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Einleitung

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Religion begleitet unseren Alltag „von der Wiege bis zur Bahre“, wie es leicht antiquiert, doch anschaulich heißt. Dass sich Religion nicht auf ein Sonntagsvergnügen reduzieren lässt, ist uns im Allgemeinen sehr wohl bewusst. Doch ein so eingängiges Bild täuscht leicht über die Vielfalt und Vielschichtigkeit religiöser Traditionen hinweg, die mit dem Totenkult verbunden sind und weit über die 2000 Jahre des viel beschworenen christlichen Abendlandes und seine Grenzen hinausreichen.

So gehen das Christentum wie auch Islam und Judentum ihrer historischen Herkunft nach auf religiöse Strömungen des Vorderen Orients zurück, in denen sich immer wieder Gemeinsamkeiten und Überschneidungen finden. Sie teilen also nicht nur einen Fundus von gemeinsamen, älteren Glaubensvorstellungen, sondern standen zum Teil über Jahrtausende hinweg miteinander im Kontakt, der wechselseitige Einflüsse ermöglichte und förderte. Nicht unähnlich der Entwicklung dieser drei Religionen ist etwa das historische Verhältnis zwischen Hinduismus und Buddhismus, die sich seit dem 2. und 1. vorchristlichen Jahrtausend in ihrem nordindischen Herkunftsgebiet herausgebildet haben. Ihre Entwicklung ist geprägt von Konflikten, der Tradierung früherer Glaubensvorstellungen und ihrer Umdeutung in neue Kontexte. Diese sogenannten Hochreligionen zeigen vergleichbare Entwicklungen und teilen äußerlich ähnliche religiöse Grundkategorien, wie den Glauben an ein höchstes Wesen oder letztes Ziel der menschlichen Existenz, die Berufung auf kanonische heilige Schriften und sind häufig auf der Basis eines etablierten Priesterstandes organisiert. Aus späterer Sicht erwecken sie – nicht nur für ihre Anhänger – das Bild eines in sich geschlossenen Glaubenssystems, das häufig den Blick auf ihre immer wieder bezeugte Wandelbarkeit verstellt, und ihre Fähigkeit sowie Bereitschaft, sich verschiedenen, von außen kommenden Einflüssen zu öffnen.

Veränderungen der erwähnten Hochreligionen, deren Entwicklung durch schriftliche Quellen belegbar ist, lassen sich im großen historischen Kontext und in der Analyse von Fallstudien verfolgen. Schwieriger hingegen ist es, die frühe Entwicklung und konkret kaum belegbare Geschichte von mündlich tradierten Religionen nachzuvollziehen. Ihre ungeheure Erscheinungsvielfalt ist durch überall anzutreffende Grundvorstellungen bezeugt wie die Beseeltheit der Natur und von natürlichen Erscheinungen, den Glauben an kosmische, übermenschliche Einflüsse und an außergewöhnliche Kräfte sowie deren Beeinflussbarkeit durch magische Praktiken. Was ihnen allen und damit Religionen in aller Welt gemeinsam ist, drückt sich in der lateinischen Wurzel des Begriffs religio, „Gebundenheit“, aus: Es ist der Glaube, von höheren Mächten „abhängig“ zu sein, was nicht zugleich bedeutet, ihnen „unterworfen“ zu sein.

In der gemeinsamen Basis von Religion und den zahlreichen, historisch belegten oder auch nur vermuteten Kontakten untereinander liegt die Herausforderung, einzelne Spuren in Gegenständen, Handlungen oder Vorstellungen zu erkennen. Die sechsundzwanzig Einzelobjekte, die im Folgenden jedes für sich nach diesen Kriterien betrachtet werden, stellen scheinbar eine verschwindend geringe Auswahl dar, zu gering, um generelle Aussagen treffen zu können. Was sollte schon ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand wie ein Angelhaken von einer Insel der Südsee über die Entstehung der Welt aussagen? Was kann ein Brautschmuck für seine muslimische Trägerin bedeuten, dessen Dekor frühe byzantinische und christliche Elemente der italienischen Renaissance enthält und von einem jüdischen Handwerker gefertigt wurde? Und warum glauben christliche Missionare des 17. und 18. Jahrhunderts in der chinesisch-buddhistischen Gottheit Guanyin eine Verkörperung der heiligen Maria zu erkennen, wenngleich beide aus gänzlich unterschiedlichen religiösen Welten stammen?

Den einschlägigen Untersuchungen der Ethnologie verdanken wir eine große Fülle von Antworten auf solche Fragen nach religiösen Zusammenhängen. Wie weit sich allerdings solche Fragen nach möglichen, auch historisch belegbaren Kontakten zwischen den Kulturen, Ausmaß und Abfolge gegenseitiger Beeinflussungen und daraus bewirkter Veränderungen schlüssig beantworten lassen, ist schwer zu entscheiden. Doch kann die Betrachtung eines einzelnen Gegenstandes sehr wohl hilfreich für das Verständnis solcher Prozesse sein und diese in vielen Fällen durchaus bestätigen. Spuren religiöser Einflüsse, die sich über lange Zeiten übereinandergelegt, gleichsam „abgelagert“ haben, öffnen den Weg zu möglichen Antworten. Die in der Folge vorgestellten Gegenstände sollen als Beispiele aus der Vielfalt religiöser Erfahrungen dienen, die sich an dezidierten Kultobjekten, aber auch einfach an Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs niedergeschlagen haben. Letztlich gilt es, den Reiz einer weiterführenden, eigenen Spurensuche zu wecken, also selbst möglichen Verbindungen nachzugehen und tatsächliche Übereinstimmungen zu entdecken.

Die Suche nach solchem „Anschauungsmaterial“ ist einfach. Es findet sich etwa in Hülle und Fülle in den vielen, hochrangigen völkerkundlichen Sammlungen Deutschlands, die auf frühe Sammlungen von Herrscherhäusern und seit dem 18. Jahrhundert die Bestände von Wissenschaftlern und Reisenden zurückgehen, die sich den Anfängen der menschlichen Kultur und damit auch der Religionen gewidmet hatten. Denn immer wieder sind Kulturen aufeinandergestoßen, haben sich über Handel und Kriege Kenntnisse anderer Völker verbreitet. Über solche Auseinandersetzungen sind alte Religionen untergegangen und zugleich neue entstanden.

Das uns „nächste“ Beispiel begann vor 2000 Jahren: Eine kleine, vorderorientalische Sekte, die gleichsam aus dem Nichts auftauchte, das Christentum, brachte in wenigen Jahrhunderten nicht nur die feste politische Ordnung des Römischen Reiches ins Wanken, sondern löschte auch viele Züge der über ein Jahrtausend vorherrschenden Philosophie und Religion der Antike aus, indem es ihr Erbe übernahm. Seine Spuren sind allenthalben bis heute zu erkennen, von der „Lateinschrift“ über den Karneval, der auf das römische Fest der Saturnalien zurückgeht, oder einen alltäglichen Begriff wie „Religion“ und unzählige andere.

Es ist reizvoll, Spuren nachzugehen und zu versuchen, sie wie Botschaften aus einer anderen Welt zu entschlüsseln. Oft sind sie selbst das Rätsel, doch sicher ist, dass alle Spuren, auch auf Umwegen, zu Zielen führen.

Den Religionen auf der Spur

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