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Begegnung mit dem „Evangelium des Schönen“

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)

Am 3. Oktober 1765 rollte ein Postwagen durch das Ranstädter Tor in Leipzig, bahnte sich mühsam seinen Weg durch die mit Messbuden besetzten Straßen. Als der Wagen am Neumarkt hielt, entstiegen ihm der Frankfurter Buchhändler Fleischer nebst Gattin, die zur Herbstmesse nach Leipzig gekommen waren, sowie der sie begleitende 16-jährige Johann Wolfgang Goethe, Sohn des Kaiserlichen Rats Johann Kaspar Goethe in Frankfurt am Main, um hier an der Universität Rechtswissenschaften zu studieren.

Leipzig war nicht der Sehnsuchtsort des jungen Goethe - viel lieber hätte er in Göttingen studiert, doch der Vater, der selbst in Leipzig Student gewesen war, sprach ein Machtwort. Zunächst einmal war Johann Wolfgang froh, der häuslichen Aufsicht entronnen zu sein. So streifte er durch die vom Messetreiben belebten Straßen der Stadt, bestaunte, wie er später in „Dichtung und Wahrheit“ schrieb, die ihm „ungeheuer scheinenden Gebäude, die, nach zwei Straßen ihr Gesicht wendend, in großen, himmelhoch umbauten Hofräumen eine bürgerliche Welt umfassend, großen Burgen, ja Halbstädten ähnlich sind.“ In einem dieser imposanten Gebäude, der „Großen Feuerkugel“ zwischen Altem und Neuem Neumarkt, nahm er Quartier.

Spaziergang durch die „Elysischen Felder“

Leipzig zählte damals nur etwa 30000 Einwohner und war von den Folgen des erst zwei Jahre zuvor beendeten Siebenjährigen Krieges gezeichnet. Dennoch konnte Leipzig als eine der modernsten Städte Deutschlands gelten. Prachtvolle Neubauten im Barockstil sowie kunstvoll angelegte Gärten und Promenaden vor den Stadttoren kündeten von neuem Aufschwung des Handels und der Messen. Dem jungen Goethe gefiel die Stadt: „Sie machte einen sehr guten Eindruck auf mich, und es ist nicht zu leugnen, daß sie überhaupt, besonders aber in stillen Momenten der Sonn- und Feiertage, etwas Imposantes hat …“ Nach dem Besuch der Gärten schrieb er begeistert nach Hause: „Ich glaubte das erste mahl ich käme in die Elysischen Felder.“

Johann Kaspar Goethe hatte auch an Aufsicht für seinen Sohn gedacht und diese Aufgabe in die Hände des Professors für Staatsrecht Johann Gottlob Böhme gelegt. Als Johann Wolfgang die juristischen Studien schon bald nach seiner Immatrikulation am 19. Oktober zu langweilen begannen, er sich lieber den „schönen Wissenschaften“ zuwenden wollte, hielt ihm Böhme, wie sich Goethe erinnert, eine „gewaltige Strafpredigt, worin er betheuerte, daß er ohne Erlaubniß meiner Eltern einen solchen Schritt nicht zugeben könne …“ Die Mahnung verfehlte ihre Wirkung: Johann Wolfgang vernachlässigte das Jura-Studium, besann sich stattdessen auf die studentischen Freiheiten, die ihm mit dem vom Vater gewährten großzügigen Jahresbudget von 1000 Talern offenstanden.

Zunächst wurde ihm bewusst, dass er sich dem „galanten“ Charakter der Messestadt anpassen musste, um zu den höheren Kreisen Zugang zu gewinnen. Die Ehefrau des Professors Böhme, Christiana Regina Böhme, bemühte sich, dem jungen Mann dabei zu helfen. Behutsam brachte sie ihm bei, dass er in seiner Garderobe der Klein-Pariser Mode durchaus nicht entsprach, sondern „wie aus einer fremden Welt hereingeschneit“ aussah. Goethe tauschte seine gesamte Kleidung um, doch nun kam schon der nächste Tadel: Seine Frankfurter Mundart, an der er auch in Leipzig festhielt, erregte das Missfallen der Leipziger Gesellschaft, sie forderte von ihm, dass er sich der Meißnischen Mundart bediene. Diese Zurechtweisung jedoch kam bei Goethe schlecht an - seine Art zu sprechen ließ er sich nicht vorschreiben.

Studentische Freiheiten mit etwas Dichtung

Fern der väterlichen Einflussnahme wandte sich Johann Wolfgang nun den „schönen Wissenschaften“ zu, besuchte Theateraufführungen und das „Große Concert“. Im Kreise der Familie Breitkopf, mit der er freundschaftlich verbunden war, spielte er Flöte bei Hauskonzerten. Er nahm Zeichenunterricht bei Adam Friedrich Oeser, dem ersten Direktor der 1764 gegründeten „Zeichnungs-, Mahlerey- und Architectur-Academie“ und erhielt erste Einblicke in die klassizistische Kunsttheorie. „Als ein abgesagter Feind des Schnörkel- und Muschelwesens und des ganzen barocken Geschmacks zeigte er uns dergleichen in Kupfer gestochne und gezeichnete alte Muster“, erinnerte sich Goethe an Oeser, „und weil alles um ihn her mit diesen Maximen übereinstimmte, so machten die Worte und Lehren auf uns einen guten dauernden Eindruck.“ Er habe im Unterricht bei Oeser das „Evangelium des Schönen“ vermittelt bekommen. Im Atelier seines Lehrers erlebte Goethe, wie für den ersten Theaterbau in Leipzig ein Bühnenvorhang entstand, der auf Shakespeare Bezug nahm. Als sich dieser Vorhang am 10. Oktober 1766 zur ersten Vorstellung hob, befand sich Student Goethe im Publikum.

Mit wachem Verstand nahm Johann Wolfgang die literarischen Einflüsse auf, die er in Leipzig kennenlernte. Er traf auf Gottsched, Gellert und Clodius. Gottsched besuchte er, Gellerts Vorlesungen hörte er, bei Clodius hoffte er mit einem Gedicht Beifall zu finden, sah sich jedoch getäuscht. Goethe konnte mit den literarischen Größen Leipzigs nicht allzu viel anfangen - und ließ das Dichten erst einmal sein. Die Bekanntschaft mit Käthchen Schönkopf, der Tochter des Zinngießers und Weinschenken Gottlob Christian Schönkopf auf dem Brühl, bei dem Goethe zu Mittag aß, weckte seine literarische Neigung jedoch erneut. Der Band „Annette“ mit 19 Gedichten entstand und das Lustspiel „Die Laune des Verliebten“, in dem Goethe seine Eifersucht in der Verbindung zu Anna Katharina verarbeitete. Auch mit Friederike Oeser, der ältesten Tochter seines Zeichenlehrers, war Goethe freundschaftlich verbunden und widmete ihr eine Sammlung „Lieder mit Melodien“.

Bester Freund und Mentor Johann Wolfgangs in der Leipziger Zeit war Ernst Wolfgang Behrisch, Hofmeister bei dem Grafen von Lindenau. Regelmäßig war er mit Behrisch zu Gast in Auerbachs Hof. Später nannte Goethe ihn einen „der wunderlichsten Käuze, die es auf der Welt geben kann.“ Zugleich gestand er den großen Einfluss des älteren Freundes auf ihn: „Indessen war sein Umgang wegen der schönen Kenntnisse, die er besaß, doch immer im stillen lehrreich, und, weil er mein unruhiges, heftiges Wesen zu dämpfen wußte, auch im sittlichen Sinne für mich ganz heilsam.“ Als Behrisch Leipzig verlassen musste, um eine Stelle in Dessau anzutreten, fühlte sich Goethe vereinsamt. Das studentische Treiben begann, die Gesundheit des jungen Mannes zu untergraben. Schwer erkrankt musste Goethe sein Studium abbrechen und sich am 28. August 1768, seinem 19. Geburtstag, ohne akademischen Abschluss auf die Heimreise begeben. Die Leipziger Zeit war zu Ende; in späteren Jahren besuchte der Dichter die Stadt noch mehrfach.

Fassausritt und Studenten-Schlampamp in Auerbachs Keller

Nach Goethes Tod 1832 wurde Leipzig neben Frankfurt am Main und Weimar zur dritten deutschen Goethe-Stadt. Die Erinnerung an die Studienzeit des Dichters regte eine Reihe von Persönlichkeiten an, Goethe-Sammlungen anzulegen. Stellvertretend für die Vielzahl dieser Sammler seien hier die Leipziger Verleger Salomon Hirzel (1804-1877) und Anton Kippenberg (1874-1950) genannt.

Hirzel, dessen Interesse an Goethe bereits in seinem Züricher Elternhaus geweckt wurde, gründete 1853 in Leipzig den Hirzel Verlag und gilt als erster bedeutender Goetheforscher und -sammler. Anlässlich des 100. Jahrestages von Goethes Immatrikulation verlieh ihm am 19. Oktober 1865 die Universität Leipzig die Ehrendoktorwürde. Zum Dank schenkte Hirzel seine Sammlung der Universitätsbibliothek Leipzig.

Anton Kippenberg, der als Inhaber des Insel-Verlages zu Leipzig Weltruf erlangte, schuf die größte private Goethe-Sammlung des 20. Jahrhunderts, wobei Autographen den Schwerpunkt bildeten, ergänzt von Drucken, Erstausgaben, Bildnissen und anderen Objekten wie Büsten, Medaillen und Porzellanen. Auch einen Brief Goethes an Käthchen Schönkopf enthielt die Sammlung. Kippenbergs Goethe-Museum in seiner Villa in Leipzig-Gohlis, die 1945 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, zog Interessenten aus aller Welt an. Durch rechtzeitige Auslagerung entging die Sammlung der Zerstörung.

Auch im öffentlichen Erscheinungsbild präsentierte sich Leipzig als Goethe-Stadt. Anlässlich des 100. Jahrestages von Goethes Immatrikulation 1865 wurde ein Teilstück des Promenadenringes „Goethestraße“ benannt, 1932 kam der „Goethesteig“ hinzu - jener Weg, den Goethe benutzte, wenn er Oeser auf seinem Landgut in Dölitz besuchte. 1889 erhielt die Universitätsbibliothek eine lebensgroße Statue Goethes nach einem Entwurf von Melchior zur Strassen, die im Zweiten Weltkrieg verloren ging; 1903 wurde das von Carl Seffner geschaffene Denkmal Johann Wolfgang Goethes auf dem Naschmarkt der Öffentlichkeit übergeben. Es zeigt den Studenten im Rokokokostüm, wie er aus dem Rosental kommend über den Naschmarkt zu Auerbachs Hof schreitet, in dem sein Freund Behrisch wohnt und sich im Keller der berühmte Weinschank befindet. Seitlich angebrachte Medaillons erinnern an Goethes Freundinnen der Leipziger Zeit: Käthchen Schönkopf und Friederike Oeser. Auerbachs Keller, der wohl berühmteste Keller der Welt, in dem die alten Faust-Bilder vom Fassausritt und Studenten- Schlampamp Goethe einst inspirierten, wurde zur Erinnerungsstätte an den Dichter. Als 1912/13 die alte darüber liegende Bebauung abgerissen und die Mädler-Passage erbaut wurde, entstanden am Eingang zu Auerbachs Keller die Figurengruppen des Bildhauers Mathieu Molitor - Faust und Mephisto sowie die Gruppe der verzauberten Studenten. In ihrer eindringlichen Formensprache lassen sie den Besucher der weltberühmten Lokalität wissen: Goethe war hier.

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