Читать книгу Trauma und interkulturelle Gestalttherapie - Colette Jansen Estermann - Страница 8

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Vorwort des Herausgebers

Bereits in einem früheren Band der IGW-Publikationen in der EHP hat Colette Jansen Estermann in eindrücklicher Weise über ihre gestalttherapeutische Arbeit in Bolivien berichtet (Anger/Schulthess 2008). Sie zeigte dort in einer Fallstudie auf, wie Armut die Quelle von Traumatisierung sein kann bzw. dass strukturelle Gewalt in einem Land zu Traumatisierung und traumatisierendem Gewaltverhalten führen kann. Die Bereitschaft, die Verbindung von gesellschaftlichen Verhältnissen und individuellem wie kollektivem psychischem Leiden zu reflektieren, beeindruckte mich schon damals und ist meines Erachtens genuin gestalttherapeutisch (vgl. Schulthess/Anger 2009). Wenn man Psychotherapie nicht bloß als Verfahren zur Symptomreduktion versteht, sondern als Verfahren, dass den Erkenntnisansatz verfolgt, dass psychisches Leiden nicht einfach anlagebedingt »aus den Genen« entsteht, sondern immer auch als ein Produkt sozialer Interaktion unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen ist, kommt man nicht umhin, die historische und aktuelle gesellschaftliche Situation in einer Kultur (auch der eigenen, nicht nur in fremden Kulturen) mitzureflektieren und zu beachten.

Die Autorin dieses Bandes geht diesen Weg sehr konsequent. Sie reflektiert die geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Fakten Boliviens, um als Therapeutin besser zu verstehen, was sie im Hier-und-Jetzt in diesem Land für psychische Leidenszustände antrifft. Als Gastdozent im Rahmen der im Aufbau begriffenen Gestalttherapieausbildungsprogramme in La Paz hatte ich die letzten drei Jahre zwei Mal Gelegenheit, mir selbst ein Bild über die gesellschaftliche Realität und die subjektiven Leiden, insbesondere auch der indigenen Bevölkerung, zu machen. Die Verbindung von Reisen und Lehren in Form von therapeutischer Arbeit erlaubte einen guten Einblick auch in das Thema dieses Buches. Es ist offensichtlich, dass viele Menschen durch Gewalt und Entbehrung traumatisiert sind. Als PsychotherapeutIn kommt man nicht umhin, sich mit den Entstehungsbedingungen zu befassen und die stützenden Ressourcen zu entdecken und weiter auszubauen, um in solchen Verhältnissen nicht zu verelenden, sondern die Kraft zum Wachsen und Reifen zu fördern, auch wenn »Heilen« in der Traumatherapie ein schwieriges Ziel ist.

Das Buch gliedert sich in vier Teile: Im ersten Kapitel erfolgt eine Einstimmung in die Geschichte und Kultur Boliviens. Im zweiten Teil wird eine wissenschaftliche Erhebung an Studierenden an vier Universitäten zur Verbreitung und Art der auffindbaren Traumatisierungen in übersichtlicher Form wiedergegeben. Im dritten Teil folgt eine Sammlung von Fallgeschichten, die das empirisch gefundene Datenmaterial anschaulich illustrieren. Im vierten Teil schließlich erfolgt eine theoretische Einbettung und Diskussion der vorangegangenen Teile, welche ihrerseits zu weiterer Theoriebildung anregt.

Es ist in der gestalttherapeutischen Literatur selten, dass empirische Forschungsmethoden angewendet werden, persönliche Falldarstellungen vermittelt sowie eine reflektierende Einbettung in die gestalttherapeutische Theorie und Praxis unter Einbezug des aktuellen Wissensstands der Traumatherapie sowie soziologischer und politischer Aspekte publiziert werden. Der Autorin ist diese Verbindung in ganz besonderer Form gelungen.

Im Sinne eines Beitrags zu einer interkulturellen Gestalttherapie zeigt sie auch, wie gestalttherapeutisches Herangehen, Verstehen und Handeln recht gut zur andinen Lebenshaltung und Erkenntnisweise passt. Dies ist eine Einschätzung, die ich aus meiner (noch bescheidenen) Lehrtätigkeit in dieser Kultur teilen kann. Oft haben europäische GestalttherapeutInnen wenig im Bewusstsein, wie sehr sich die Gestalttherapie gerade in Lateinamerika verbreitet hat und ein anerkanntes Therapieverfahren darstellt im Unterschied zu manchen europäischen Ländern. Das weist auf eine hohe Kompatibilität hin.

Dass Gestalttherapie sich so weit verbreiten konnte, nicht nur in den westlich geprägten Kontinenten wie Europa, Amerika und Australien, sondern auch und ganz besonders in Lateinamerika, Osteuropa und Asien, darf nicht einfach als neuer westlich-angelsächsisch geprägter Kolonialismus taxiert werden. Die Verbreitung hat wohl genuin mit der gestalttherapeutischen Haltung und ihrem wertschätzenden, phänomenologischen und beziehungsorientierten menschlichen Zugang zu anderen Kulturen zu tun. Die Autorin zeigt in diesem Band Parallelen zwischen gestalttherapeutischer Haltung und Erkenntnistheorie mit denjenigen der andinen Kultur auf. Als Reihenherausgeber, der zudem selbst in verschiedenen Kulturen lehrt, fühle ich mich, auch aufgrund der Erfahrungen so vieler in unterschiedlichen Kulturen lehrenden GestalttherapeutInnen (gerade an den drei Schwesterinstituten, die diese Reihe gemeinsam herausgeben), dazu angeregt, dieses Thema weiterzuführen – zum Beispiel in einem weiteren Band mit transkulturellen Überlegungen.

Peter Schulthess, Zürich im Winter 2013

Trauma und interkulturelle Gestalttherapie

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