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SHIFT 1 Von Organisatorisch zu Organisch

Oft versuchen wir mühevoll, durch Organisieren den Dingen Leben einzuhauchen, anstatt selbst lebensspendende Organismen zu sein.

E. Stanley Jones1

Wenn die Gründung neuer Gemeinden dazu führt, dass sich große Gruppen von Menschen versammeln, ist alles gut.

Ich wünschte von ganzem Herzen, wir würden nicht so denken. Und ich glaube, es ist an der Zeit, so mancher Wahrheit ins Auge zu sehen, denn diese weit verbreitete Vorstellung von Gemeindegründung führt uns in die Irre. Und sie beraubt Menschen der Möglichkeit, die Hoffnung des Evangeliums Jesu Christi zu entdecken – in einer Zeit, in der wir diese Hoffnung so dringend brauchen.

Wahrscheinlich hast du schon von „Größer-ist-besser“-Strategien zur Gemeindegründung gehört und von Organisationen, die ohne eine Start-up-Veranstaltung mit Hunderten von Menschen keine neuen Dienste ins Leben rufen. Meine 35-jährige Erfahrung in der Gemeindegründung hat mich jedoch gelehrt, dass Gemeindegründung, die zu Gemeindemultiplikation führt, nicht allzu viel mit großen Zahlen zu tun hat. Gemeindegründung bedeutet radikale, innere Veränderung. Was zählt, ist nicht, wie viele Menschen am Tag der Gründung erscheinen, sondern vielmehr, wie stark sie durch das Evangelium verändert werden.

Viele der heutigen Initiativen für Gemeindegründung sind ähnlich wie Unternehmen nach einem Modell konzipiert, bei dem das Augenmerk auf administrativer Leiterschaft und einer begabten Gründerin oder einem begabten Gründer liegt, die bereits wiedergeborene Gläubige darin unterweist, die Geburt einer neuen Gemeinde in die Wege zu leiten. Aber ich möchte die kühne Behauptung aufstellen, dass dies gar keine wirkliche „Geburt“ ist, denn organisieren sich hier nicht einfach nur Glaubende, die von einer anderen Kirche kommen, an einem neuen Ort? Darin besteht meiner Ansicht nach die Krise der gegenwärtigen Gemeindegründungsarbeit in der westlichen Welt: Gemeinden zu organisieren, ohne sie tatsächlich zur Geburt zu bringen.2

Mal sehen, ob dir folgendes Szenario bekannt vorkommt. Ein berufener und begabter Leiter inspiriert andere Christen dazu, eine neue Gemeinde zu gründen. Sie treffen sich regelmäßig, um zu beten, zu planen und eine Strategie zu entwerfen, mit der sie die neue Gemeinde ins Leben rufen wollen. Oft geht es darum, wie der Gottesdienst aussehen soll und welche Programme die Gemeinde anbieten möchte.

Ich vermute, dass du irgendwann in deinem Leben schon einmal Teil eines solchen Prozesses gewesen bist oder ihn sogar angeleitet hast. Wenn ja, hast du vermutlich festgestellt, dass Evangelisation und Jüngerschaft zu den vernachlässigten Stiefkindern des Projekts werden, weil Gemeindegründungsteams nun einmal instinktiv das tun, womit sie sich auskennen. In den meisten Fällen hängt das damit zusammen, wie die bestehenden Gemeinden arbeiten, aus denen die Teams kommen. Das Problem entsteht dann, wenn sie in die organisatorische Gemeindegründung verfallen – auf Kosten der organischen Gemeindegründung.

Ohne zu merken, was geschieht, reduziert die Leitung des neuen Projekts die Bedeutung von Gemeinde oft auf ein bestimmtes Ereignis. Gemeinde wird dementsprechend mit einem Gottesdienst gleichgesetzt. Dieser wiederum wird zur größten Triebfeder des Dienstes, was sich rasch in der Ausrichtung auf Zahlen, Spenden, Mitarbeitende, Technik und Eigendarstellung niederschlägt.

Es gibt noch einige andere zugrundeliegende Vorstellungen, die die Art und Weise beeinflussen, wie wir im Westen Gemeinden gründen. Schauen wir uns vier maßgebliche Denkweisen an.

• Die erste Annahme besteht im Stellenwert der Kontrolle. Wir müssen sehr gut organisiert und mit möglichst wenig Risiko vorgehen. Nichts darf dem Zufall überlassen werden. Das Geld, die Besetzung der einzelnen Aufgaben, die Schulung der Mitarbeitenden, die Musik, die Programme, die Werbung – alles muss aufeinander abgestimmt sein, um den Erfolg zu garantieren.

• Die zweite Annahme ist, dass die Sache großes Aufsehen braucht: „Je größer, desto besser.“ Also starten wir unsere Gemeinden mit einem Paukenschlag, denn wir denken, dass wir „keine zweite Chance haben, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen“. Und dieser erste Eindruck – der Wow-Effekt – ist das, was zählt.

• Die dritte Annahme liegt in der Unabdingbarkeit der Professionalität. Bei dieser Art der Gemeindegründung können wir keine Dilettanten gebrauchen. Schließlich handelt es sich hier um eine ernstzunehmende Arbeit, die nur von theologisch gut ausgebildeten, adrenalinsüchtigen, hochbegabten Menschen bewältigt werden kann.

• Die vierte Vorstellung besteht in der Bedeutung des Images. Das Bild, das die Mitarbeiter auf der Bühne vermitteln, ist das, was die Menschen anzieht und sie immer wieder zurückkommen lässt. Rhetorische Brillanz, musikalische Exzellenz, technisches Können – das ist es, was die Leute wollen. Und was die Leute wollen, das liefern wir ihnen.

Worauf ich hier zu sprechen kommen möchte, ist die Frage nach der Substanz. Denn Pragmatismus mag eine große Anziehung entwickeln. Aber wenn wir unsere Bemühungen zur Gemeindegründung in die Hände des Gottes des Pragmatismus legen, müssen wir uns nicht wundern, wenn uns die Räder abfallen und der Wagen liegen bleibt. Für viele Leitende im Gemeindebau wird die Macht der Anziehung zum Opium ihrer Wahl (mehr Menschen bedeuten mehr Geld und Ressourcen). Fest steht: Das Mittel gegen diesen Pragmatismus ist Gebet. Und damit meine ich totale Hingabe an Gott, die Abhängigkeit von dem, der das Zepter in der Hand hält.

Ohne Zweifel, wenn wir Gemeinden gründen wollen, brauchen wir den Heiligen Geist! Sobald der Heilige Geist auf dem Fahrersitz Platz nimmt, geschehen außergewöhnliche und schöne Dinge. Wir geben die Kontrolle auf und sind demütig. Wir suchen das Antlitz des Vaters mehr als unseren Erfolg und investieren in Menschen, die nicht so perfekt sind. Und da wir wissen, dass der Heilige Geist der Herr der Lage ist, können wir auch mit misslichen Situationen besser umgehen.

Bei der Art von Gemeindegründung, die wir heutzutage praktizieren, tendieren wir in der Anfangsphase eher dazu zu versäumen, Menschen außerhalb der Gemeinde in die Nachfolge Jesu zu rufen. Stattdessen versuchen wir ein Kernteam von Glaubenden zu versammeln. Erst nachdem die Gemeindegründerin oder der Gemeindegründer eine Gruppe von höchst engagierten Menschen um sich geschart hat, wird mit der Evangelisation begonnen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es an der Zeit ist, sich darauf zurückzubesinnen, den Schwerpunkt wieder auf bekehrungsbasierte Gemeindegründungen zu legen, die organisch gewachsene Gemeinden hervorbringen.

Wie schaffen wir diese 180-Grad-Kehrtwende?

Sehen wir uns ein Modell an, das uns als Leitbild dienen kann. In den Tagen der Urchristen beruhten alle Gemeindegründungen von ihrem Wesen her darauf, dass Menschen zum Glauben fanden. Den Auftakt zum Dienst des Apostels Paulus als Gemeindegründer in Europa bildete ebenfalls eine Bekehrung zu Jesus Christus – die einer Frau namens Lydia (Apg 16,11-15). Bekehrung ging der Gemeindegründung voraus.

Dass Gemeinden organisch gegründet werden, heißt nicht, dass die Struktur in den Hintergrund gerät. Alle gesunden und wachsenden Organismen, seien es Pflanzen, Tiere, Menschen oder Gemeinden, brauchen Struktur, um sich zu entwickeln. Bei Gemeinden, die auf Bekehrung basieren, gibt die organische Entwicklung die jeweilige Struktur vor, die mehr Wachstum ermöglicht. Im Wesentlichen steht die Struktur im Dienste der Wiedergeburt von Menschen.

Biblische Hinweise für bekehrungsbasierte Gemeindegründung

Wenn wir die Apostelgeschichte durchlesen, fällt uns der Satz „… wuchs die Gemeinde an diesem Tag“ (Apg 2,41) ins Auge. Zu fünf verschiedenen Anlässen stoßen wir im Bericht des Lukas auf den griechischen Begriff prostithymi (was „hinzufügen“ oder „wachsen“ bedeutet). Mit dem Begriff brachte der Schreiber das Bekehrungswachstum zum Ausdruck, durch das die Gemeinde sich vergrößerte. Die Schrift zeigt uns immer wieder, dass die Gemeinde in Jerusalem eine Versammlung von Glaubenden war, die durch Bekehrungswachstum aufgrund der Predigt des Petrus in der Kraft des Heiligen Geistes ins Leben gerufen wurde.

Werfen wir einen Blick auf die folgenden zusammenfassenden Aussagen, die die frühen Gemeinden aus der Apostelgeschichte beschreiben:

• „Viele nahmen die Botschaft an, die Petrus ihnen verkündete, und ließen sich taufen. Durch Gottes Wirken wuchs die Gemeinde an diesem Tag um etwa dreitausend Personen“ (2,41).

• „Und jeden Tag rettete der Herr weitere Menschen, sodass die Gemeinde immer größer wurde“ (2,47).

• „Doch viele von denen, die die Botschaft der Apostel gehört hatten, kamen zum Glauben ´an Jesus`, sodass die Zahl der Christen auf etwa fünftausend anwuchs“ (4,4).

• „ Die Botschaft Gottes breitete sich immer weiter aus, und die Zahl der Jünger in Jerusalem stieg sprunghaft an. Auch zahlreiche Priester nahmen das Evangelium an und glaubten an Jesus“ (6,7).

• „Die Gemeinde in ganz Judäa, Galiläa und Samarien erlebte nun eine Zeit der Ruhe und des Friedens. Die Christen wurden im Glauben gefestigt und lebten in Ehrfurcht vor dem Herrn“ (9,31).

Auch die Kirche in Antiochien startete als eine Versammlung von Neubekehrten. Sehen wir uns Apg 11,19-21 an:

Die ´Christen`, die sich in der Verfolgungszeit nach dem Tod des Stephanus ´über ganz Judäa und Samarien hin` zerstreut hatten, zogen ´zum Teil` noch weiter und kamen bis nach Phönizien und Zypern und bis nach Antiochia, aber sie machten die Botschaft Gottes nach wie vor ausschließlich unter Juden bekannt. Doch einige von ihnen – Männer von Zypern und aus der Gegend von Zyrene – wandten sich, als sie nach Antiochia kamen, auch an die nichtjüdischen Einwohner der Stadt und verkündeten ihnen das Evangelium von Jesus, dem Herrn. Und Gott wirkte so mächtig durch sie, dass eine große Zahl ´Nichtjuden ihrer Botschaft` glaubte und sich dem Herrn zuwandte.

Die erste Gemeinde in Europa befand sich in Philippi. Auch sie wurde gegründet und wuchs aufgrund der Umkehr von Menschen zum Evangelium:

Am Sabbat gingen wir vor das Stadttor an den Fluss, wo wir eine jüdische Gebetsstätte vermuteten und dann auch tatsächlich einige Frauen antrafen, die sich dort versammelt hatten. Wir setzten uns zu ihnen und begannen mit ihnen zu reden. Eine dieser Frauen – sie hieß Lydia – war eine Purpurhändlerin aus Thyatira, die an den Gott Israels glaubte. Während sie uns zuhörte, öffnete ihr der Herr das Herz, so dass sie das, was Paulus sagte, bereitwillig aufnahm. (Apg 16,13-14)

So wurde die Gemeinde in Philippi geboren, die im Mittelpunkt des bedeutenden Briefes Paulus’ an die Philipper steht.

Die Gemeinden in Jerusalem, Antiochien und Philippi wurden alle auf der Basis von Bekehrungen ungläubiger Juden und Heiden zur Erlösung durch Jesus Christus gegründet. Was können wir aus diesen Berichten lernen? Wir sehen, dass Wachstum durch Bekehrungen ein Geschenk Gottes ist. Wenn Menschen zum Glauben an Jesus Christus kommen, dann geschieht dies durch das Wirken des Heiligen Geistes im Leben der Zuhörenden. In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth bringt Paulus diese Wahrheit auf den Punkt, indem er schreibt: „Auf wen kommt es denn nun an? Doch nicht auf den, der pflanzt, oder auf den, der begießt, sondern auf den, der das Wachstum schenkt, auf Gott.“ (1Kor 3,7). Gott betraut einen menschlichen Boten mit der Botschaft des Evangeliums, um Menschen zur Umkehr zu führen.

Was im neutestamentlichen Zeitalter die Regel war, gilt in der heutigen Gemeindegründungspraxis eher als Besonderheit. Warum?

Fünf Hindernisse für bekehrungsbasierte Gemeindegründungen

Nach meiner Erfahrung gibt es fünf Gründe, warum wir die Bekehrung von Menschen zu Christus nicht als Anlass für die Gründung neuer Kirchen ansehen. Schauen wir uns jeden einzelnen an.

1 Die Menschen, die wir zu erreichen versuchen, sind bereits zu Jüngern gemacht worden

Das Denken und Verhalten derer, die wir zu erreichen versuchen, ist bereits durch die umgebende Kultur geprägt. In unserem Kontext in Europa bedeutet dies die Befreiung vom Zwang der Religion zur Wahl nach persönlichen Vorlieben. Das Nützliche, also alles was für mich nach Maßgabe meines aufgeklärten Verstandes am besten funktioniert, ist Trumpf. Im Allgemeinen führt dies zu einer Art wohlwollendem Narzissmus: dem Streben, ein freundlicher Mensch zu sein, dessen wahres Interesse aber in der Selbstentfaltung liegt. Die absolute Wahrheit ist ein Allheilmittel, das ins Mittelalter verbannt wurde, als die Kirche darüber noch als einzige die Verfügungsgewalt hatte.

Heute gibt es viele Wahrheiten, die auf persönlichen Vorlieben beruhen. Die Wahrheit ist also zur Privatsache geworden. Wir sind zum Einkaufen unterwegs in einem „zusammengewürfelten Markt des Wissens“. So bezeichnet der Soziologe Bryan Wilson dieses Phänomen.3 Die größte Sünde in der säkularen europäischen Kultur ist Intoleranz: zu wagen, einer anderen Person zu sagen, dass es falsch sein könnte, an ihrer Auffassung von „Wahrheit“ festzuhalten.

Auch weltliche Menschen leben eine Form von Spiritualität (man muss sich nur die Beliebtheit von Ikonen wie Oprah Winfrey ansehen). Säkulare Spiritualität ist eine Art von individualisierter, konsumorientierter Spiritualität. Der Soziologe Christian Smith beschreibt sie als Moralistisch-Therapeutischen Deismus (MTD): „moralistisch“ = Gott will, dass ich ein guter Mensch bin und kein Idiot; „therapeutisch“ = Gott oder die Religion sollen mir helfen, mich gut zu fühlen; „Deismus“ = Gott ist ein Konzept, mit dem wir unser Leben schmücken, aber kein Akteur, der wirklich etwas tut.4

Wir leben in einer Zeit, in der die meisten Menschen glauben, dass sich das Leben auch gut ohne Gott leben lässt. Indem sie ihn vernachlässigen, verleihen sie ihrer Überzeugung Ausdruck, dass unsere eigene Wirkmacht und Agenda ausreicht, um die Menschheit zum Blühen zu bringen. Der Soziologe Adam Seligman hat den Begriff „Modernity’s Wager“ (Wette der Moderne) geprägt, um das Streben nach diesem guten Leben (dem gesegneten Leben) ohne Gott in seinen Grundlagen zu beschreiben.5 Der Kapitalismus wird zum Kontext, in dem das Selbst (das soziale Leben) bereichert wird,e ohne dass Gott die Quelle von Wohlstand und Güte ist.

2 Unsere Vorstellungskraft, was Gott alles tun kann, ist domestiziert worden

Die landläufig verbreitete Ansicht darüber, wie man Gemeinden gründet, spiegelt wider, dass Gott für viele von uns zu klein geworden ist. Traditionell werden Gemeinden von Start-up-Teams, einem Kernteam von Christen, gegründet. Das Start-up-Team ist gewöhnlich eine Gruppe von Glaubenden, die sich zusammengeschlossen haben, um sich gemeinsam auf die Reise zur Gründung einer neuen Gemeinde zu begeben. Ein Teil der Überlegungen, die das Team anstellt, betrifft die Dienstphilosophie der neuen Gemeinde, ihren strukturellen Aufbau, ihre Dienstfelder und die Art und Weise, wie es sich die Durchführung des Gottesdienstes vorstellt. Erst wenn die Gemeinde funktionsfähig und ihr Betrieb am Laufen ist, richtet man den Fokus darauf, zu evangelisieren und Menschen in Jüngerschaft zu führen. Ich glaube, das ist ein schwerwiegender Fehler.

Anstatt zuzulassen, dass das Neue Testament die Art und Weise beeinflusst, wie wir Gemeinden gründen, beugen wir uns dem Diktat gängiger Vorstellungen. Dass Gemeindegründung auf Bekehrung basierte, war im Leben der Urgemeinde die Norm. Aber das ist nach der heutigen Vorstellung von Gemeindegründung selten der Fall.

Stell dir einen Zirkuselefanten vor. Schon in sehr jungem Alter wird er an einen Pfahl im Boden gekettet. So sehr das kleine Geschöpf es auch versucht, es ist der Macht des Pfahls und der Kette nicht gewachsen. Je älter der Elefant wird, desto stärker wird er. Doch obwohl er nun physisch leicht in der Lage wäre, sich aus der Beengung durch den Pfahl zu befreien, schafft er es trotzdem nicht, denn er ist domestiziert worden. Er wurde dazu abgerichtet zu glauben, dass die Kette und der Pfahl für immer sein Leben beherrschen werden. Und genau das tritt ein.

Auch uns wurde eingetrichtert, dass es nur einen Weg gibt, Gemeinde zu gründen, und dass dieser Weg darin besteht, sie zu organisieren, anstatt von Gott zu erwarten, dass er sie mit seinem Geist erfüllt. Wir sind zu einem Elefanten geworden, der an einen Pfahl gekettet ist und nicht begreifen kann, dass Gott einen besseren Weg haben könnte.

3 Uns fehlen Vorbilder für bekehrungsbasierte Gemeindegründung

Hast du jemals eine Gemeinde erlebt, die mit Neubekehrten gegründet wurde, oder warst du sogar Teil von einer? Die meisten von uns haben Derartiges weder von außen beobachtet, noch waren wir Teil einer solchen bekehrungsbasierten Gemeindegründung. In Deutschland sehen wir erste Hoffnungsschimmer.

Der Startschuss für die Freie evangelische Gemeinde im norddeutschen Lüneburg war eine Welle von Bekehrungen. Vor etwa dreißig Jahren fand in der Stadt eine Zeltevangelisation statt. Der Heilige Geist wirkte auf mächtige Weise. Die Ernte war so überwältigend, dass der hauptamtliche Evangelist seinen Dienst aufgab und zum Gemeindegründer wurde. Die Gemeinde gedieh und gründete eine Tochtergemeinde, behielt dabei aber weiterhin ihren Fokus auf Evangelisation.

Durch Gottes überwältigende Gnade sahen meine Frau Jan und ich, wie vor unseren Augen dasselbe in der Gemeinde geschah, die wir in Mannheim gegründet hatten. In sieben Jahren verzeichnete diese evangelische Freikirche eine Bekehrungsrate von sechzig Prozent! Evangelisation war immer der Ruf in unseren Gebeten, das Wort auf unseren Lippen, das Schuhwerk unserer Füße und die Richtung unserer Schritte. Und der Herr segnete uns reichlich.

In Berlin haben Marcus Rose und seine Organisation „Hoffnung Deutschland“ hunderte auf Bekehrung basierende Hausgemeinden gegründet – die meisten von ihnen in städtischen Gebieten, die in ihrer Demografie Berlin ähneln. Marcus und seine Mitarbeitenden gehen in Bars und Nachtclubs, erzählen den Gästen das Evangelium und erleben immer wieder, wie einige von ihnen zum Glauben an Christus kommen.

Was sie als nächstes tun, ist brillant. Statt die von neuem geborenen Menschen aus ihrem Kontext (Bars und Clubs) herauszureißen und sie an einen anderen Ort zu verpflanzen, lassen Marcus und seine Freunde sie dort, wo sie sie ursprünglich angetroffen haben. Neue Hausgemeinden werden in einer durch und durch säkularen Umgebung geboren und die Leute, die zum Glauben kommen, werden begleitet, damit sie in diesen Kontexten in Christus wachsen können. Mittlerweile finden sich in vielen ihrer neugegründeten Gemeinden mehr Menschen, die noch keine Christen sind, als Nachfolger Jesu.

Kürzlich wurde in Stockerau (Österreich), einer Kleinstadt mit 15.000 Einwohnern, mit Hilfe eines Kurses namens MyLife-Workshop eine neue Gemeinde gegründet. Der Kurs wurde in einer Lokalzeitung beworben. Zur großen Überraschung der Handvoll Christen, die für ihn warben, meldeten sich völlig Fremde aus Stockerau an, die gar keine Christen waren. Diese Menschen kamen zum Glauben und eine Kleingruppe wurde gegründet. Die Keimzelle wuchs und eine neue Gemeinde wurde geboren.

Wohin wenden wir uns normalerweise, um eine Vorstellung von bekehrungsbasierter Gemeindegründung zu gewinnen? Wir reisen nach Afrika, Asien und Südamerika. Wir steigen ins Flugzeug, tauchen in andere Kulturen ein und sehen uns viele Orte auf anderen Kontinenten an, an denen sich Gottes Wirken auf großartige Weise manifestiert. Und genau darin liegt das Problem. Es scheint so, als müssten wir uns außerhalb unseres Kontinents begeben, um Zeuge einer bedeutenden Bewegung von Gottes Geist zu werden.

Nichtsdestotrotz – was wir so schmerzlich vermissen, können wir erleben. Was hält deine Gemeinde und die Gemeinden in deiner Stadt davon ab, das nächste Vorbild für bekehrungsbasierte Gemeindegründung zu werden? Wir sollten selbst zu dem lebendigen Beispiel werden, das unsere Gesellschaft braucht. Wir müssen anderen zeigen, dass bekehrungsbasierte Gemeindegründung tatsächlich möglich ist – sogar dort, wo wir leben!

4 Unser Ansatz für Gemeindegründung ist eher pastoral, obwohl er missional sein sollte

Die meisten Menschen, die Gemeinden gründen, haben eine Hirtengabe. Sie werden nur gelegentlich missionarisch aktiv. Was wir aber brauchen, sind Personen mit einer Gabe der Mission, die von Zeit zu Zeit pastoral tätig werden. Kein Wunder: Das Phänomen, dass Pastorinnen und Pastoren oft auch als Gemeindegründer fungieren, ist nachvollziehbar. In den meisten Fällen werden wir von einer Professorenschaft ausgebildet, die eine ­ausgeprägte Gabe für das Lehren haben, denn Menschen mit einer apostolischen und evangelistischen Gabe wählen nur sehr selten ­pädagogische Berufe. Warum nicht? Weil Personen mit diesen Gaben meist nicht die Geduld haben, die es braucht, um zu unterrichten. Sie stehen lieber selbst an vorderster Linie, anstatt Arbeiten zu benoten und darüber zu sprechen, wie es ist, auf dem Missionsfeld zu sein.

Der pastorale Ansatz, der sich oftmals mit der theologischen Ausbildung verbindet, ist in unsere Vorstellung von Gemeindegründung eingesickert. Daher neigt eine Pastorin oder ein Pastor, die oder der Gemeinden gründet, möglicherweise dazu, einen großen Teil ihrer bzw. seiner Zeit am Schreibtisch zu verbringen. Denn so wurde es gelehrt: sich gut vorzubereiten, die Schafe zu weiden und das Studium des Wortes Gottes nicht zu vernachlässigen. Das Problem daran ist, dass dieser Ansatz – so nachvollziehbar er auch sein mag – oft dazu führt, dass wir uns auf die Erlösten konzentrieren, statt die Verlorenen zu suchen.

5 Unser mangelnder Glaube an das, was Gott tun will, hält uns davon ab, bekehrungsbasierte Gemeindegründung zu erleben

Das ist möglicherweise die schwerwiegendste der fünf Ursachen, warum wir keine Gemeindegründungen aufgrund von Bekehrungen erleben: Wir strecken uns gar nicht danach aus! Wir suchen nicht danach, weil wir nicht von Gott erwarten, dass er es tut. Doch der Herr liebt großen, beharrlichen, kühnen Glauben.

Was ist der Unterschied zwischen großem und kleinem Glauben?

Großer Glaube bedeutet, auch dann mit Gottes Eingreifen zu rechnen, wenn es um das geht, was jenseits unserer menschlichen Möglichkeiten und unserer Fähigkeit liegt. Kleinglaube dagegen lässt uns Gott nur für das vertrauen, was wir gewöhnlich durch menschliche Anstrengung selbst bewerkstelligen können, und reduziert Gemeindegründung auf das, was wir zu tun vermögen. Wenn wir die Sache selbst erledigen können, gibt es wenig Grund für viel Glauben. Großer Glaube zeigt sich darin, dass wir offensiv beten und Gott schon für die Wunder der Wiedergeburt danken, bevor sie geschehen. Kleinglaube dagegen offenbart sich im defensiven Gebet: „Herr, beschütze uns, sei mit uns, bewahre uns, heile uns, hilf uns …“.

Wenn wir an die bahnbrechende Bewegung der Reformation im sechzehnten Jahrhundert denken, haben wir Martin Luther vor Augen. Was viele nicht wissen, ist, dass Luther sich auf die geistigen Fähigkeiten seines jüngeren Freundes Philip Melanchton stützte. Auf die Frage, wie er sich den Apostel Paulus vorstelle, antwortete Luther einmal: „Ich glaube, er war ein dünner Hering wie Melanchton.“ Dennoch wusste Luther, dass er ohne Melanchton an seiner Seite das Werk Christi nicht vorantreiben konnte.

Im Juni 1540 wurde Melanchton durch ein Fieber außer Gefecht gesetzt und er lag sterbend in Weimar. Luther eilte zu seinem Bett. Die Ärzte hatten Melanchton dem drohenden Tod überlassen. Luther war entsetzt. Als er seinen Freund in seinem Elend sah, fiel Luther eine Stunde lang betend auf die Knie und erklärte Gott, dass Melanchton nicht sterben könne, weil er ihn brauche. Gott erhörte Luthers inständiges Gebet und heilte Melanchton, sodass er sogar länger lebte als Luther selbst. So sieht großer Glaube aus – selbst im Angesicht einer drohenden Katastrophe.

Ich denke, du stimmst mir zu, dass sich Kleinglaube in vielen Gebeten äußert, die sich mehr um uns drehen als um Gott und seine Möglichkeiten.

Bei der Gemeindegründung verhält es sich wie mit der Schöpfung. Gott hat unsere Welt zweimal erschaffen. Die erste Schöpfung war das blühende Bild in Gottes Gedanken, wie die vollends erschaffene Welt aussehen würde – sein eigener Traum, seine Vision. Die zweite Schöpfung geschah, als Gott sprach, „und es ward …“. Gemeinden werden immer zweimal gegründet: zuerst in den Herzen der Gemeindegründer und dann im Sichtbaren.

Vision entsteht dort, wo Dinge in Bewegung kommen. Wir müssen lernen, gemäß unserer Vision von Gemeindegründung durch Bekehrung zu beten, statt unseren Blick auf das zu richten, was immer schon war.

Wege zu bekehrungsbasierter Gemeindegründung

All dies bringt uns zu der entscheidenden Frage: Wie können wir zu Gemeindegründern werden, die bekehrungsbasierte Gemeinden gründen? Erlaube mir, drei Wege vorzuschlagen: sehen, in Beziehung stehen und Kontakt herstellen.

1 Sehen: Die Zukunft mit Gottes Augen sehen und „JA!“ dazu sagen

Der Verfasser des Hebräerbriefs schreibt: „Und ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen. […] dass er die belohnt, die ihn aufrichtig suchen“ (Hebr 11,6). Jesus führte seine Jünger in die Erntefelder und erzählte ihnen, dass die Ernte groß sei (Mt 9,35-38). Warum tat er das? Weil seine Jünger (darunter auch wir heute) keine Vision von der Ernte hatten. Die Zukunft des Abenteuers Gemeindegründung liegt in der kommenden Ernte. Glaube sieht die Ernte, bevor sie in den Kornspeichern liegt. Glaube trotzt den momentanen Umständen und vertraut Gott, dass die Dinge künftig so sein werden, wie sie sein sollen. In den Augen Gottes ist die Zukunft voller neugeborener Christen. Sehen wir, was er sieht? Das zu sehen, was Gott sieht, und ihm dafür zu danken, noch bevor wir die Ernte einbringen, nennt man Glaube. Und Glaube beruht auf Hoffnung.

„Er (der Glaube) ist ein Rechnen mit der Erfüllung dessen, worauf man hofft, ein Überzeugtsein von der Wirklichkeit unsichtbarer Dinge“ (Hebr 11,1). Im Englischen stammt der Begriff „Hoffnung“ (hope) von der alten Wortwurzel „hoppen“ ab. „Hoppen“ (hüpfen) bedeutet, vor Freude zu springen in der Erwartung dessen, was geschehen wird. Springen wir vor Freude im Glauben und der Erwartung dessen, was er hervorbringen wird: eine reiche Ernte?

2 In Beziehung stehen: Christus sein für andere

So vieles im Leben Jesu war auf Beziehungen ausgerichtet. Er verbrachte viel Zeit mit seinen Jüngern – und mit den Sündern. Er lehrte uns, wie wir zu seinen Zeugen werden und andere in Jüngerschaft führen können. Der Mörtel zwischen den Steinen eines stabilen Gemeindebaus sind gesunde Beziehungen.

Ich ermutige jede Leiterin und jeden Leiter eines Gemeindegründungsprojekts dazu, sich erst einmal darauf zu konzentrieren, zu mindestens fünfzig Nichtchristen eine Beziehung aufzubauen, bevor sie überhaupt daran denkt, einen organisierten Gottesdienst abzuhalten. Wir müssen lernen, den Menschen unsere Zeit zu schenken. Aber was tun wir in der Zeit, die wir ihnen schenken? Drei Dinge: wir hören zu (Zuhören ist die Sprache der Liebe, die Menschen in unserer Zeit verstehen); wir verstehen (worin ihre Ziele, Sehnsüchte, Enttäuschungen, Hoffnungen, Ängste bestehen); wir versetzen uns in sie hinein („Ich habe diese Gefühle auch.“).

Als Gemeindegründer lassen wir die verlorenen Menschen wissen, dass wir ihre Hilfe brauchen. Unser Ziel ist es, für eine Gruppe von Menschen eine Gemeinde zu gründen. Also gehen wir zu diesen Menschen und suchen ihre Hilfe und bitten um ihre Meinung: „Was sind eure Träume? Was macht euch wütend? Was macht ihr in eurer Freizeit? Wie sieht für euch ein gutes Leben aus? Was sind für euch die Dinge, für die es sich zu sterben lohnt? Was lest ihr? Wenn ihr Gott nur eine Frage stellen könntet, welche wäre das?“

Bevor wir uns mitteilen, müssen wir den anderen verstehen. Und um verstehen zu können, müssen wir zuerst einmal zuhören. Wenn wir zuhören und verstehen, gewinnen wir wertvolle Einblicke in das Leben der Menschen, die wir erreichen wollen. Die Zeit, die wir uns nehmen, um von ihnen zu lernen, kann zu kostbaren Momenten werden, in denen sich unsere Herzen miteinander verbinden und wir uns näherkommen.

3 Kontakt herstellen: Unseren Freunden außerhalb der Kirche auf bedeutungsvolle Weise das Evangelium bringen

Einige Gemeindegründer können sehr gut mit Nichtchristen umgehen, aber das ist auch alles. Sie laden ihre nichtchristlichen Freunde nicht ein, den nächsten Schritt zu tun, der sie normalerweise zu einem Leben mit Christus führen würde. Wir müssen Gelegenheiten schaffen, die es den Menschen ermöglichen, nicht nur mit uns, sondern auch mit dem lebendigen Gott in Verbindung zu treten.

Wir verwenden dazu gern eine Ressource namens MyLife-Workshop. Er richtet sich an Menschen, die keine christliche Erziehung genossen oder wenig Interesse am Christentum haben (mehr dazu in Kapitel 3). Der Workshop setzt bei der Tendenz von Nicht-Christen an, sich viel um die eigene Person zu drehen. In den meisten Fällen lieben die Menschen sich selbst und reden lieber über sich als über irgendwelche Theorien.

Zum großen Teil laufen unsere Bemühungen zur Gemeindegründung auf nichts anderes hinaus als einen „Transfer der Heiligen“. Es findet kein Wachstum statt, wie es das Neue Testament beschreibt. Wir brauchen dringend, dass der Herr der Ernte selbst in die Felder tritt und Menschen, die gerettet werden, zu der Zahl der Erlösten hinzufügt. Das Lydia-Modell für Gemeindegründung basiert auf Bekehrung. Weil wir dieses Wissen über die Urgemeinden haben, dürfen auch wir es jetzt im Geist ergreifen und Gott vertrauen, dass er sein Erlösungswerk tun wird, wenn wir mit ihm zusammenarbeiten. Dann werden wir sehen, wie sein Reich im Leben von Menschen anbricht und sie von ihm auf neuen Wegen geleitet werden, Gemeinden zu gründen.

? Fragen zur Diskussion

• Stell dir vor, du als Gemeindegründerin oder Gemeinde­gründer wärst der Zirkuselefant, den ich vorhin in diesem Kapitel beschrieben habe. Welche Faktoren würdest du als Hindernisse identifizieren, die dich wie eine Kette davon abhalten, auf Bekehrung basierende Gemeindemultiplikation ­anzustreben?

• Womit müsstest du anfangen und womit solltest du lieber aufhören, um Früchte der Ernte zu sehen?

• Inwiefern würde die Perspektive von einer bekehrungs­basierten Gemeindemultiplikation deine Gebete verändern?

1 Frei übersetzt nach E. Stanley Jones, The Christ of Every Road (New York: Abingdon Press, 1930), 248.

2 Das erinnert mich an die geflügelten Worte des Vineyard-Gründers John Wimber, der einmal gesagt hat: „Man kann mit den Prinzipien für Gemeindewachstum auch eine Tankstelle eröffnen“.

3 Bryan R. Wilson, Religion in Secular Society (Baltimore: Penguin Books, 1969), 106.

4 Frei übersetzt nach Andrew Root, Faith Formation in a Secular Age: Responding to the Church’s Obsession with Youthfulness (Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2017), xvi.

5 Für eine ausführliche Diskussion siehe Adam Seligman, Modernity‘s Wager (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2000).

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