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Die Ausreißerin

"Wo soll's denn hingehen, Schätzchen?"

Der Zigarettenrauch, den die Frau mit diesen Worten ausatmete, brannte in Darys Augen. Sie blinzelte und musste husten, bevor sie antworten konnte: "Ganz egal. Nur weg von hier."

Die Frau hinter dem wuchtigen Steuer des LKWs lächelte sie hintergründig an. Ihr Mittvierziger-Gesicht wirkte freundlich, trotz ihrer herben, fast schon männlichen Züge. Ganz offensichtlich war sie amüsiert über ihren unerwarteten Fahrgast. "Ich fahre nach Süden. Ich kann dich nur irgendwo auf dem Weg absetzen."

"Ist in Ordnung. Ich sagte doch, ich habe kein Ziel." Dary lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen. Ihr Rücken schmerzte, denn den riesigen Reiserucksack, der sich nun im Stauraum befand, hatte sie zuvor stundenlang auf dem Rücken getragen.

Das Fahrzeug sprang mit einem tiefen, ungleichmäßigen Brummen an. Die Scheinwerfer flammten auf und durchbrachen die Dunkelheit auf dem abgelegenen Rastplatz so plötzlich, dass Dary geblendet den Kopf abwandte.

"Du bist ein Ausreißer, was?", fragte die Frau unverblümt. "Mein Name ist übrigens Darleen. Und du bist?"

"Dary."

Darleen runzelte die Stirn und aschte aus dem Fenster. "Und das ist die Abkürzung für was?"

"Für nichts. Einfach nur Dary, mit Ypsilon. Fragen Sie mich nicht, was sich meine Eltern dabei gedacht haben… die waren wahrscheinlich im Vollrausch."

Darleen lachte, als könne sie sich das sehr gut vorstellen. „Ich weiß gar nicht, was du hast. Dary ist doch ein guter Name. Klingt fast so ein wenig indisch, meinst du nicht?“

Dary verzog das Gesicht. Indisch war ihr neu… aber viel eher hatte sie damit zu kämpfen, dass die Leute dachten, ihr Name wäre englisch, und sie mit solchen verbalen Kotz-Stückchen wie Dahhrrrie mit englischem gerolltem R oder Dährie betitelten. Bei letzterem musste sie sich immer einen schwabbeligen Amerikaner vorstellen, der sie mit dem Mund voller Burger im Fastfoodrestaurant ansprach.

Darleen lachte, als könnte sie Darys Gedanken lesen. „Keine Sorge. Meine Eltern haben mich Dorothea genannt, aber als ich mit dem Job hier angefangen habe, wurde ich von meinen Kollegen glücklicherweise umbenannt. Nur Männer, weißt du…“ Und wieder lachte sie, diesmal schallend, unangenehm laut. Dary war sich sicher, dass die Frau mit diesem Lachen einen Berg zum Einsturz bringen konnte, wenn sie wollte.

Inzwischen hatte sich der LKW in Bewegung gesetzt und steuerte langsam auf die Straße zu.

"Du kannst mich duzen, Liebes."

"Danke. Es ist wirklich nett, dass du mich mitnimmst."

"Du wiederholst dich. Außerdem, auf Dauer ist es ziemlich langweilig, Selbstgespräche zu führen." Mit der Linken fischte Darleen eine neongrüne Thermoskanne hervor, die sie Dary reichte. "Kaffee?"

„Danke, aber nein. Ich würde gern etwas schlafen, wenn du nichts dagegen hast."

"Natürlich nicht. Hinter deinem Sitz findest du ein Kissen. Wie lange bist du denn schon unterwegs?"

"Seit heute Nachmittag etwa."

"Dann gönn dir ein bisschen Schlaf. In zwei bis drei Stunden mache ich wieder kurz Rast, ich wecke dich, wenn es soweit ist."

"Okay."

Dankbar und plötzlich todmüde klaubte sich Dary das Kissen hinter dem Sitz hervor und machte es sich bequem. Sie war froh auf Grund einer ganzen Handvoll Dinge. Allem voran war sie froh über die Tatsache, dass sie es überhaupt durchgezogen hatte. Sie hatte es getan. Das allererste Mal in ihrem Leben hatte sie etwas völlig Verrücktes getan und das erfüllte sie mit einer Art von rebellischem Stolz. Dann war sie außerdem froh darüber, dass der Anhalter-Trick, den sie bisher nur aus Filmen kannte, wirklich funktionierte und sie jetzt nicht mehr zu Fuß gehen musste. Und zuletzt war sie froh darüber, neben Darleen zu sitzen. Natürlich konnte sie sich noch kein ausreichendes Bild über diesen Menschen machen, aber der erste Eindruck stimmte sie optimistisch. Schließlich wollte Dary keine Freundschaft fürs Leben schließen, sondern nur ein paar Kilometer mitgenommen werden.

Bisher stellte Darleen keine Fragen, zumindest keine, auf die sie eine Antwort erwartete. Darüber war Dary ganz besonders froh, denn wenn sie eines nicht hatte, dann waren das Antworten.

Die Nacht zog gänzlich farblos und trüb an ihnen vorbei, nur durchbrochen von den wenigen Lichtern der anderen Fahrzeuge, die hier auf der Landstraße unterwegs waren. Schon bald hatte sich Dary an den Zigarettenqualm und das konstante, von nichts Anderem unterbrochene Motorengeräusch in Darleens Führerhäuschen gewöhnt. Immer schwerer sank ihr Kopf in das Kissen. Ab und zu sah sie ihr Spiegelbild in der großen Scheibe: Ein müdes, von schwarzem, zerzaustem Haar umrahmtes Gesicht einer Siebzehnjährigen, die einfach mal entschlossen hatte, alles und jeden für unbestimmte Zeit hinter sich zu lassen.

Dary spürte, wie die Anstrengung des Tages in ihre Glieder kroch und ihre Lider wurden schwer. Das letzte, was sie in der Scheibe sah, bevor ihr die Augen zufielen, war das Gesicht einer zierlichen jungen Frau, die ihr totenbleich zulächelte, während ihr eine Träne aus Blut über die Wange rann.

Sie erwachte in dem Moment, in dem der Motor erstarb. Verwirrt und orientierungslos zuckte sie hoch und drohte für einen Augenblick sogar in Panik zu geraten, da sie die Gurte am Sitz zurückhielten; ein Gefühl, als versuche etwas, sie an der Flucht aus ihrem Alptraum zu hindern. Erst der Anblick von Darleen, die gerade ausstieg und sich wieder eine Zigarette ansteckte, brachte sie in die Wirklichkeit zurück.

"Ich geh Zigaretten kaufen", nuschelte Darleen.

Dary wollte etwas sagen, doch der Teil ihres Gehirns, das die Sprache steuerte, befand sich offenbar noch im Halbschlaf. So wischte sie sich stattdessen nur mit dem Handrücken über die Augen, um endgültig wach zu werden. Aber Darleen hatte ohnehin keine Reaktion erwartet. Sie hatte schon längst die Fahrertür wieder hinter sich zugeschlagen und war auf dem Weg zum Raststellenshop.

Dary brachte sich in eine aufrechte Position und streckte die Glieder. Ein unangenehm taubes Gefühl haftete an ihr und sie wusste, dass sie schlecht geträumt hatte, obwohl sie sich nicht bildlich daran erinnerte. Es war noch immer stockdunkel und ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass der Sonnenaufgang noch mindestens zwei Stunden entfernt war. Aber das machte nichts, schließlich hatte es Dary nicht eilig. Das war das Gute daran, etwas ohne Plan und Perspektive zu tun. Man konnte einfach kommen lassen, was kam.

Als Darleen zurückkam, hatte sie nicht nur eine Stange Zigaretten, sondern auch eine Tüte Chips und zwei Flaschen Cola unterm Arm. Dary kletterte hilfsbereit zum Fahrersitz hinüber, um ihr die Tür zu öffnen.

"Danke, Schätzchen", keuchte Darleen und kletterte zurück in den Truck. "Hier, etwas Proviant." Sie reichte ihre Ausbeute ihrem Fahrgast und lächelte gönnerhaft. "Ich dachte, das wäre vielleicht angemessen."

Dary lag etwas wie Das wäre doch nicht nötig gewesen auf der Zunge, allerdings gebot ihr das Magenknurren, das in diesem Moment erklang, still zu sein. Die Chipstüte war geöffnet und zur Hälfte geleert, noch bevor sie wieder auf die Straße aufgefahren waren.

"Wer ist eigentlich Rika?", fragte Darleen und langte zu Dary hinüber, um sich ebenfalls an den Chips gütig zu tun.

Etwas verfing sich in Darys Hals und sie fing unkontrolliert an zu husten. "Ähm, wieso...?", setzte sie an, doch die Chipskrümel in ihrer Luftröhre beließen es bei diesem Versuch.

"Entschuldige. Ich wollte nicht aufdringlich sein", beteuerte Darleen und machte eine zurückhaltende, besorgte Geste. "Ich frage nur, weil du im Schlaf ihren Namen gesagt hast."

Der Husten löste sich endlich, dafür schlug jetzt Darys Herz so schnell, dass sie kaum Luft bekam. Mehrere Sekunden lang sagte sie gar nichts. Zu viele Empfindungen pochten in ihr, als dass sie irgendeinen Gedanken in Worte hätte fassen können.

"Hey, es ist okay, wenn du nicht darüber reden willst", sagte Darleen daraufhin. Sie sah Dary nicht an, sondern blickte starr aus dem Fenster… sie ahnte also, dass sie ein heikles Thema angerissen hatte. "Es geht mich ja nichts an."

Da hatte sie recht. Dary war sich im Klaren darüber, dass sie unfair war, aber in diesem Augenblick lag ein eindeutig unfreundliches Ganz genau in ihren Gedanken. Es ging niemanden etwas an. Nicht einmal ein Zehntel der einhundert Menschen, die auf dem Friedhof gewesen waren, hatte es etwas angegangen. Sie waren trotzdem gekommen. Schaulustige, nichts weiter. Sie wandte den Blick zum Fenster, um die Wut und die aufkommenden Tränen vor Darleen zu verbergen.

"Ist alles in Ordnung mit dir?" Darleen klang ernsthaft besorgt. "Möchtest du, dass ich dich raus lasse?"

"Nein... nein, ist schon okay", winkte Dary ab und zwang sich zu einem Lächeln. "Es ist nur..."

"Schon klar." Darleen verwandelte sich von einer Sekunde auf die nächste wieder in die angenehme LKW-Fahrerin, die keine Antworten wollte. "Wir laufen doch alle vor irgendetwas davon. Das ist ganz allein deine Sache."

Dary sagte nichts und knabberte an ihren Chips. Diese letzten Worte beruhigten sie auf eine angenehme Weise. Das erste Mal in dieser Nacht wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich davonlief, und der Gedanke hatte etwas Belebendes und Aufregendes und erweckte den Rebell in ihr wieder zum Leben.

Darleen stellte nun tatsächlich keine Fragen mehr. Auch wenn Dary ihr ansah, dass sie sich mehr und mehr Gedanken darüber machte, was es mit der jungen Anhalterin auf sich hatte, blieb Darleen in dieser Hinsicht zurückhaltend. Stattdessen begann sie, hemmungslos über sich selbst zu erzählen, und hob Darys Laune schon bald mit ihrer lockeren, derb witzigen Art. Sie lachten und übersäten das Führerhaus mit Chipskrümeln, bis der erste blass rote Schimmer am Himmel auftauchte.

„Ich bin übrigens auch einmal von Zuhause weggelaufen“, erzählte Darleen. Das überraschte Dary nicht sonderlich, nachdem sie sich gerade ausschweifende Geschichten über Alkohol-, Sex- und Drogenexzesse aus Darleens Jugend angehört hatte. „Ich war damals wohl etwa so alt wie du, sechzehn oder siebzehn, ich weiß es nicht mehr.“

„Und?“

„Ich war nur einen Tag lang fort.“ Darleen seufzte. „Meine Eltern hatten mir die Polizei auf die Fersen gehetzt. Aber als die mich fanden, war ich sowieso schon längst wieder freiwillig auf dem Rückweg. Es gehört mehr dazu, auszureißen, als nur seine sieben Sachen zusammenzupacken und zu gehen, weißt du?“

Dary sagte nichts.

„Ich hatte mir zum Beispiel nicht die geringsten Gedanken darüber gemacht, wo ich die Nächte verbringen sollte. Ich hatte nicht genug Geld, um mir irgendwo ein Zimmer zu nehmen. Und schließlich konnte ich auch nicht einfach auf einer Parkbank schlafen… dafür war ich nicht mutig genug. Es war nämlich schon später Herbst.“ Sie lachte herzlich. „In der Hinsicht hast du schon bessere Chancen.“

„Ich habe ein Zelt dabei“, sagte Dary mit dem automatischen Drang, sich zu rechtfertigen und zu zeigen, dass ihr Vorhaben ernsthaft war. „Das dürfte vorerst reichen.“

„Ja, vielleicht. Aber ohne dich jetzt angreifen zu wollen… ich warne dich nur vor. Spätestens nach einer Woche, nämlich wenn du das meiste deines Geldes schon für Essen ausgegeben hast, wenn du Rückenschmerzen bekommst, wenn dir einfällt dass du nach den Ferien wieder zur Schule gehen müsstest und dass deine Eltern sich wahnsinnige Sorgen machen… Dann wird dir auffallen, dass du eigentlich wieder nach Hause möchtest.“

Natürlich spürte Dary den Drang, dem zu widersprechen, das Argument zu bringen, dass sie das Abitur ohnehin nicht bestehen und die Schule bald abbrechen würde, aber ihr Verstand sagte ihr, dass Darleen mit ihren Worten völlig Recht hatte. Dary war sich darüber im Klaren, wie perspektivlos ihr Vorhaben war. Genau aus diesem Grund hatte sie es schließlich getan. „Hast du es bereut?“, fragte sie stattdessen. „Dass du ausgerissen bist?“

„Nein, ganz und gar nicht. Meine Mutter hat mich geohrfeigt, mehr Konsequenzen hatte es nicht.“ Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Schon allein die Erfahrung war es wert.“

„Versuchst du deshalb nicht, mich davon abzuhalten?“

Darleen zuckte die Schultern. „Vielleicht.“

Dary war nicht von zu Hause ausgerissen, weil sie besonders rebellisch oder abenteuerlustig war. Ganz im Gegenteil. Die Leute sagten, sie sei schon immer ein ausgesprochen ruhiges Mädchen gewesen, das nie durch ihr Verhalten auffällig geworden war. Um es ganz genau zu nehmen: Dary war so durchschnittlich, wie es jemand überhaupt sein konnte. Ihre Beziehung zu ihren Eltern erschien im Großen und Ganzen so problematisch, wie es für ihr Alter normal war. Sie hatte zwar niemanden, den sie ihre beste Freundin nennen konnte, dafür aber jede Menge Leute, mit denen sie guten Kontakt hatte. Sie war einigermaßen beliebt und auch wenn sie möglicherweise keinen Abiturabschluss bekam, hielt sie sich nicht für unintelligent. Einen Freund hatte sie keinen, und eigentlich hatte sie auch noch nie einen gehabt… aber sie wusste, dass ihr schon mehr als ein Junge nachgeschaut hatte. Sie sagte sich ständig, dass sie zufrieden mit ihrem Aussehen war, leicht neue Kontakte fand und alles in allem ziemlich ausgeglichen lebte.

Es war Rika gewesen, die ihr gezeigt hatte, dass etwas nicht stimmte.

„Du hörst gerne zu“, stellte Darleen nach fast vier Stunden in Gegenwart ihres Fahrgastes fest. „Aber du redest nicht gerade viel.“

„Ich wüsste nicht, worüber.“

Das Schweigen setzte wieder ein. Es gefiel Dary nicht, wie hell es draußen geworden war. Es war sonderbar, aber sie hatte das Gefühl, sich im Tageslicht nicht so sicher fühlen zu können wie zuvor in der Dunkelheit. Aber es nützte nichts, sie hatte Tatendrang und wollte auf keinen Fall länger im LKW sitzen.

„Setzt du mich bitte am nächsten Parkplatz ab?“

„Ganz wie du willst.“

Zwei Minuten später rollte der LKW von der Hauptspur auf einen von dicht stehenden Bäumen umsäumten Rastplatz.

„Sicher, dass du hier raus möchtest?“, fragte Darleen, die Stirn besorgt in Falten gelegt. „Sieht so aus, als gäbe es hier weit und breit keine Stadt.“

„Das macht nichts“, versicherte Dary ihr lächelnd. „Ich bin für alles gerüstet.“

„Na dann, auf Wiedersehen, Ausreißerin. Falls ich dich mal wieder am Straßenrand stehen sehe, werde ich bestimmt wieder anhalten.“

„Danke.“ Dary öffnete ihre Tür und glitt aus dem LKW. Mit einiger Mühe zog sie ihren Rucksack hinterher und hievte ihn sich auf den Rücken. Sie fühlte sich plötzlich so frisch und voller Energie, als wäre sie gerade neu geboren worden. Als sie die Tür zuschlug und Darleen zum Abschied winkte, lag auf Darys Gesicht das Grinsen eines Abenteurers, der gerade einen Blick auf den Schatz am Ende seiner Odyssee geworfen hatte.

Der erste Tag dieser Odyssee würde sehr heiß werden. Die Sonne wanderte ungestört von jeglichen Wolken den Himmel hinauf und Dary konnte sich des Gedankens nicht erwehren, einen gigantischen Suchscheinwerfer auf sich zu spüren. So ungefähr musste man sich als Sträfling auf der Flucht fühlen. Natürlich war es eine spontane Flucht, die sich aus irgendwelchen unglaublichen Zufällen ergeben hatte. Und jetzt musste sich der Sträfling mit nichts anderem als seiner Willenskraft gegen ein ganzes Bataillon aus Verfolgern durchsetzen.

Dieser Vergleich war albern. Dary wusste nicht einmal, ob sie Verfolger hatte. Sie traute ihren Eltern durchaus zu, dass sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um ihr Verschwinden zu bemerken. Als Dary heute Nachmittag das Haus verlassen hatte, waren ihre Eltern gerade dabei gewesen, sich zum ungefähr siebenhundervierundachzigsten Mal gegenseitig all ihre Fehler an den Kopf zu werfen. Sie hatten sich nicht gestritten. Das Wort Streit gefiel Dary nicht, es hörte sich viel zu gewöhnlich an. Einen Streit hatte jeder mal. Wenn sich ein Elternpaar in jeder Sekunde des Zusammenseins gegenseitig nieder machte, dann musste das anders heißen. Man sollte ein Wort dafür erfinden, das dramatischer klang als Streit.

Sie fühlte, wie ihre innere Wut sich in ihrem Kopf festzusetzen begann, und atmete tief ein, um sich wieder davon zu lösen. Was hatte es für einen Sinn, sich über solche Dinge aufzuregen? Wahrscheinlich war es nur eine Phase, die ihre Eltern momentan durchmachten, eine Phase, die jeder ganz schnell vergessen würde, wenn sie erst einmal vorbei war. Darys Eltern waren ein Ehepaar wie jedes andere auch. Wieso also sollte sie sich Sorgen machen? Außerdem war sie von solchen Dingen im Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes meilenweit entfernt.

Es zählte nur das Jetzt und der steinige Untergrund des Weges, dem Dary ins Ungewisse folgte.

Vom Rastplatz aus führte ein schmaler Trampelpfad in den Wald hinein, dessen sattes Junigrün sich jetzt langsam immer dichter über ihrem Kopf zusammenzog. Die Bäume spendeten zwar Schatten, aber das half nur minimal gegen die Hitze. Schon sehr schnell hatte Dary ihr Zeitgefühl verloren. Sie wunderte sich ein wenig, dass der Pfad überhaupt so weit in den Wald hineinführte. Für gewöhnlich dienten diese Pfade nur dazu, den Reisenden, die ein menschliches Bedürfnis verspürten, einen Weg ins Unterholz zu weisen. Doch dieser Weg hatte sich nach den ersten Metern, die durch unappetitliche Müllablagerungen gesäumt waren, zu einem steinigen Untergrund ausgeweitet, den man gut und gerne als Waldweg bezeichnen konnte. Diesen Umstand nahm Dary als Anlass zu der Annahme, dass sie zumindest demnächst nicht querbeet durchs Unterholz stapfen musste.

Irgendwo würde dieser Weg sie schon hinbringen.

Dary hatte schon den ganzen Tag lang bewusst darauf geachtet, nicht auf ihre Umgebung zu achten. Das Resultat davon war, dass sie nicht einmal annähern wusste, wo sie sich gerade befand. Sie hätte nicht einmal mehr sagen können, ob sie sich von dem Punkt aus, an dem Darleen sie abgesetzt hatte, nach Norden, Süden, Osten oder Westen bewegt hatte. Ein Ortsschild war ihr schon seit Stunden nicht mehr begegnet und den Namen auf dem letzten hatte sie vergessen. Diese völlige Orientierungslosigkeit erheiterte sie. Es erweiterte das Gefühl der Freiheit noch mehr und gab ihr gleichzeitig die Gewissheit, jetzt nicht mehr zurück zu können.

Wahrscheinlich würde sie die nächsten Stunden mit diesem Wald vorlieb nehmen müssen… dann warteten vielleicht endlose Getreidefelder auf sie, Kuhweiden und irgendwann vielleicht das nächste Dorf. Dary konnte sich selbst nicht erklären, woher sie die Freude hatte, mit der sie die so ungewisse nahe Zukunft auf sich zukommen ließ. Sie wusste nur, dass es keine Rolle spielte, ob sie eine Stunde, einen Tag oder eine Woche durch diesen Wald laufen musste.

Was auch immer dort in der Ungewissheit auf sie wartete, war es wert.

Xenon

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