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2. Kapitel

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Die Nachricht über Tina Ruhlands Tod hatte sich im Präsidium wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Marlies Schmidt, die Kriminalassistentin und Sekretärin in einer Person, die von allen nur liebevoll Schmidtchen oder Lieschen genannt wurde, umarmte Valerie, als diese morgens ins Büro kam.

»Es tut mir so leid. Was für eine Tragödie«, sagte sie mitfühlend.

»Das zeigt nur, dass wir eben auch nur Menschen aus Fleisch und Blut sind, und vor allem sterblich. Tina war ein wunderbarer Mensch, und ich werde sie als Freundin sehr vermissen.«

»Weiß man schon, wann die Beerdigung sein wird?«

»Sobald die Staatsanwaltschaft die Leiche freigegeben hat. Wie üblich in solchen Fällen. Apropos Staatsanwalt … ich mach mich am besten gleich auf den Weg nach Moabit. Eigentlich hätte ich gleich durchfahren sollen, aber aus begreiflichen Gründen habe ich zunächst gezögert.«

»Wo willst du hin?«, fragte Hinnerk kurz darauf.

»In die Turmstraße. Ich denke, das bin ich Tina schuldig. Fangt doch schon mal an, die Identität der unbekannten Leiche herauszufinden.«

»Alles klar, toi, toi, toi.«


Staatsanwältin Ingrid Lindblom saß hinter ihrem Schreibtisch, als Valerie eintrat. Die rotgeweinten Augen der hübschen Frau zeigten Valerie, dass man die schreckliche Nachricht bereits überbracht hatte.

»Mit Ihnen habe ich am wenigsten gerechnet«, sagte die Staatsanwältin mit hochgezogener Augenbraue.

»Warum eigentlich nicht? Ich habe Sie nie als Konkurrentin oder gar Feindin angesehen und Tina auch geliebt.«

»Deshalb haben Sie auch Herrn Lange den Vorzug gegeben …«

»Als ich mit Tina zusammen war, konnte ich mir noch nicht vorstellen, jemals verheiratet zu sein. Wir haben beide unsere Freiheit genossen. Abgesehen davon wird eine gleichgeschlechtliche Ehe frühestens im Oktober dieses Jahres möglich sein. Und eine eingetragene Lebenspartnerschaft kam weder für Tina noch für mich infrage. Als ich dann überraschend schwanger wurde, war für mich klar, dass mein Kind nicht ohne Vater aufwachsen sollte.«

»Sie sind mir keine Rechenschaft über ihr Privatleben schuldig. Aber Tatsache ist, dass Tina sehr an Ihnen gehangen und nie schlecht über Sie gesprochen hat. Sie konnte nur nicht den Wechsel auf die „andere Seite“ verstehen.«

»Ich selbst kaum, denn ich bin schon immer zweigleisig gefahren. Aber mit Hinnerk hat es sich richtig angefühlt. Ich habe meinen Entschluss nie bereut.«

»Seien Sie mir nicht böse, aber das nehme ich Ihnen nicht ab. Sonst hätten Sie sich wohl kaum von Herrn Lange scheiden lassen.«

»Das war eine reine Trotzreaktion, wie ich später einsah. Weil ich traurig und verletzt war.«

»Dann müssen Sie gut nachvollziehen können, wie Tina sich gefühlt hat. Sie kam sich wie ausrangiert vor.«

»Das tut mir alles sehr leid. Aber wie gesagt eine feste Verbindung war nie Thema zwischen uns. Und nach der Trennung von Hinnerk mich wieder ihr zuzuwenden, war mir zu billig. Sie sollte sich nicht als Lückenbüßer fühlen.«

»Das ist das richtige Wort, denn schließlich haben Sie Herrn Lange ein zweites Mal geheiratet.«

»Ja, weil ich meinen Irrtum eingesehen habe und ihn aufrichtig liebe. Tina habe ich auf meine Art geliebt.«

»Man musste sie ja einfach lieben«, sagte Frau Lindblom mit erstickter Stimme. »Ich weiß nicht, wie ich über den Verlust hinwegkommen soll.«

Valerie ging auf die weinende Frau zu.

»Darf ich?«, fragte sie leise und nahm Ingrid vorsichtig in die Arme.

Die Staatsanwältin ließ es geschehen und schluchzte hemmungslos. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, da sie sich der unmöglichen Situation bewusst wurde, und sie löste sich von Valerie.

»Der Teufel soll Sie holen, wenn etwas davon nach außen dringt«, sagte sie mit harter Stimme.

»Wofür halten Sie mich? Aber Teufel ist ein gutes Stichwort. Der unbekannte Leichnam, der Ursache für den Unfall war, weist satanische Symbole auf. Die Frau könnte einer Sekte angehört haben.«

»Dann tun Sie Ihre Arbeit, und versprechen Sie mir, dass Sie die Hintergründe aufklären und die Schuldigen finden werden. Das sind Sie Tina einfach schuldig.«

»Ich weiß. Sie müssen mich nicht extra darauf hinweisen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun.«

»Danke, wenn Sie Hilfe brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden.«

Valerie war sehr nachdenklich, als sie das Büro der Staatsanwältin verließ. Einmal, weil sich Ingrid Lindblom wohl nie ändern würde, zum anderen, weil Valerie ungern Versprechungen machte, die sie womöglich nicht halten konnte. Sie und ihr Team waren zwar für eine hohe Aufklärungsquote bekannt, aber Valerie wusste auch, dass das Thema Satanismus in Deutschland weitgehend totgeschwiegen wurde. Wenn man den Gerüchten glauben konnte, waren die Anhänger bis in die höchsten Positionen verteilt. In den höheren Ebenen sollten sich auch Ärzte, Priester, Industrielle, hohe Polizeibeamte und sogar Staatsanwälte befinden. Alle hielten wie Pech und Schwefel zusammen, hieß es. Verschwiegenheit war in diesen Kreisen oberstes Gebot.

Offiziell gab es den Satanismus, als eine fest strukturierte weltanschauliche Organisation mit einer Zentrale in Deutschland nicht. Allenfalls sprachen Experten von einem Satanismus-Syndrom. Das machte die Aufklärung vermeintlicher Fälle so schwierig. Es gab zu viele unterschiedliche Ausdrucksformen des Satanismus. Dazu gehörten Gruppen von Jugendlichen, die sich um Mitternacht auf Friedhöfen trafen, um dort Mutproben zu bestehen oder angeblich Schwarze Messen zu zelebrieren. Einsätze der herbeigerufenen Polizei verliefen jedoch meistens ins Leere. Gelegentlich wurden Kirchen mit Teufelssymbolen beschmiert oder Gräber geschändet, ohne dass man die Verantwortlichen fassen konnte.

Warum bekamen sie es immer mit so ungewöhnlichen Morden zu tun? Valerie beschwerte sich gedanklich oder auch offen verbal zum wiederholten Mal. Ein Mord aus Eifersucht oder Habgier war dagegen beinahe Routine.

Ihr nächstes Ziel lag ebenfalls in der Turmstraße. Auf dem Gelände des ehemaligen Krankenhaus Moabit befand sich seit Dezember 2004 die Rechtsmedizin – eigentlich: Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin. Im Februar 2006 waren das Leichenschauhaus aus der Invalidenstr. 59 und die Toxikologie aus der Invalidenstr. 60 gemeinsam in das modernisierte Haus O – die ehemalige Pathologie des Krankenhauses Moabit – gezogen. Somit ließen sich die bisher auf drei Standorte verteilten Arbeitsbereiche vereinigen.

Knud Habich machte große Augen, als er Valerie sah.

»Ihr könnt es wohl wieder einmal nicht abwarten, den Obduktionsbericht zu erhalten«, sagte er.

»Eigentlich bin ich gekommen, um Tina noch einmal zu sehen«, meinte Valerie, »aber wenn ich schon einmal hier bin, kannst du mir auch etwas über das Opfer erzählen.«

»Wie schon gesagt, handelt es sich um eine Übertötung«, sagte er, »weil mehrere der dreißig Stiche in Brust und Oberbauch allein schon tödlich gewesen wären. Der oder die Täter muss unter Drogeneinfluss gestanden haben, wie das Opfer übrigens auch. Wir haben Spuren von Aconitum napellus gefunden. Der Blaue Eisenhut gilt als die giftigste Pflanze Mitteleuropas und zieht als Mordgift durch die Zeitgeschichte. Aristoteles nahm sich vermutlich mit Aconitum das Leben als man ihn anklagte, Alexander den Großen vergiftet zu haben. Medizinisch wurde die Pflanze in der Antike gegen starke Nervenschmerzen eingesetzt, später gegen Epilepsie, Lähmungen, Wassersucht, aber auch gegen Neuralgien, Gicht und Rheumatismus. Heute verwendet man es in homöopathischer Potenzierung bei Angst und Panikzuständen.«

»Heißt es nicht, es ist nur zwei bis drei Stunden nach dem Tod nachweisbar?«

»So heißt es, aber dennoch lassen sich geringe Spuren in Blut, Urin und Magen- und Darminhalt finden. Mit einem komplizierten Verfahren mittels einer Chloroformlösung ist das möglich. Aber die Unbekannte war ja noch keine drei Stunden tot. Wir haben auch Zahnabdrücke der Unbekannten genommen und eine DNA Analyse durchgeführt.«

»Gut, dann werden wir bald wissen, um wen es sich handelt. Dann hat man sie also betäubt, bevor man sie umbrachte?«

»Nicht unbedingt. Sie kann das Gift auch freiwillig genommen haben. Im Mittelalter hat man den Eisenhut auch in Hexensalben verarbeitet. Die Alkaloide der Nachtschattengewächse wirken auf das Zentralnervensystem und brachten den vermeintlichen Hexen angenehme Träume und Halluzinationen. Das Aconitin erregt zuerst die sensiblen Nervenenden in der Haut, anschließend lähmt es sie aber. Bewegungsunfähig kann sie durchaus ihren Tod miterlebt haben.«

»Dann ging es also tatsächlich um rituelle Praktiken«, sagte Valerie.

»Durchaus anzunehmen. Erst nahm man ihr die Angst und dann das Leben. Die Frau muss auch über längere Zeit gehungert haben. Dabei bildet der Körper vermehrt Aceton. Diesen stechenden Geruch, der an Nagellackentferner erinnert, konnten wir feststellen.«

»Danke, dann warten wir auf den schriftlichen Bericht. Jetzt würde ich gerne zu Tina gebracht werden.«

»Natürlich. Du nimmst mir nicht übel, wenn das eine neue Kollegin macht?«

»Was denn, gibt es etwa schon Ersatz für Tina?«

»Die ganze Arbeit muss schließlich auch zukünftig gemacht werden. Ich bin sogar froh, dass die Stelle nicht gestrichen wurde.«

Stella Kern stellte sich als eine außerordentlich hübsche und sensible Frau heraus. Ein wenig erinnerte sie Valerie sogar an die junge Tina, obwohl sie eine ganz andere Haarfarbe hatte. Kein Außenstehender hätte wohl auf Anhieb ihren Beruf erraten. Valerie geißelte sich sogleich innerlich für die Abschätzung der Gerichtsmedizinerin, aber durch den bevorstehenden, schweren Gang waren ihre Sinne geschärft, und sie nahm jede Kleinigkeit wahr.

»Guten Tag, ich bin die Neue«, sagte sie mit melodischer Stimme. »Auf gute Zusammenarbeit, Frau Hauptkommissarin.«

»Ja …«, stotterte Valerie.

»Ich lasse Sie dann mal allein«, sagte Stella Kern, nachdem sie Tinas Leiche aus dem Kühlfach gezogen und abgedeckt hatte.

Valerie sah in das blasse Gesicht von Tina und konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.

»So muss es also mit uns zu Ende gehen«, flüsterte sie, als könne Tina sie hören. »Dabei hättest du noch viele schöne Jahre vor dir gehabt. Verzeih mir, dass ich dir nicht mehr Zeit geschenkt habe. Aber du wirst für immer in meinem Herzen bleiben.«

Wie lange Valerie in stillem Zwiegespräch verweilt hatte, hätte sie anschließend nicht sagen können. Aber irgendwann kam Stella umarmte Valerie vorsichtig und führte sie sanft weg.

»Kommen Sie, Frau Voss. Sie haben Sie sehr gemocht, nicht wahr? Ich hörte, sie war auch unter den Kollegen sehr beliebt.«

Valerie nickte stumm.

Friedrichshagen lag in tiefem Schlummer, als drei schwarz gekleidete Personen den Zaun des evangelischen Friedhofs erklommen. Sie benutzten nicht den Haupteingang in der Aßmannstrasse, sondern den in der Peter-Hille-Straße, weil der Zaun dort niedriger war.

Vidar war vor Aufregung ganz still, denn er fürchtete sich nicht nur vor der Mutprobe. Es war auch durchaus möglich, dass man sie entdeckte. Delano hatte verfügt, dass Vidar von Sirona und Finbar begleitet wurde. Da Vidar im Keltischen „Waldkrieger“ bedeutet, würde Sirona als die keltische Göttin der Jagd und des Waldes gut passen, feixte er. Nur Finbar – „Der Blonde“ oder “blondes Haupt“ – passte nicht ganz dazu. Doch der hatte nach einigem Ungehorsam etwas gutzumachen.

Zielsicher steuerten sie auf eines der frischen Gräber der letzten Tage zu. Vidar und Sirona räumten die Kränze und Gestecke beiseite, und Finbar begann, den provisorischen Erdhügel abzutragen. Dann schaufelte er tiefer, bis der Spaten dumpf auf dem Holz des Sarges aufstieß. Danach löste er die Schrauben des Deckels und klappte diesen auf.

Vidar betrachtete schaudernd das eingefallene, fahle Gesicht des alten Mannes, dessen knochige Hände über der Brust gefaltet waren. Denn er wusste, dass die Probe darin bestand, es mindestens eine Viertelstunde neben der Leiche in totaler Finsternis auszuhalten.

»So, du kannst dich niederlegen, und ich schließe den Deckel«, sagte Finbar. »Und denk daran, was du noch zu erledigen hast.«

In der Enge des Sarges mit der Leiche halb unter sich befielen Vidar sogleich Beklemmungen. Er überstand die Zeit nur, indem er autogenes Training zu Hilfe nahm und sich in eine Art Dämmerzustand versetzte. Als der Deckel wieder geöffnet wurde, rang er nach Atem und würgte heftig. Doch dann holte er eine Knochensäge aus der Tasche und begann die linke Hand der Leiche abzutrennen. Nachdem ihm das gelungen war, steckte er das grausige Relikt in eine Tüte und warf diese im hohen Bogen über den Grubenrand. Die Schließung des Sargdeckels war wie eine Befreiung für ihn.

Finbar half Vidar aus der Grube, und sie begannen sogleich, das Erdreich zurück zu schaufeln. Zuletzt legten sie die Kränze und Gestecke auf den nicht besonders hohen Hügel. Wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, mittels eines Handyfotos die alte Ordnung herzustellen, wäre ihre Tat womöglich unentdeckt geblieben. Aber ihre schlampige Vorgehensweise sollte am nächsten Tag sogleich auffallen und hohe Wellen schlagen. Dass davon nichts in die Presse gelangte, geschah aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen und um nicht noch mehr Verbrecher anzulocken.

Anerkennend klopfte Finbar Vidar auf die Schulter.

»Gut gemacht, Bruder. Der Meister wird zufrieden sein«, sagte er leise. »Jetzt lasst uns abhauen, bevor noch jemand kommt!«

Sirona war nur allzu froh, den Heimweg antreten zu können. Erleichtert atmete sie auf, als sie alle unerkannt im Wagen saßen. Ihre Gedanken behielt sie lieber für sich. Eine Grabschändung war nicht gerade ein Kavaliersdelikt, wenn auch nicht zu vergleichen mit einer rituellen Opferung. Nur das eine war im Rausch und in mystischer Verzückung geschehen, und das andere bei vollem Bewusstsein. Nein, sie wollte keine Priesterin werden, dachte Sirona. Schon deshalb nicht, wenn es mit derlei Prüfungen verbunden war.


Die unbekannte Tote von der Autobahn wurde offensichtlich nicht vermisst, denn sie erschien in keiner Datenbank. Dass es sich um einen Flüchtling handelte, war eher unwahrscheinlich, denn die Frau sah deutlich westeuropäisch aus. Dann schon eher um eine illegal Eingewanderte, die womöglich zur Prostitution gezwungen worden war. Doch auch die internationalen Datenbanken gaben nichts her. In der Not veröffentlichte man ein Foto der Toten und bat die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise.

Bald darauf meldete sich eine junge Frau, die angab, die Tote zu kennen.

»Das ist eindeutig Imogen Breuer«, sagte Nina Dietz, eine pausbäckige Aschblonde, Anfang dreißig. »Wir sind zusammen in eine Klasse gegangen, haben uns aber später aus den Augen verloren. Als ich sie zufällig einmal in der Stadt traf, wirkte sie auf mich seltsam entrückt, als habe sie psychische Probleme.«

»Hat sie Ihnen eine Adresse genannt?«, fragte Valerie, die deutlich ernster war nach ihrem Besuch in der Pathologie.

»Nein, sie erzählte nur, dass sie noch einige Jahre bei den Eltern gewohnt hat. Das Ehepaar Ulrich und Tatjana Breuer lebte damals in der Uhlandstraße. Ob sie jetzt noch dort wohnen, weiß ich leider nicht.«

»Das wird sich leicht herausfinden lassen. Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Valerie und verabschiedete die Frau. »Schmidtchen, sieh doch bitte mal nach, ob Ulrich und Tatjana Breuer noch in der Uhlandstraße gemeldet sind.«

»Yep, wird gleich erledigt.«

»Hat jemand Lust mitzukommen?«, fragte Valerie.

»Du kennst ja meine Aversion, Todesnachrichten zu überbringen«, sagte Hinnerk. »Vielleicht will unser Küken?«

»Also, als Federvieh hat mich noch keiner bezeichnet«, lachte Heiko. »Aber ja, ich komme mit.«

»Denk dir nichts dabei. Mein Mann hat mitunter einen etwas gewöhnungsbedürftigen Humor …«

»Sagt die Frau, die uns in dieser Beziehung alle schlägt.«

»Ich nehme das mal als Kompliment. Und, Schmidtchen, hast du was gefunden?«

»Ja, das Ehepaar wohnt in der Nummer 141.«

»Prima. Dann los, Heiko!«


Das hellgelb gestrichene Haus Uhlandstraße 141 war ein typischer Altbau vom Anfang des vorigen Jahrhunderts mit Erkern und Balkonen. Im Erdgeschoss befanden sich ein Kosmetikstudio und ein Geschäft für Teppichböden und Tapeten. Valerie drückte den Knopf auf dem Klingelschild neben dem Namen Breuer, woraufhin sogleich der Summer ertönte. Oben erwartete sie eine adrett gekleidete Frau, Mitte fünfzig, mit feinen, blonden Haaren und sehr hellen, etwas trüben Augen.

»Ja, bitte?«, fragte sie mit leiser Stimme.

»Guten Tag, Frau Breuer. Mein Name ist Voss, und das ist mein Kollege Herr Wieland. Wir kommen vom LKA Berlin. Dürfen wir einen Moment hereinkommen?«

»Ja, bitte! Gehen Sie doch durch ins Wohnzimmer! Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, danke. Wir würden Ihnen gern ein Foto zeigen mit der Frage, ob es sich bei der abgebildeten Person um Ihre Tochter Imogen handelt.«

»Einen Augenblick, ich hole meine Brille.«

Als Tatjana Breuer mit ihrer Lesebrille auf der Nase wiederkam, reichte ihr Valerie das Foto.

»Ja, das ist Imogen«, sagte die Frau und schluchzte auf. »Sie ist tot, nicht wahr?«

»Es tut mir leid, Frau Breuer. Ihre Tochter war in einen Verkehrsunfall auf der Stadtautobahn verwickelt.« »Das kann nicht sein. Imogen besitzt keinen Führerschein.«

»Man kann auch als Beifahrer ums Leben kommen. Da sie keine Papiere bei sich trug, war sie für uns unbekannt. Doch ein Aufruf zur Mithilfe ließ sich eine ehemalige Mitschülerin namens Nina Dietz bei uns melden. Sie meinte, auf Anhieb Ihre Tochter zu erkennen. Deshalb sind wir hier.«

»Ja, die Nina war ein liebes Mädchen. Die beiden waren sehr gut befreundet.«

»Frau Dietz gab an, Imogen habe sich mit den Jahren sehr verändert. Weniger vom Aussehen her als vom Verhalten.«

»Kein Wunder, dass es Nina nicht entgangen ist. Wir haben ja unser eigenes Kind kaum wiedererkannt. Sie lief plötzlich nur noch mit dunkler Kleidung und schwarz umrandeten Augen herum. Mein Mann war entsetzt, dass sich unsere Tochter zum „Grufti“ wandelte. Bald darauf zog sie aus und ließ sich kaum noch sehen. Bei einem ihrer seltenen Besuche wollte sie Lamai von uns genannt werden. Ulrich hat sich totgelacht und gefragt, ob sie jetzt völlig durchdrehe. Ich machte mir große Sorgen, wie man sieht, nicht zu unrecht.«

»Der Umstand, dass sich Ihre Tochter der sogenannten Gothic-Bewegung anschloss, ist allein noch nicht ungewöhnlich«, sagte Heiko. »Seit der Stil Anfang der 80er Jahre in Mode kam, fand er viele Anhänger unter den Jugendlichen, die Namensänderung gibt schon eher zu denken. Halten Sie es für möglich, Imogen habe sich einer Sekte angeschlossen?«

»Ich weiß es nicht. Mein Mann hat das auch sofort vermutet, aber ich dachte, sie sei zu misstrauisch für so etwas.«

»Wo ist Ihre Tochter hingezogen, Frau Breuer?«, wollte Valerie wissen.

»In eine Einzimmerwohnung in Neukölln. Wir waren entsetzt und haben sie dort nur einmal besucht. Ein richtiges Loch, kann ich Ihnen sagen. Unvorstellbar, dass man so wohnen kann. Na, lange ist sie dort auch nicht geblieben. Sie meinte, jetzt in einer schönen, alten Villa zu wohnen, unter Gleichgesinnten.«

»Hat sie die Straße oder wenigstens den Bezirk erwähnt?«

»Nein, sie machte ein großes Geheimnis darum. Angeblich deshalb, weil dort Besuche nicht erwünscht sind. Ach, ich hatte gleich so ein komisches Gefühl. Aber sie wollte ja nicht hören.«

»Hat Ihre Tochter studiert?«

»Nein, nach der zehnten Klasse hat sie die Schule verlassen, um eigenes Geld zu verdienen. Sie hat dann im Kaufhaus gearbeitet, aber da gab es immer wieder Ärger wegen ihrer Aufmachung. Dann fing sie in einem Secondhand-Laden an, wo sie es ziemlich lange aus-gehalten hat. Später in so einem Café für junge Leute, doch da wohnte sie schon nicht mehr bei uns. Als wir sie einmal dort besuchen wollten, hieß es, sie habe gekündigt.«

»Seltsamer Weise ist die Meldeadresse noch immer diese Wohnung hier. Demnach hat sie sich weder in Neukölln noch in der letzten Unterkunft angemeldet.«

»In Neukölln vielleicht deshalb nicht, weil es nur so kurz war. Aber warum danach nicht, muss wohl mit der großen Geheimniskrämerei zu tun haben. Halten Sie es für möglich, dass man sie dort umgebracht hat?«

»Davon gehen wir aus«, sagte Heiko. »Zumal Ihre Tochter zum Zeitpunkt des Unfalls bereits tot war.«

»Was sind das nur für schreckliche Leute, die eine solche Macht über andere haben und sich gegenseitig umbringen? Etwa diese Scientology Sekte, von der man immer wieder hört?«

»Das muss nicht zwingend der Fall sein. Es gibt da ganz unterschiedliche Strömungen. In einer Zeit des allgemeinen Werteverfalls und dem Siegeszug des Atheismus sind die jungen Menschen auf der Sinnsuche, zum Teil auf recht absonderlichen Wegen. Aber egal ob Scientology oder nicht, umgebracht werden für gewöhnlich nur Mitglieder, die die Absicht haben, sich aus der Gemeinschaft zu lösen. Wahrscheinlich wollte Ihre Tochter nicht mehr mitspielen. Das konnte man nicht zulassen.«

»Warum ist sie in ihrer Not nur nicht zu uns gekommen?«, jammerte Frau Breuer. »Wir hätten sie doch mit offenen Armen aufgenommen.«

»Da können unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen«, sagte Valerie. »Sie mag sich geschämt haben oder wollte sie nicht auch noch in Gefahr bringen.«

»Ja, das wird es sein. Im Grunde war sie ein gutes Kind und ist wohl nur an die falschen Leute geraten. Glauben Sie, Sie werden die Verantwortlichen ausfindig machen können?«

»Es wird keine leichte Aufgabe sein, aber wir tun unser Bestes. Sie werden benachrichtigt, wenn die Leiche freigegeben wurde, damit Sie die Beisetzung veranlassen können.«

»Danke, für alles.«

»Ich habe nicht wirklich damit gerechnet, dass wir eine Adresse auf dem Silbertablett serviert bekommen«, sagte Valerie auf der Rückfahrt, »aber wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt. Doch jetzt sind wir so schlau wie bisher.«

»Vielleicht wird es noch mehr Opfer geben, und irgendwann machen die mal einen Fehler«, meinte Heiko.

»Die Staatsanwältin springt dir mit dem nackten Allerwertesten ins Gesicht, wenn sie das hört. Den Täter erst stellen zu können, wenn es ein weiteres Opfer gibt, hält sie für glattes Versagen unsererseits. Da ist sie sich mit Schütterer ziemlich einig.«

»Aber was sollen wir denn machen, wenn es keine Anhaltspunkte gibt? Die Spuren auf der Brücke waren äußerst unergiebig. Wir können doch nicht alle religiösen Fanatiker, die es in der Stadt gibt, abklappern.«

»Das hatten wir schon mal. Aber wenigstens gab es da einen Anlaufpunkt. Vielleicht meldet sich ja noch jemand auf das Foto hin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lamai in dem Haus gefangen gehalten wurde. Irgendwann wird sie doch auch mal rausgegangen sein. Apropos, das ist jetzt zwar eine schlechte Überleitung, aber Hinni und ich sind der Meinung, dass es Zeit wäre, dass du uns einmal besuchst. Du wirst von Hinnis Kochkünsten begeistert sein.«

»Ja, herzlich gern, auch ohne Kochen.«

»Gut, du darfst auch jemanden mitbringen, wenn du magst.«

»Das hat Zeit. Nicht alles auf einmal. Zunächst komme ich mal allein. Habt ihr schon einen Termin im Auge?«

»Ja, zum Beispiel dieses Wochenende.«


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