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3. Eine Bitte um Hilfe

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Erleichtert sank ich in den bequemen Plüschstuhl des pittoresken Cafés am Marktplatz, keuchte angestrengt aufgrund des reißenden Schmerzes im Knie, mit dem ich ungeschickt an ein Tischbein gestoßen war. Nach ein paar Sekunden durchatmen nahm ich mir die fantasievoll gestaltete Karte zur Brust. Ich konnte es kaum erwarten, eine der aufgeführten Köstlichkeiten zu verputzen. Von jeher eine Naschkatze, war mir die Konditorei sofort aufgefallen. Hm, die Leckereien klangen alle nur zu verlockend und ich hatte einen Bärenhunger angesammelt.

Mithilfe der Möbelpacker war das Verteilen und Auspacken sämtlicher Boxen zum Glück ein Klacks gewesen. Okay, das war übertrieben, jeder Handgriff hatte mich an meine Grenzen gebracht, doch nun war es soweit vollbracht. Meine Möbel hatte ich ebenfalls aufbauen lassen, da ich mich mit dem alten Kram um mich herum ziemlich unwohl fühlte - besonders nach der Entdeckung des merkwürdigen Zimmers und der Episode im Bad.

Nun stand im Schlafzimmer des Hausherrn mein bequemes Doppelbett anstelle des durchgelegenen Teils von vorher. Dieses war von den Arbeitern freundlicherweise entsorgt worden und ich war froh keine zweite Nacht auf der Luftmatratze verbringen zu müssen.

Leider musste ich mir wieder einmal eingestehen, dass noch ein weiter Weg der Genesung vor mir lag. Ein extrem langer und beschwerlicher Weg, der mir manchmal fast unüberwindlich schien. Den ich aber unbedingt schaffen wollte - und zwar ohne Krücken. Und damit meinte ich nicht den Gehstock an meiner Seite.

Heute Morgen hatte ich zum ersten Mal die Dosis der Medikamente reduziert und ganz schön die Zähne zusammenbeißen müssen. Doch ich hatte es ausgehalten, denn auf solche Wahnvorstellungen wie im Bad und an der Treppe konnte ich verzichten.

Dennoch beschäftigte mich der wie ein Schrein wirkende Raum unablässig, dazu die zerschlagenen Spiegel ... Alles deutete für mich darauf hin, dass der Bewohner des Zimmers vermutlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war - was mich zu der Frage führte, wieso die Maklerin den Originalzustand gelassen hatte. Sicherlich war es cleverer zu verschweigen, dass der Klient ein Haus gekauft hatte, in dem vielleicht eine Straftat geschehen war, aber dann wäre es eher klüger gewesen, mögliche Spuren und Hinweise zu beseitigen ...

Genervt bot ich meinen trudelnden Gedanken Einhalt. Ich sollte aufhören, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich war kein Kriminalbeamter mehr, dieser Abschnitt meines Lebens lag hinter mir. Für mich gab es jetzt nur noch einen Schritt nach dem anderen - vorwärts. Ausflüge in die Vergangenheit gehörten auf keinen Fall in meine Planungen - weder in meine noch die der ehemaligen Hausbewohner.

Seufzend konzentrierte ich mich wieder auf die Karte in meinen Händen. Eigentlich hatte ich nur vorgehabt der gähnenden Leere in dem Ungetüm von Kühlschrank ein Ende zu bereiten und zu dem Zweck nach Brilon zu fahren, um meine Vorräte aufzufüllen. Mein heftig knurrender Magen hatte mich jedoch rasch von dem ungeplanten Zwischenstopp überzeugt.

Und obwohl ich mich auf ein leckeres Stück Kuchen freute, fühlte ich mich unwohl. Das Café war ziemlich gut besucht und natürlich hatte ich schon beim Eintreten einiges Aufsehen erregt, als ich Fremder durch die Tür trat.

Mein Krückstock hatte in meinen Ohren unnatürlich laut geklackt und jeder - wirklich jeder - hatte mich angestarrt. Das gehörte eindeutig zu den Situationen, an die ich mich erst noch gewöhnen musste. Die Neugier, das Mitleid. Manchmal sogar Abscheu in den aufdringlichen Blicken, die meinen versehrten Körper musterten. Ich hatte mich zu einem freundlichen Lächeln gezwungen und höflich gegrüßt, was von den meisten Gästen erwidert worden war. Dennoch hatte ich die Sensationslust hinter ihren Stirnen aufleuchten sehen und am liebsten kehrtgemacht,

Stattdessen war ich jedoch so würdevoll wie möglich mit klappernder Krücke zu dem Nischentisch gewandert und hatte versucht, die Leute einfach auszublenden. Ob ich mich jemals mit den vielfältigen Reaktionen der Mitmenschen auf meine Behinderung anfreunden konnte? Manche prallten an mir ab, doch eine stach immer wieder heraus und ließ in mir die Wut hochkochen: so ein junger Mann und dann ein Krüppel. Eine Schande ist das.

Nicht, dass ich nicht selbst darüber nachdachte, wieso ausgerechnet mir das passiert war, aber verdammt, warum war ich ein Behinderter? Nur weil ich humpelte, manchmal vor Schmerzen nur schreien wollte und eine Tonne Pillen brauchte, um halbwegs durch den Tag zu kommen?

Ja, ich war invalid, dachte ich resigniert. Meine Dienststelle hatte das ebenso gesehen. Nachdem die Zwangsbeurlaubung aufgehoben worden war, hatte man mir deutlich zu verstehen gegeben, dass in Zukunft nur mehr Innendienst infrage kam. Ich hatte dankend abgelehnt und war aus dem Dienst ausgeschieden. Scheiß auf die Pension! Scheiß auf die ganzen aufgeblasenen Wichtigtuer. Es gab andere Möglichkeiten.

Nur welche, tja, da hatte ich mir bisher keine Gedanken drüber gemacht. Ich existierte von einem Tag auf den nächsten. Jeder Morgen, den ich erwachte und meine schmerzenden Nerven mir in Erinnerung riefen, was geschehen war, war ein Geschenk. Eins, von dem ich noch nicht recht wusste, was ich damit anfangen sollte. Nun, erst mal wollte ich mir hier in diesem Café ein leckeres Stück Kuchen gönnen.

„Guten Tag, Herr Berger. Willkommen in Hallenberg.“

Eine freundliche weibliche Stimme holte mich von der Erinnerungsstraße. Moment mal, woher kannte sie meinen Namen? Die Frage leuchtete wohl in meinem Gesicht auf, denn der attraktiven Mittvierzigerin entwich ein mädchenhaftes Kichern.

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie eigentlich gar nicht so überfallen. Ich lerne es auch nie. Nun, wir sind eine winzige Gemeinde, hier kennt jeder jeden. Außerdem hatte Mona gestern Abend beim Lesezirkel nur ein Thema: Den heißen Junggesellen, der in das alte Haus von Klaus Willner - Gott hab ihn selig! - eingezogen ist. Sie sollten sich darauf einstellen, in den nächsten Tagen viel Besuch zu kriegen.“

Der Horror musste mir anzusehen sein, denn sie kicherte erneut.

„Keine Sorge, die ziehen schnell wieder Leine, wenn sie schnallen, dass sie chancenlos sind. Ich bin übrigens Hanna. Mir gehört das ‚Le petit mort‘.“

Sie streckte mir ihre Hand hin, die ich mechanisch ergriff. Ich fühlte mich etwas überfahren und ziemlich verwirrt. Meinte sie etwa das, was ich dachte?

„Ähm“, ich räusperte mich. „Wollten Sie wirklich gerade andeuten, dass mich heiratswillige Damen belagern werden?“, fragte ich vorsichtig.

Die Cafébesitzerin grinste breit und nickte, als sei das Ganze ein Riesenspaß. Großartig! Genau das, was mir noch fehlte. In so ein Kaff zu ziehen, wo ich hoffte, meine Ruhe zu haben, erwies sich unter diesem Aspekt wohl eher als Schnapsidee. Nervös fuhr ich mir mit der Hand übers Gesicht.

Fuck! Wo war meine Gelassenheit? Meine Souveränität? Vor einem Jahr hätte ich bei so was einen flapsigen Spruch gebracht.

Hanna schien feine Antennen zu besitzen, denn sie wechselte ohne ein weiteres Wort in einen professionellen Modus und nahm meine Bestellung auf. Ich entschied mich für einen Apfel-Zimt-Kuchen mit Schlagsahne und war sehr dankbar, dass die Cafébesitzerin mir nur zunickte und verschwand, um das Gewünschte zu holen.

Unauffällig schaute ich mich um und stellte erleichtert fest, dass mich niemand mehr beachtete. Mein Magen knurrte erneut und ich warf einen Blick auf die Uhr. Schon kurz vor sechzehn Uhr. Die Zeit war beim Auspacken nur so verflogen.

Hm, wahrscheinlich war es klüger, den Großeinkauf auf Morgen oder Übermorgen zu verschieben. Ein paar Grundnahrungsmittel könnte ich vielleicht doch in dem kleinen Geschäft an der Hauptstraße kaufen und dabei auch gleich einige Gerüchte streuen. Gerüchte - die zufällig der Wahrheit entsprachen - und dafür sorgen würden, dass mich die Damenwelt hier in Frieden ließ. Im Nachhinein ärgerte ich mich, dass ich der Marquardt gegenüber keine Bemerkung gemacht hatte, aber es erschien mir so ... unwichtig. Zudem war meine Sexualität nichts, worüber ich mich definierte - oder wollte, dass andere es taten.

Das köstliche Aroma von Apfel und Zimt stieg mir in die Nase. Ein Teller wurde vor mir abgestellt, mit einem beachtlich großen Stück Kuchen garniert mit einem riesigen Klecks Sahne. Eine Tasse mit dampfendem Kaffee folgte. Lächelnd schaute ich auf, um mich zu bedanken: „Danke, Hanna. Das sieht vorzüglich aus.“

Die Angesprochene nickte fahrig. Ihre Hände hatte sie ineinander verschlungen und knetete sie nervös. Irritiert ließ ich die Gabel, die ich bereits ergriffen hatte, sinken und musterte die Frau vor mir. Sie wirkte verstört und ehe ich mich zurückhalten konnte, fragte ich: „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“

Braune Augen, in denen ein unbestimmtes Flehen lag, lösten ein vertrautes Prickeln aus. Wie oft wurde ich von Opfern eines Verbrechens so angesehen? Unzählige Male. Eine Mischung aus Hilflosigkeit und Resignation.

„Ich ... ich möchte Sie keinesfalls belästigen, Herr Berger. Es ist nur ... Ich muss Sie etwas fragen und weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich anfangen soll.“

Ich musterte sie aufmerksam und lächelte sie aufmunternd an.

„Setzen Sie sich doch zu mir, Hanna. Und dann einfach raus damit. Das ist die beste Methode.“

Zögernd nahm sie mir gegenüber Platz. „Nun, Herr Berger ...“

„Lukas, bitte“, zwinkerte ich ihr zu und schaffte es so, sie zu einem halben Lächeln zu bewegen.

„Was wissen Sie über den Vorbesitzer Ihres Hauses?“, fragte sie mich gespannt.

„Nur, dass er verstorben ist. Frau Marquardt erwähnte es bei der Schlüsselübergabe.“

Das beklemmende Gefühl, dass ich in dem Zimmer gespürt hatte, in dem die Zeit stehengeblieben war, kam schlagartig zurück. Die kalte Luft und das unerklärliche Auftauchen meines Rucksacks drängten sich in mein Bewusstsein. Gänsehaut überzog meinen Körper und gegen meinen Willen pulsierte Aufregung durch meine Adern, war ich neugierig. Ich konnte einfach nicht anders.

„Ja. Klaus Willner starb vor knapp elf Jahren mit nur siebenundfünfzig an Herzversagen. Das ist zumindest die offizielle Version“, antwortete mein Gegenüber leise und bedrückt.

Ich setzte mich kerzengerade auf. Eine Standarderklärung für ungeklärte Todesursachen. Spontan streckte ich den Arm aus, ergriff Hannas Hand und drückte sie aufmunternd.

„Hanna, was immer Sie mir auch anvertrauen, ich versichere Ihnen, es bleibt unter uns. Wie Sie vermutlich längst wissen war ich Polizist. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie in Schwierigkeiten stecken.“

Mit aufgerissenen Augen starrte sie mich an, jedoch nicht ängstlich, eher hoffnungsvoll. Innerlich verfluchte ich mich für dieses leichtfertige Versprechen, doch ich konnte da wohl einfach nicht aus meiner Haut heraus.

„Nein, nein. Keine Schwierigkeiten. Es ist nur ...“, sie atmete tief durch.

„Verdammt. Ich hatte mir fest vorgenommen, Sie um Hilfe zu bitten, und jetzt kriege ich die Worte nicht zusammen. Okay. In Ihrem Haus wurde vor dreißig Jahren ein Teenager ermordet. Also, nicht direkt im Haus, sondern in dem Waldstück dahinter. Aber er lebte dort. Amit. Amit Willner, mein bester Freund in der Schule. Er wurde brutal umgebracht und sein Mörder nie gefasst.“

Ich war nicht wirklich überrascht. Natürlich war mir der Verdacht bereits gekommen, als ich das Zimmer sah. Doch solche Schreine besaßen vielfältige Ursachen. Oft verschwanden die Bewohner spurlos und die Angehörigen hofften einfach darauf, dass sie wiederkamen. Aus langjähriger trauriger Erfahrung wusste ich, dass diese Hoffnung in den meisten Fällen vergebens war.

Einen Moment wünschte ich mir Unwissenheit zurück oder einen Zeitsprung, ehe mein Gegenüber mit der Geschichte herausgeplatzt war. Was tat ich hier?

Ich war hergekommen, um mein altes Leben hinter mir zu lassen. Ich war kein Polizist mehr, man hatte mich an einen Schreibtisch fesseln wollen, hielt mich in meiner Verfassung für ungeeignet, den Eid zu erfüllen.

Mir brach der Schweiß aus, mein Knie pochte und brannte, glühende Messer stachen in meine Schulter. Dunkle Erinnerungen drohten mich zu überwältigen, bohrten sich unerbittlich in meinen Verstand und ich umklammerte haltsuchend den Knauf meiner Krücke. Mein Kiefer mahlte, so fest presste ich die Zähne aufeinander. Durch das Rauschen in den Ohren hörte ich entfernt das Klappern eines Stuhls, dann erschien ein Glas Wasser in meinem Blickfeld. Hastig griff ich danach, leerte es in gierigen Schlucken.

Der Schwindel ließ nach, die schwarzen Flecken verschwanden und ich erkannte Hannas besorgtes Gesicht vor mir, die sich zu mir herunterbeugte und den gesunden rechten Oberarm kurz drückte.

„Geht es? Brauchen Sie einen Arzt?“ Alles, nur das nicht.

„Es wird schon besser. Danke“, krächzte ich. „Hab mich wohl etwas überanstrengt heute.“

Ich versuchte mich an einem beruhigenden Lächeln und versicherte ihr: „Es gibt gute und schlechte Momente. Ich gewöhne mich gerade daran. Machen Sie sich keine Sorgen.“

„Das verstehe ich, Lukas. Entschuldigen Sie bitte meine Aufdringlichkeit. Ich belästige Sie dann mal nicht länger. Es war sowieso eine blöde Idee“, sie machte Anstalten den Tisch zu verlassen.

„Nein. Es ist okay, Hanna. Wirklich. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von Ihrem Freund. Ob ich Ihnen helfen kann, weiß ich nicht, aber manchmal hilft es, mit einem Außenstehenden zu reden“, ermunterte ich sie.

Innerlich schüttelte ich fassungslos über mich den Kopf. Ich sollte besser aufstehen und schleunigst verschwinden. Diese Geschichte ging mich schließlich nicht das Geringste an ...

Ich runzelte die Stirn. Nein, das klang falsch. Ich hatte ein Haus gekauft, in dem ein Mordopfer zuhause gewesen war. Da konnte ich mich nicht einfach mit Desinteresse herauswinden. Zudem spürte ich bereits, wie mich unweigerlich die Neugier packte und verschiedene Theorien in meinem Gehirn Gestalt annahmen. Offenbar schaffte ich es nicht, alle Aspekte meines alten Lebens hinter mir zu lassen. Tja, einmal Bulle, immer Bulle.

„Okay.“ Hanna zerrupfte nervös eine Serviette. „Wo soll ich nur anfangen?“

„Erzählen Sie mir doch zunächst von Ihrem Freund. Wie war er so?“, forderte ich sie behutsam auf.

Mein Gegenüber atmete tief durch und ein weiches Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen.

„Er war ein Goldschatz. Er hat immer von innen heraus gestrahlt, obwohl seine Mitmenschen alles dafür taten, ihm den Frohsinn auszutreiben. Er wurde nicht akzeptiert, da er ... Nun ja, keiner von uns war. Behaupteten diese bigotten Idioten jedenfalls.“

Sie schnaubte wutentbrannt. „Ich war noch ein Kind und verstand nicht, wieso sie ihn anders sahen. Natürlich schaute er nicht aus wie wir, weil er nicht weiß war, aber ...“

Ich horchte auf. Fremdenfeindlichkeit? Damals wie heute bedauerlicherweise ein häufiger Grund für Anfeindungen.

„Amit war kein Deutscher?“, mutmaßte ich.

„Doch!“ Braune Augen funkelten mich wütend an. „Selbstverständlich war er das und selbst wenn nicht ...“

„Hanna, ich versuche nur, mir ein Bild zu machen. Das war keine Wertung“, versicherte ich ihr und griff spontan nach ihren zitternden Fingern, die immer noch Servietten zerrupften.

Mein Kuchen war vergessen, ich musste nun die ganze Geschichte hören, wollte erfahren, was genau dem Jungen widerfahren war.

„Amits Mutter stammte aus Indien und ... Nun ja, er war ihr Ebenbild. Wobei das nicht das Einzige war, das sie ihm ankreideten. Viel schlimmer wurde es, als er als Teenager geoutet wurde.“

„Geoutet?“

„Sie wissen schon.“ Hanna wedelte mit der Hand.

„Amit war schwul“, konstatierte ich nüchtern. Eine gewaltige Bürde für jemanden, der bereits wegen seiner Herkunft ausgegrenzt worden war.

„Ja“, erwiderte die Cafébesitzerin düster, „und deshalb hat es kein Schwein interessiert, dass er ermordet wurde. Der Täter wurde nie gefasst und Herr Willner starb an gebrochenem Herzen. Ohne je zu erfahren, wer seinen Sohn auf dem Gewissen hatte.“

Ich schluckte einen Kloß hinab. Mir das Leid des Mannes vorzustellen fiel mir nicht allzu schwer. Ich hatte zwar kein Kind verloren, aber der Unfalltod meiner Eltern war ein harter Schlag gewesen, an dem ich heute noch knabberte.

„Doch eigentlich geht es mir um etwas anderes“, fuhr Hanna nach kurzem Schweigen fort.

„Ich mache mir keinerlei Illusionen darüber, dass der Fall nach all der Zeit aufgeklärt werden könnte. Vor einigen Jahren, als mein jüngerer Bruder hier im Ort die Leitung des Kommissariats übernahm, spielte ich mit dem Gedanken, ihn zu bitten, nachzuforschen. Letztendlich war ich jedoch zu feige. Wie jeder hier in der Stadt. Wir sind entweder Feiglinge oder es ist uns gleichgültig.“

Sie schnaubte erneut und ich erkannte die Verachtung dahinter.

„Dann erzählte Mona, dass sie es endlich geschafft hat, einen Käufer für Amits Zuhause zu finden, und ich spürte so etwas wie Hoffnung. Lukas, glauben Sie an Übernatürliches? Unerklärliche Dinge?“

„Ähm“, ziemlich aus dem Konzept gebracht von diesem scheinbar abrupten Themenwechsel starrte ich die Frau vor mir an. „Um ehrlich zu sein“, ich suchte nach einer unverfänglichen Antwort, wollte sie jetzt nicht vor den Kopf stoßen.

Glaubte ich daran? Keine Ahnung. Man hatte mir gesagt, dass ich auf dem OP-Tisch beinahe gestorben war und man mich hatte reanimieren müssen. Davon hatte ich jedoch nichts gespürt, also so, wie man das oft in Erfahrungsberichten hörte. Kein gleißendes Licht, ich hatte auch nicht mein ganzes Leben an mir vorbeiziehen sehen. Im Gegenteil, ich hatte es gar nicht mitbekommen, dass ich mit dem Tode rang.

Hatte ich mich deshalb verändert? War ich - wie nannte man das - nun empfänglicher für Signale aus dem Jenseits? War das heute Morgen etwa keine Wahnvorstellung aufgrund des Missbrauchs mit meinen Schmerzmitteln gewesen? Neinneinnein! Ausgeschlossen. Das war doch total verrückt.

Ich wollte aufspringen und flüchten, aber saß wie angewurzelt auf der Bank. Dabei blickte ich in eindeutig erwartungsvolle Augen. Sie wusste etwas. Etwas, das ich nur zu gerne geleugnet und von dem ich besser nie, niemals was erfahren hätte.

Fahrig griff ich nach meiner Kaffeetasse, trank einen Schluck des mittlerweile erkalteten Gebräus, versuchte, Zeit zu schinden.

„Ich vermute, Ihre Frage zielt darauf ab, ob es in dem Haus, das ich gekauft hab, spukt, richtig?“

Verlegen senkte mein Gegenüber den Blick und zuckte mit den Schultern.

Oh Mann! Wie geriet ich bloß immer in solch dämliche Situationen? Zum hundertsten Mal sagte ich mir, ich sollte aufstehen und schleunigst das Weite suchen. Ich wollte mit diesem ganzen Drama nichts am Hut haben, schon gar nicht mit haarsträubenden Schauergeschichten. Ich hatte genug an meinen Lasten zu tragen, da konnte ich nicht noch die von völlig Fremden draufschaufeln.

Es war ausgeschlossen, dass ich Hanna half. Ich durfte es nicht, es würde meinen Neuanfang ruinieren. Für meinen Seelenfrieden musste ich ignorieren, was direkt vor meiner Nase geschah und einen wirklich netten Menschen vor den Kopf stoßen.

Fuck, ich war ein Arschloch! Doch ich hing an meinem Leben, so armselig es im Moment auch sein mochte und deshalb war es unerlässlich, alles was zu meiner Vergangenheit gehörte, zu vergessen. Egal, wie sehr es mich reizte, nachzuforschen. Ich war kein Polizist mehr. Punkt!

„Nein. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ein Gespenst oder sonst etwas in meinem Haus sein Unwesen treibt“, schwindelte ich und fühlte mich mies.

„Das einzig Gruselige ist Amits Zimmer, welches den Originalzustand wie vor drei Jahrzehnten zeigt. Ich kenne das von Tatorten. Ansonsten gibt es nichts Auffälliges, bis auf die Tatsache, dass mir vielleicht noch das Dach auf den Kopf fällt.“

Ich kramte mein Portemonnaie hervor, legte einen Schein auf den Tisch und wich Hannas enttäuschter Miene aus, als ich mich mühsam erhob. Den Griff meiner Krücke krampfhaft umklammernd, warf ich ihr völlig unzureichend zu: „Sorry, aber ich bin der Falsche, um Ihnen zu helfen. Sie müssen jemand anderen suchen.“

Hastig humpelte ich aus dem Café, mir der Blicke aller Anwesenden sehr wohl bewusst. Doch keiner von denen störte mich, nur der von Hanna brannte sich in meinen Rücken.

Draußen atmete ich befreit durch, überzeugt, das Richtige getan zu haben. Dennoch, das nagende Gefühl, Hanna - und den verstorbenen Jungen - im Stich zu lassen, verfolgte mich unerbittlich. Es ließ sich nicht mehr abschütteln und so lenkte ich den Explorer Richtung Brilon, um dort in einem Internetcafé ein bisschen Recherche zu betreiben ...

Liebe mich ... unendlich

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