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Der innere Wahrheitsgenerator

Ich tat es tatsächlich. Ich ließ mich auf Niccis Angebot ein und blieb bei ihr und David. Wurde ich jetzt zum Schmarotzer? Meine Güte, Nicci hielt tatsächlich auch nach all den Jahren noch immer an unserer Scheinfreundschaft fest und ich war dabei, das schamlos für mich auszunutzen.

Natürlich bereute ich den Entschluss dazubleiben schon während der ersten Stunden. Nicci wuselte so lange im Kinderzimmer herum, bis es eine, wie sie sagte, gebührende Unterkunft mich war. Als ich das Zimmer betrat, glaubte ich, mir würden vor pedantischer Ordnung und Sauberkeit die Augen weggeätzt. Das einzige, was mich in diesem Raum an ein Kinderzimmer erinnerte, war der Teddybär, der mit traurig geneigtem Kopf auf dem Fenstersims saß. Ansonsten hätte es genauso gut auch ein Krankenhauszimmer sein können, nichtssagend und seelenlos. Das Kind tat mir jetzt schon leid.

Niccis strahlendem Blick nach zu urteilen dachte sie anders darüber.

"Ist es nicht wundervoll?", fragte sie und wiegte ihren Bauch, den sie mit beiden Händen umschlossen hielt, hin und her. "Ich kann es kaum erwarten, bis unser kleiner Nachwuchs hier einziehen kann."

Ich beließ es bei einem Lächeln und einem Nicken.

In dieser Nacht schlief ich nicht sehr viel. Ich fühlte mich unwohl und meine Gedanken kreisten immer wieder um die letzten Worte zwischen mir und Arik.

Du hast auch fünf Jahre lang behauptet, dass du mich liebst. Was ist damit?

Das war eine Lüge.

Stimmte das? Hatte ich tatsächlich fünf Jahre meines Lebens damit verbracht, Arik Hauptmann meine Liebe nur vorzuheucheln? Hatte ich fünf Jahre verschwendet, mit einem Mann, den ich nicht liebte? Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen bei diesem Gedanken. Ich wusste die Antwort darauf, und sie gefiel mir nicht. Es war der Dorn tief in meiner Seele und ich hatte Angst, ihn zu bewegen und mir Verletzungen zuzufügen.

Also wälzte ich mich stundenlang in dem nach Waschpulver riechenden Bett hin- und her. Wenn ich für wenige Minuten einschlief, überfielen mich die widersinnigsten Träume. Ich träumte von Schmerzen und von Arik, der als dunkler Schatten über mir war und mich zu Boden drückte, bis ich keine Luft mehr bekam. Ich träumte von schwarzen Dornenranken auf nackter Haut und einem Schemen, der einfach nur dastand, mich vorwurfsvoll ansah und in der Ferne verschwand, für immer unerreichbar.

Ich schmeckte meine eigenen Tränen und wachte davon auf. Überrascht strich ich mir die salzige Feuchtigkeit von den Wangen und betrachtete meine glänzenden Finger. Es war Jahre her, dass ich das letzte Mal geweint hatte, und jetzt schienen meine Tränen aus dem Nichts zu kommen. Oder zumindest aus einem Leben, das zu weit zurücklag, als dass es noch zu mir gehörte.

Etwas in mir, das ganz nah bei meinem Herzen und meiner Seele lag, wand sich vor Schmerzen und ich vergrub schluchzend das Gesicht zwischen meinen Knien. Der Dorn hatte sich gelockert. Verdammt, was war nur mit mir los?

In den letzten Stunden hatte sich das Leben, das ich mir in den letzten fünf Jahren aufgebaut hatte, in Asche und Staub verwandelt. Ich war mir nie darüber bewusst geworden, dass Arik die Säule und das Fundament dieses Lebens darstellte. Jetzt war es mir klar.

Und ich hasste mich dafür, dass ich es soweit hatte kommen lassen.

Ohne jeden Laut zog ich mich an, schlich aus dem Zimmer und trank in der Küche eine Tasse eiskalten Kaffee. Ich hatte zumindest geglaubt, dass ich keine verdächtigen Geräusche von mir gegeben hatte. Trotzdem tauchte nach zehn Minuten Nicci im Türrahmen auf.

"Kannst du nicht schlafen?", fragte sie mit einem fast schon mütterlich besorgten Unterton. Ich sah ihre Augenringe. Ich war nicht die einzige, die heute Nacht keinen Schlaf fand. Das beruhigte mich und ich nickte über den Rand meiner Tasse hinweg.

"Ich auch nicht", gestand Nicci und saß mir sogleich gegenüber. Ihr Blick streifte angeekelt meine Tasse. "Kalten Kaffee? Ich mache uns eine Kanne frischen, wenn du..."

"Nein danke, das muss nicht sein", fiel ich ihr ins Wort. "Ich trinke gerne kalten Kaffee. Er macht wach, weil er so eklig ist."

Nicci lachte, obwohl ich mir sicher war, dass sie mich spätestens jetzt für eine Verrückte hielt.

"Und, was raubt dir den Schlaf?", fragte ich sie. Das interessierte mich wirklich. Jemand, der ein so perfektes Leben führte wie Nicci, sollte doch den Schlaf der Gerechten schlafen.

Sie hob seufzend die Schultern. Das erste Mal überhaupt glaubte ich in ihren Augen zu sehen, dass sie etwas bedrückte. Auch wenn sie es mit dem gleichen sonnigen Lächeln übertönte, das sie immer lächelte. Und im nächsten Augenblick bezweifelte ich schon, etwas Derartiges gesehen zu haben. Nicci sah genauso wunschlos glücklich aus wie immer. "Ach, ich weiß es nicht, wahrscheinlich sind es die Hormone." Sie kicherte kindisch. "Und du? Ist es wegen Arik?"

"Ja. Es ist ein komisches Gefühl."

"Ob er wohl nach dir sucht?"

Ich schnaubte und hob dramatisch die Augenbrauen. "Und ob er nach mir sucht. Wenn er nicht jetzt schon einen Suchtrupp losgeschickt hat, dann macht er das spätestens morgen früh."

Nicci sah mich eindringlich an. "Wenn er dich so stark zurückwill, dann liebt er dich vielleicht wirklich immer noch."

Diese Worte hörten sich an wie aus einem Film mit einem furchtbar kitschigen Happy End. Ich nahm einen Schluck und ließ die bittere Flüssigkeit langsam meine Kehle hinunterfließen, bevor ich antwortete. "Das kann schon sein."

"Und es ist dir egal?", fragte Nicci fast empört.

"Eine Frau in meiner Situation darf herzlos sein", behauptete ich böse lächelnd. "Wenn er mich liebt, hätte er mich nicht betrügen sollen. So einfach ist das."

Nicci wiegte versonnen den Kopf. "Das stimmt natürlich."

Wir schwiegen uns minutenlang an. Draußen vor dem Fenster jagten sich irgendwo lautstark zwei Katzen.

Nein, ich würde ihm nicht verzeihen. Vielleicht, wenn ich ihn geliebt hätte, vielleicht hätte ich dann über diesen einen Fehler hinwegsehen können, irgendwann, ganz vielleicht. Liebe ist schließlich Liebe. Aber ich hatte ihn nie geliebt. Punkt. So war es nun mal. Und eigentlich war es mir schon immer egal gewesen, was er für mich empfand. Jetzt hatte ich endlich den Vorwand, den ich brauchte, um ihn loszuwerden, ohne ihm erklären zu müssen, dass ich schon seit Jahren gehen wollte.

Wow, was Kaffee doch für eine enorme Wirkung auf den inneren Wahrheitsgenerator hatte. Vielleicht würde ich ja tatsächlich mal anfangen, ehrlich zu mir selbst zu sein. Der Gedanke amüsierte mich so sehr, dass ich nur mit Mühe mein sarkastisches Grinsen vor Nicci verbergen konnte.

Und da wusste ich plötzlich, was ich brauchte. Nur, dass ich das hier bei Nicci nicht finden würde.

Ich räusperte mich. "Du... Nicci, entschuldige aber ich brauche noch ein wenig Ablenkung. Hab ich eine Chance, heute Nacht irgendwann hier wieder reinzukommen?"

Sie sah mich verdutzt blinzelnd an. "Was, du willst ausgehen? Jetzt noch? Es ist nach zwei!"

"Und es ist Samstag", fügte ich schulterzuckend hinzu.

Sie schüttelte fassungslos den Kopf, lächelte aber sogleich wieder. "Wie du möchtest. Ich gebe dir einen Ersatzschlüssel, dann kannst du jederzeit wieder herkommen. Aber pass um Himmels Willen auf dich auf, um diese Uhrzeit... Und du bist nicht einmal mit dem Auto unterwegs!"

Ich unterdrückte einen Kommentar, der das Vorhaben, mich gründlich zu besaufen, verraten hätte. "Ich habe genug Geld für ein Taxi, keine Sorge. Sieh du lieber zu, dass du ein bisschen Schlaf findest. Das Baby quängelt bestimmt schon."

Ganz automatisch fuhren Niccis Hände wieder zu ihrem Bauch und auf ihrem Gesicht machte sich so etwas wie Schuldbewusstsein breit. "Du hast recht."

Ich erhob mich, spülte meine Tasse aus (wovon mich Nicci natürlich abhalten wollte, um es selbst zu tun) und sagte abschließend: "Falls ich vor morgen früh nicht zurückkomme, tu mir den Gefallen und ruf nicht die Polizei. Hier, ich gebe dir meine Nummer..." Ich kramte einen abgerissenen Zettel aus meiner Hosentasche, ließ mir von ihr einen Stift geben und notierte meine Handynummer. "Sagen wir, wenn ich morgen um eins noch nicht wieder da bin, kannst du mich anrufen. Vorher geh bitte davon aus, dass alles in Ordnung ist."

Nicci war etwas perplex, dass ich ihrer ausgeprägten Sorge um alles und jeden so vorbeugend entgegenkam. Wahrscheinlich war sie erstaunt, dass ich mich so gut an diesen charakteristischen Wesenszug von ihr erinnern konnte. Aber zu meiner Überraschung erwiderte sie nichts, sondern steckte nur nickend den Zettel ein.

Nur zehn Minuten später befand ich mich, kräftig in die Pedale tretend, auf dem Weg zur nächstbesten Diskothek. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich mir eigentlich dabei dachte, aber ich vertraute einfach mal meiner inneren Stimme. Die sagte mir im Moment, dass ich mich abreagieren musste. Und wo ging das wohl besser als bei ohrenbetäubender Musik, berauschten Menschenmassen und jeder Menge Alkohol?

Ich erinnerte mich an eine Diskothek am Stadtrand, in der Arik und ich unseren Einzug in dieser Gegend gefeiert hatten. Der Abend damals war nicht besonders spektakulär gewesen. Arik hatte sich so betrunken, dass ich ihn mehr nach Hause tragen als begleiten und zu guter letzt meine Schuhe von seinem Mageninhalt befreien musste. Ich verscheuchte die Erinnerung. Ob mit unangenehmer Vergangenheit verknüpft oder nicht, ich kannte nun einmal keine andere Disko hier.

Als ich endlich ankam, war es halb drei und der Parkplatz vor dem großen Hallengebäude war schon halb geleert. Der Erfahrung nach waren die meisten Teenager um diese Uhrzeit schon verschwunden, weil sie betrunken oder müde waren oder sie den Zorn der Eltern nicht provozieren wollten. Es war die Zeit der hartgesottenen Säufer, der hyperaktiven Partylöwen, der Alleinstehenden mit dem Wunsch nach einem One-Night-Stand und der Selbstmordgefährdeten.

Ich stellte mein Fahrrad in einer der hintersten Ecke des Parkplatzes ab und lehnte es halb ins Gebüsch, damit es etwas versteckt lag. Insgeheim plante ich bereits, mich der Kategorie der hartgesottenen Säufer anzuschließen und mit einem Taxi nach Hause zu fahren. Mein Fahrrad musste ja nicht die ganze Nacht für jeden betrunkenen Raufbold in unmittelbarer Reichweite sein.

Ich strich Rock und Oberteil glatt, während ich mich dem Eingang näherte. Wahrscheinlich bot ich einen erbärmlichen Anblick, nach allem, was in den letzten Stunden geschehen war, aber es war mir gleichgültig. Ich war ja nicht hier, um einen Schönheitswettbewerb zu bestreiten. Der Türsteher maß mich mit einem Blick, der mir klarmachte, dass ich einen solchen auch mit Sicherheit nicht gewonnen hätte. Zum Glück ließ er mich trotzdem rein.

Am Eingang war niemand mehr, der Eintritt verlangte, nur ein zweiter gelangweilter Türsteher, der kurz davor schien, einfach im Stehen einzuschlafen. Ein erster Blick auf die Tanzfläche verriet, dass noch erstaunlich gute Stimmung herrschte. Der zweitklassige Hip Hop ließ mich die Nase rümpfen, aber man konnte schließlich nicht alles haben.

Ich steuerte die Bar an und nahm auf dem erstbesten freien Hocker platz. Die Blicke derjeniger, die bereits dort saßen und mit ihren Gläsern in der Hand auf die Tanzfläche gafften (es waren selbstverständlich fast nur Männer), ruhten einen Augenblick lang auf mir, als ich mir einen Caipirinha bestellte. Die leicht bekleideten Frauen im Blitzlicht waren aber schon bald wieder viel interessanter. Ich entspannte mich geradezu absurd schnell. Gott war es lange her, dass ich allein ausgegangen war! Oder nein, ich musste das klarstellen- Gott war es lange her, dass ich überhaupt das letzte Mal ausgegangen war! Ich hatte fast vergessen, wie schnell die entrückende und aufputschende Wirkung von Diskolicht und überlauter Musik einsetzte. Und dass Caipirinha so gut schmeckte, hatte ich auch fast vergessen. Ich schlürfte vorsichtig an dem kleinen schwarzen Cocktailstrohhalm und nahm meine Umgebung in genaueren Augenschein.

Das vorherrschende Alter der Anwesenden schien zwischen zwanzig und dreißig zu liegen, der durchschnittliche Promillegehalt mindestens bei 1,5. Bevor mir richtig klar wurde, was ich tat, sah ich mich schon nach attraktiven Männergesichtern um. Alles und jeder, der auch nur im Geringsten eine Ähnlichkeit mit Arik aufwies – ob es nun Haarfarbe, Größe oder Körperbau war – schied im Vornherein bei dieser Selektion aus. Ich musste grinsen, als ich zu dem gleichen Schluss kam, zu dem ich bei solcherlei Auswahlverfahren schon immer gekommen war: Dass die Gutaussehenden immer in Begleitung von ebenso gut aussehenden Damen waren.

Ungefähr eine halbe Stunde saß ich einfach sinnlos herum und nippte an den Resten meines Cocktails. Dann geschah etwas, mit dem ich nun wirklich nicht gerechnet hatte: Ich wurde angesprochen.

„Lust auf einen Orgasmus?“

Dieser Satz löste eine nicht zu verachtende Kettenreaktion aus. Ich drehte mich hochgradig geschockt zu meinem Gegenüber um. Dessen todernster Gesichtsausdruck löste in mir einen so starken Lachreiz aus, dass ich mich an einem Limettenstück meines Caipirinhas verschluckte. Daraufhin musste der Verursacher all des Unglücks natürlich lachen und ich lief puterrot an. Die Limette brannte so fürchterlich in meiner Luftröhre, dass mir die Tränen kamen und der Husten mir jegliche Chancen zum Luftholen nahm. Hinter dem Tränenschleier und dem Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren nahm ich nur halbwegs wahr, wie mein Peiniger eilig ein Glas Wasser für mich orderte. Er drückte es mir in die Hand und lachte dabei immer noch (was ich nicht besonders hilfreich fand). Aber zumindest war er so kollegial, mit seinem Spott zu warten, bis ich das Glas geleert und mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte.

„Das geht wohl unter die Top Ten der wirkungsvollsten Anmachsprüche aller Zeiten ein.“ Das Grinsen auf dem (wie ich mir beschämt eingestehen musste) ziemlich ansehnlichen Gesicht reichte ungefähr von einem Ohr zum Anderen. Und die Worte waren gar nicht so spöttisch gewesen, wie ich befürchtet hatte. Alle Aggressionen, die sich während meines Hustenanfalls aufgebaut hatten, verpufften. Ich war nur zu einem reichlich dämlichen „Danke für das Wasser“ fähig.

„Ich kann ja nicht zusehen, wie so eine reizende junge Dame erstickt… meinetwegen.“ Obwohl sein Grinsen immer noch ziemlich dreist war, konnte ich in seiner Stimme nicht den geringsten Hauch von Gehässigkeit heraushören. „Ich wollte Ihnen ja eigentlich nur einen Drink anbieten.“

Ich runzelte die Stirn, und dann fiel es mir endlich ein. Mit dem Orgasmus hatte er jenes Kultgetränk gemeint, das man aus Sambuca und Baileys mischte. Oh mein Gott, war ich schon so eingerostet, dass ich auf einen so flachen Trick hereinfiel? Ich fühlte mich ganz furchtbar fehl am Platz. Wahrscheinlich hatten meine Wangen mittlerweile die Farbe eines verglühenden Sterns angenommen.

„Es tut mir wirklich Leid“, murmelte der junge Mann. „Kann ich das irgendwie wieder gut machen?“

Mein Zustand war nach wie vor zu labil, als dass ich sofort zu einer schlagfertigen Antwort fähig gewesen wäre. Stattdessen starrte ich mein Gegenüber einige Augenblicke lang einfach nur an. Zugegeben, das Schicksal hätte mich auch schlimmer treffen können. Bei meiner Männeranalyse wenige Minuten zuvor war mir dieses Exemplar nicht aufgefallen. Ich schätzte ihn auf Siebenundzwanzig. Er überragte mich um etwa eine halbe Kopfeslänge, hatte den schmalen, aber gut trainierten Körperbau eines Südländers und ein von schwarzem Haar umrahmtes Spitzbubengesicht, das ihn gleichzeitig sympathisch, aber auch unberechenbar machte.

Für letzteres Charaktermerkmal konnte ich wohl Garantie nehmen, nach der Art und Weise, wie er mich gerade aus dem Konzept gebracht hatte. Aber ich beschloss, stark zu sein. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit probierte dieser Kerl gerade seine altbewährte Bring-Sie-in-Verlegenheit-Masche an mir aus. Ich atmete einmal tief ein und lachte dann lautlos in mich hinein. Was sollte es schon? Ich war solo und musste auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Da die Frage der Wiedergutmachung noch im Raum stand, sagte ich kurzerhand: „Na ja, eigentlich hätte ich jetzt schon gerne einen Orgasmus.“

Sein Grinsen wurde wieder breiter und seine Augen blitzten wie die eines Raubtiers, das registriert hatte, dass ihm die Beute doch noch nicht entwischt war. Er drehte sich zur Bar um und bestellte zwei Orgasmen. „Mein Name ist übrigens Chris“, sagte er und schwang sich auf den Barhocker neben mir.

„Emily“, log ich.

„Bist du etwa allein hier?“

„Ja“, antwortete ich. „Wieso?“

„Na ja, es ist nicht gerade üblich, dass Frauen zu der Uhrzeit noch allein hier her kommen. Für gewöhnlich machen das nur die gefrusteten Männer, um sich ordentlich einen hinter die Birne zu kippen.“

Unsere Orgasmen kamen, und ich versuchte so entrüstet wie möglich darüber auszusehen, dass er so etwas nur Männern zutraute. „Dann bin ich wohl eine Ausnahme.“

Chris prostete mir zu. „Es gibt doch sicherlich keinen Grund, gefrustet zu sein.“

„Hast du eine Ahnung.“

Wir nahmen gleichzeitig einen Schluck von unserem Teufelszeug. Ich hatte irgendwie erwartet, dass es nicht ganz so stark wäre, aber ich korrigierte meine Vorstellung von diesem Getränk, während meine Kehle unangenehm brannte.

„Der erste Orgasmus ist immer der beste“, kommentierte Chris meinen wohl viel sagenden Gesichtsausdruck.

Das fand ich jetzt doch ziemlich flach, unterdrückte jedoch einen entsprechenden Kommentar.

Er räusperte sich. „Willst du dich nicht rüber zu mir und meinen Freunden setzen?“ Mit einer Kopfbewegung deutete er zu den Sitzgruppen am Rand der Tanzfläche, wo wenige Meter von uns entfernt ein halbes Dutzend in Blitzlicht gehüllte Gestalten saßen. Sie unterhielten sich lautstark und lachten, allerdings fiel mir auch auf, dass einige von ihnen hin und wieder feixend zu Chris und mir hinüber sahen. „In Gesellschaft löst sich Frust viel besser auf, garantiert.“

Ich fand den Vorschlag nicht übel, ich fand Chris nicht übel und ich fand das Kribbeln, das der Drink in mir auslöste, nicht übel, also nahmen wir unsere Getränke und begaben uns hinüber zu Chris’ Freunden. Sie begrüßten mich überschwänglich und rückten näher zusammen, um für uns Platz zu machen. Die gesellige Runde bestand aus vier Männern in Chris’ Alter und zwei jungen Frauen, die ständig die Köpfe zusammen gesteckt hatten und albern kicherten.

So kam es, dass der Abend doch noch zu einem Erfolg wurde. Meine Zurückhaltung verflog schnell, denn Chris’ Freunde waren extrem aufgeschlossen und machten mich sofort zu einem Teil von jedem Gespräch. Der Alkohol floss, und nachdem ich bereitwillig erzählt hatte, was in den letzten Stunden geschehen war, fanden mich besonders Chris’ männliche Freunde aus irgendeinem Grund hochinteressant. Mein Promillegehalt musste auch sehr schnell beachtlich sein, denn ich ließ mich sogar von den beiden Mädels überreden, zu tanzen. Das war etwas, das ich bestimmt fünf Jahre nicht mehr getan hatte… glücklicherweise stellte sich heraus, dass ich es noch nicht völlig verlernt hatte. Und als mir auffiel, dass ich von Chris und den anderen beobachtet wurde, fing mir das Tanzen sogar an, Spaß zu machen. Die Zeit verflog, ich hatte aufgehört meine Drinks zu zählen, und irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich in einem Taxi saß und mich fragte, wo meine Erinnerung daran, aus der Disko gegangen zu sein, geblieben war. Irgendetwas, das in meinem Rockbund klemme, kratzte ganz furchtbar. Ich zog verblüfft einen Zettel heraus, auf dem eine Telefonnummer stand.

Xenon

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