinsame Kraft, bündeln sie und übertragen sie aufeinander. Ähnlich, wenngleich stärker symbolisch, empfinden wir den Ritus des Ringtauschs bei der Hochzeitszeremonie als eine offenkundige Verbindung der Kraft zweier Menschen.

Bei aller Vielfalt der möglichen Bedeutung von Handhaltungen und Gesten in den Kulturen spielen häufig religiöse Aspekte mit hinein, deren Ursprung meist nicht mehr bewusst ist. In der abendländischen Tradition wurde das „Bild“ der Hand, ihre ikonografische Bedeutung, wesentlich geprägt durch antike Mythen, die Bibel und Heiligenlegenden. Vor Augen steht uns etwa Moses, der durch das Hochhalten seiner Hand den Weg durch das Rote Meer öffnet und später den Ausgang einer Schlacht zu seinen Gunsten entscheidet, weil er einen ganzen Tag lang – wenngleich mit „Unterstützung“ seiner zwei Helfer Aaron und Hur – die Arme emporhält. Andere Beispiele sind Jesus, der die Kranken durch das Auflegen der Hände heilt, wie auch die zur Ikone gewordene Darstellung der Erschaffung Adams durch einen Fingerzeig von der Hand Gottes, die Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle gemalt hat. Die Hand als positives Symbol ist seit Jahrtausenden im Mittelmeerraum bekannt: Den Ägyptern galt sie als „helfende“ Hand für die Reise ins Jenseits, die Juden sprachen von der „Hand Gottes“, die römische Antike von der „Hand der Venus“, das frühe Christentum von der „Hand Mariens“ und der Islam von der „Hand der Fatima“. All diesen Symbolen gemeinsam ist die Vorstellung, dass über die Hand übernatürliche Kräfte wirksam werden, die den Menschen Schutz und Hilfe gewähren. Einfache, alltägliche Erscheinungen sind also vermutlich in verschiedenen Kulturen auf ähnliche Weise verstanden worden und haben sich in ähnlichen Funktionen und Formen weithin verbreitet. Vorweg ist festzuhalten, dass die Frage nach einem Früher oder Später solcher Entwicklungen häufig nicht zu beantworten ist und es in manchen Fällen müßig bleiben muss, sie überhaupt zu stellen.

Die „Hand der Fatima“ ist Teil dieser reichhaltigen, populären Überlieferungen und in ihrem Ursprung darüber hinaus mit einem Ereignis verknüpft, das vor 1500 Jahren die Anfänge der muslimischen Religion auf der arabischen Halbinsel entscheidend beeinflusst hat. Die Grundform einer erhobenen Hand mit geschlossenen Fingern ist als Symbol in der gesamten muslimischen Welt von Südasien bis Nordafrika verbreitet. Es erscheint in verschiedenen Ausprägungen und Funktionen als Zeichen lebendiger Volksfrömmigkeit der Sunniten wie der Schiiten, der beiden Hauptrichtungen des Islam. In einer besonders auffälligen Form erscheint die Hand als Aufsatz von Standarten, wie sie als Votivgaben schiitischen Versammlungshäusern gestiftet werden. Dieser Aufsatz besteht aus einer Zink-Silber-Legierung mit einer unten angesetzten Tülle, die auf eine Holzstange gesteckt wird. Es handelt sich um eine linke Hand, etwa in natürlicher Größe, deren Rücken kunstvoll in Treibarbeit geschmückt ist. In arabischer Kalligrafie sind neben Allah die Namen des Propheten und seiner Familie verzeichnet, also Mohammed, seine Tochter Fatima, deren Mann Ali (zugleich Mohammeds Vetter) und ihre zwei Söhne Hassan und Hussein. Die einzelnen Finger zieren Rankenmuster, sogenannte Arabesken, die auf die blühende Natur verweisen und Vorstellungen von Paradies und Jenseits wachrufen.


Hand der Fatima, die als Standartenaufsatz diente, 20 Jahrhundert.

Standarten dieser Art erinnern an Feldzeichen oder Banner, die mit einem konkreten historischen Ereignis verbunden sind, der Schlacht von Karbala. Nach dem Tode des Propheten im Jahre 632 n. Chr. waren unter seinen Anhängern Konflikte über seine Nachfolge ausgebrochen. Die eine, in der Tradition Mohammeds stehende Partei forderte, dass der Nachfolger aus seiner Familie stammen solle, also der Prophetenenkel Hussein sein müsse. Dagegen wandten sich andere Gruppierungen, die sagten, man möge dafür sorgen, dass über eine gemeinsame Entscheidung neue Kräfte an die Spitze der islamischen Bewegung kommen. Im Jahre 680 kulminierte der Streit zwischen beiden Fraktionen in der Schlacht bei Karbala, die mit der gänzlichen Vernichtung der Familie Mohammeds und der Niederlage seiner Anhänger endete. Dies war der Beginn einer Trennung des Islam in zwei Strömungen, die wir heute als Sunniten und Schiiten kennen. Während Erstere die Mehrheit der islamischen Gläubigen bilden, dominieren Letztere vor allem im Iran und im Irak. Der zwischen beiden Richtungen bestehende Streit dreht sich nicht um Glaubensüberzeugungen – die Singularität Allahs sowie die Anerkennung des Korans und Mohammeds als Prophet sind nicht diskutierbar –, sondern um die Frage nach der Legitimität von Macht und damit der Führung innerhalb der islamischen Lehre.

Zum Gedenken an diesen Wendepunkt in der frühen Geschichte des Islam führen schiitische Gläubige bei Umzügen am zehnten Tag des „Trauermonats“ und bei Wallfahrten Standarten mit sich. Für sie wird der historische Bezug über die Namen der „fünf heiligen Mitglieder der Familie des Propheten“ hergestellt, die auf den Fingern der Hand geschrieben stehen, vornehmlich über den Prophetenenkel Hussein, der in der Schlacht auf grausame Weise zu Tode kam. Die Hand wird auch nach Mohammeds Schwiegersohn als „Hand Alis“, „Hand des Löwen“ oder „Hand des Gotteslöwen“ bezeichnet. Neben diesen eher metaphorischen Assoziationen ist das Symbol auch mit dem Bannerträger Abbas Alamdar verbunden. Während der Schlacht wollte er der kleinen Tochter Husseins, die zu verdursten drohte, Wasser aus dem Euphrat bringen; dafür wurden ihm beide Hände abgeschlagen. Im vornehmlich sunnitisch geprägten Mittelmeerraum ist das Symbol hingegen als „Hand der Fatima“ bekannt und nimmt – über den historischen Bezug hinaus – die bereits angedeutete Tradition der „helfenden Hand“ auf, die stärker mit der Frau und Mutter als mit Kriegshelden assoziiert wird.

Wie auch immer die Hand bezeichnet wird, was historisch nachweisbar ist oder mündlich tradiert wurde – das unbestritten verbindende Element ist die Hand mit fünf Fingern als naturgegebene Konstante. Zugleich stellt die Zahl fünf eine Grundkategorie des muslimischen Glaubensgebäudes dar. Das Vorstellung von den „fünf Säulen des Islam“ beschreibt die Grundlage der Religion überhaupt; auf ihnen basiert die gesamte Gemeinschaft und das Leben jedes Einzelnen. Diese „fünf Säulen“ sind das öffentliche Glaubensbekenntnis, das täglich fünf Mal zu verrichtende Gebet, die Hilfe und Unterstützung für die Armen, das Fasten im Monat Ramadan und schließlich die Pilgerfahrt nach Mekka, die jeder Muslim mindestens einmal im Leben vollziehen soll. Das erklärt, warum die „Hand der Fatima“ von so ungeheurer Bedeutung im Alltag der Gläubigen ist und sich heute vor allem im Mittelmeerraum in vielen Formen und unterschiedlichen Materialien findet. Innerhalb der „fünf Säulen“ konkretisiert sich Fatimas helfende Rolle in Glaubensinhalten und Verhaltensvorschriften und wird zu einem greifbaren Zeichen muslimischer Gemeinschaft. Die Hand wird als Amulett getragen, das den Einzelnen vor gefährlichen und bösen Einflüssen von außen sichtbar schützen soll und zugleich schmückt. Wir betrachten Schmuck als Verschönerung der Menschen und sind uns kaum bewusst, dass er ursprünglich, neben manchen anderen Funktionen, auch dazu beitrug, den Träger vor Dämonen und damit verbundenen Gefahren, vor allem Krankheiten, zu bewahren. Was immer man als „Schmuck“ trug, wie man sich kleidete oder auch verkleidete, den Körper bemalte, tätowierte oder verstümmelte – in vielen Fällen lag der Nutzen solcher Handlungen darin, das Böse abzuwehren und von sich fernzuhalten. Um wie viel näher liegt es dann, die Hand, die ja Bestandteil des menschlichen Körpers ist und mit der man sich konkret immer wieder verteidigen muss, als besonders wirksames Mittel des Schutzes einzusetzen?

Die Hand der Fatima ist im sunnitisch geprägten Bereich des Mittelmeerraums und der angrenzenden Länder das am meisten verbreitete und populärste Schutzsymbol dieser Art. Sie wird als Schmuckamulett am Hals, als Ohrschmuck, als Anhänger am Ring oder als Stickerei auf der Kleidung getragen; vor allem kleine Kinder werden mit solchen Amuletten versehen, da sie durch Krankheitsdämonen besonders gefährdet sind. Man malt eine Hand auf Mauern oder ritzt sie in Alltagsgeräte; dabei erscheint sie nicht nur naturalistisch wie beim Standartenaufsatz, sondern auch stilisiert als Kamm oder fast abstrakt, wenn etwa die Finger als einfache Striche gezeichnet werden.

Das Bild der Hand als religiöser Abwehrgestus ist nördlich der Alpen in viel geringerem Ausmaß verbreitet als in den verschiedenen Traditionen des mediterranen Volksglaubens. Das lässt erkennen, dass das Mittelmeer weniger eine Grenze als eine Brücke darstellte, über die durch Jahrtausende religiöse Vorstellungen und Brauchtum trotz unterschiedlicher kultureller Entwicklungen miteinander in Kontakt standen und sich gegenseitig beeinflussten. Beispielhaft dafür steht die „Hand der Fatima“ und die Vorstellung vom „Bösen Blick“, die ein geradezu komplementäres „Paar“ zu bilden scheinen. Seit dem Altertum stellt der „Böse Blick“ zwischen den Säulen des Herkules, die wir heute als Enge von Gibraltar kennen, und dem Zweistromland Mesopotamiens eine der großen magischen Gefährdungen der Menschen dar. Das Auge ist ein ambivalentes Organ, eine der empfindlichsten Öffnungen des Körpers, durch die negative Kräfte eindringen können, zugleich aber ist es auch ein „Instrument“, eine Waffe, mit der man andere verletzen, ihnen Schlechtes an den Hals wünschen kann. Vor dem bösen Blick schützt daher nicht nur das Handamulett der Fatima sondern auch das „Augenamulett“, das „Gleiches mit Gleichem vergilt“: Ein solches an Hausmauern oder Wänden aufgemaltes oder in Räumen aufgehängtes Augenamulett suggeriert symbolisch eine Art Sicherheitszone.

Der böse Blick ist meist eine plötzlich auftretende Gefährdung – etwa wenn man einem Feind zufällig in der Straße begegnet – und erfordert eine spontane Antwort. Hier treten Handgesten verschiedener Art in Aktion, die vor allem Italienern vertraut sind. Die allgemeinste Form ist es, die Hand zu heben und „halt!“ zu signalisieren, was nicht immer angemessen erscheint und Aufsehen erregen könnte. Man kann diese Geste aber auch im Verborgenen vollziehen: Wenn man das Gefühl hat, jemand verwünsche einen gerade mit seinem bösen Blick, dann verbirgt man die Hand und denkt sich seinen Teil. Oder man ballt die Faust in der Tasche, eine sehr verbreitete Geste, mit der man sich zugleich insgeheim abreagieren kann.

Erfolg versprechender, wenngleich weniger subtil ist die Methode, das Übel an der Wurzel zu packen, indem man dem Auge direkt droht, es zu zerstören. Während die geballte Hand nur hilflose Wut signalisiert, ist eine Hand mit gespreizten Fingern eine Waffe, mit der man das Auge des anderen, den Ursprung des bösen Blicks, unschädlich machen kann. Noch effizienter ist es, die Hand mit zwei Hörnern – Zeigefinger und kleinem Finger – zu zeigen: Dann hat man beide Augen im Visier, auf die man einstechen möchte. Am gefährlichsten für den bösen Blick ist der Mittelfinger. Aus der geschlossenen Faust als einziger hochgereckt, ist er ein Bild des Phallus par excellence. Nicht umsonst war er den Römer bereits als „Impudicus“, der Schamlose, bekannt. Egal ob man die Hand mit dem „Stinkefinger“ offen zeigt oder sie schamhaft in der Tasche oder hinterm Rücken verbirgt: Mit dieser Geste ist fürs erste jegliche Gefahr gebannt.

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