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KAPITEL 2 DIE IDEE, GENAUER HINZUSEHEN

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BAKTERIEN SIND ÜBERALL, aber was unser bloßes Auge betrifft, könnten sie ebenso gut nirgendwo sein. Es gibt nur ein paar außergewöhnliche Ausnahmen: Epulopiscium fishelsoni, ein Bakterium, das ausschließlich im Darm des Goldtupfen-Doktorfisches lebt, ist ungefähr so groß wie der Punkt am Ende dieses Satzes. Alle anderen kann man ohne Hilfsmittel nicht sehen, das heißt, sehr lange sah man sie überhaupt nicht. In unserem imaginären Kalender, der die Erdgeschichte in einem Jahr zusammendrängt, tauchten Bakterien erstmals Mitte März auf. Praktisch während ihrer gesamten Lebenszeit war nichts und niemand sich ihrer Existenz bewusst. Ihr anonymes Leben endete erst wenige Sekunden vor dem Jahresende, als ein neugieriger Niederländer auf die schrullige Idee kam, einen Tropfen Wasser durch selbst gefertigte Linsen von Weltklassequalität zu betrachten.

Antoni van Leeuwenhoek wurde 1632 in Delft geboren, einer pulsierenden Drehscheibe des Auslandshandels, die von Kanälen, Bäumen und Wegen mit Kopfsteinpflaster durchzogen war.1 Tagsüber arbeitete er als städtischer Beamter und führte ein kleines Kurzwarengeschäft. Nachts stellte er Linsen her. Zeit und Ort waren dafür günstig: Die Niederländer hatten kurz zuvor sowohl das zusammengesetzte Mikroskop als auch das Teleskop erfunden. Jetzt konnten Wissenschaftler durch kleine runde Glasstücke auch Gegenstände sehen, die viel zu klein waren, als dass man sie mit bloßem Auge hätte erkennen können. Einer von ihnen war der britische Universalgelehrte Robert Hooke. Er richtete den Blick auf alle möglichen winzigen Dinge: Flöhe, Läuse, die sich an Haare klammerten, Nadelspitzen, Pfauenfedern, Hanfsamen. Seine Beobachtungen veröffentlichte er 1665 in einem Buch mit dem Titel Micrographia, das auch großartige, außerordentlich detaillierte Abbildungen enthielt. Es wurde in Großbritannien sofort zum Bestseller. Kleine Dinge hatten ihre große Zeit.

Leeuwenhoek hatte im Gegensatz zu Hooke nie eine Universität besucht. Er war kein ausgebildeter Wissenschaftler und sprach nicht die lateinische Gelehrtensprache, sondern nur Niederländisch. Allerdings brachte er sich selbst bei, Linsen herzustellen, und das mit einer Geschicklichkeit, an die kein anderer heranreichte. Die Einzelheiten seiner Methoden kennen wir nicht, aber grob gesagt, schliff er einen Glasklumpen zu einer glatten, vollkommen symmetrischen Linse mit einem Durchmesser von weniger als zwei Millimetern. Diese brachte er zwischen zwei Rechtecken aus Messing an. Anschließend befestigte er einen Gegenstand mit einer winzigen Nadel vor der Linse und stellte ihre Position mit einigen Schrauben richtig ein. Das so entstandene Mikroskop sah aus wie ein besseres Türscharnier und war kaum mehr als ein einstellbares Vergrößerungsglas. Um damit etwas zu sehen, musste Leeuwenhoek es so halten, dass es nahezu sein Gesicht berührte, und dann am besten im hellen Sonnenlicht durch die winzige Linse schielen. Solche Einzellinsen-Mikroskope waren viel anstrengender für die Augen als die zusammengesetzten Mikroskope mit ihren vielen Linsen, für die Hooke sich starkgemacht hatte, aber sie lieferten bei stärkerer Vergrößerung ein besseres Bild. Hookes Instrumente vergrößerten Objekte um das 20- bis 50-Fache; die von Leeuwenhoek ermöglichten eine bis zu 270-fache Vergrößerung. Zu jener Zeit waren sie die besten Mikroskope der Welt.

Aber Leeuwenhoek war, wie Alma Smith Payne in The Cleere Observer feststellt, »mehr als ein guter Mikroskophersteller«. Er war »auch ein ausgezeichneter Mikroskopiker – ein Mikroskopbenutzer«. Leeuwenhoek hielt alles fest. Er wiederholte seine Beobachtungen. Er stellte systematisch Experimente an. Obwohl er Amateur war, hatte er die wissenschaftliche Methode instinktiv verinnerlicht – und ebenso besaß er die unstillbare Neugier eines Wissenschaftlers. Durch seine Linsen betrachtete er Tierhaare, Fliegenköpfe, Holz, Samen, Walmuskeln, Hautschuppen und Ochsenaugen. Und zeigte die Wunder, die er sah, Freunden, Angehörigen und den Gelehrten von Delft.

Einer dieser Gelehrten, der Arzt Regnier de Graaf, war Mitglied der Royal Society, der kurz zuvor gegründeten, angesehenen wissenschaftlichen Gesellschaft mit Sitz in London. Er empfahl Leeuwenhoek, dessen Mikroskope »bei Weitem alles übertreffen, was wir bisher gesehen haben«, seinen gelehrten Kollegen und beschwor sie, mit dem Niederländer in Kontakt zu treten. Henry Oldenburg, der Sekretär der Gesellschaft und Herausgeber ihrer führenden Zeitschrift, tat es. Am Ende übersetzte und veröffentlichte er mehrere entwaffnend weitschweifige, informelle Briefe, in denen der Außenseiter Leeuwenhoek rote Blutkörperchen, Pflanzengewebe und den Darm von Läusen mit beispielloser Detailtreue und Sorgfalt beschrieb.

Als Nächstes sah sich Leeuwenhoek Wasser an, und zwar insbesondere Wasser aus dem Berkelse Mere, einem See in der Nähe von Delft. Er saugte ein wenig von der trüben Flüssigkeit in eine Glaspipette, und als er sie anschließend im Mikroskop betrachtete, sah er, dass es in dem Wasser von Leben wimmelte: »kleine grüne Wolken« aus Algen, außerdem Tausende winzige, tanzende Geschöpfe.2 »Die Bewegung der meisten dieser Tierlein im Wasser war so schnell und so verschieden aufwärts, abwärts und rundherum, dass es wundervoll zu sehen war«, schrieb er, »und nach meinem Urteil sind manche dieser kleinen Geschöpfe ungefähr tausendmal kleiner als die kleinsten, die ich jemals auf der Rinde von Käse gesehen habe.«3 Es waren Protozoen – Organismen einer vielgestaltigen Gruppe, zu der unter anderem die Amöben und andere einzellige Eukaryonten gehören. Leeuwenhoek war der erste Mensch, der sie jemals zu Gesicht bekam.4

Im Jahr 1675 richtete Leeuwenhoek seine Linsen auf Regenwasser, das sich in einem blauen Topf vor seinem Haus gesammelt hatte. Auch hier tauchte eine wunderbare Tierwelt auf. Er sah schlangenähnliche Gebilde, die sich auf- und abwickelten, und ovale Lebewesen, »welche mit vielfältigen, winzigen Füßen ausgestattet sind« – weitere Protozoen. Außerdem sah er Exemplare aus einer noch kleineren Klasse von Lebewesen; sie waren tausendmal kleiner als das Auge einer Laus und »drehten sich mit einer Schnelligkeit, als würden wir einem Kreisel bei seiner Bewegung zusehen« – Bakterien! Er untersuchte weiteres Wasser aus seinem Studierzimmer, von seinem Dach, aus den Kanälen von Delft, aus dem nahe gelegenen Meer und aus dem Brunnen in seinem Garten. Die kleinen »Tierlein« waren überall. Wie sich herausstellte, existierten Lebewesen in unvorstellbarer Zahl unterhalb der Grenze unserer Wahrnehmung – sichtbar waren sie nur für diesen einen Mann mit seinen überragenden Linsen. Später schrieb der Historiker Douglas Anderson: »Nahezu alles, was er sah, sah er als allererster Mensch überhaupt.« Aber vor allem: Warum sah er sich überhaupt das Wasser an? Was um alles in der Welt trieb diesen Mann an, den Regen zu untersuchen, den er in einem Topf gesammelt hatte? Ähnliches könnte man sich bei vielen Menschen aus der gesamten Geschichte der Mikrobiomforschung fragen: Sie waren diejenigen, die die Idee hatten, genauer hinzusehen.

Im Oktober 1676 berichtete Leeuwenhoek der Royal Society, was er gesehen hatte.5 Seine Schriften waren ganz anders als die muffigen wissenschaftlichen Abhandlungen in den Fachzeitschriften. Sie waren voller lokaler Tratschgeschichten und enthielten auch Berichte über Leeuwenhoeks Gesundheit. (»Der Mann hätte einen Blog gebraucht«, so Anderson.) Aus dem Brief vom Oktober erfahren wir beispielsweise, wie das Wetter in Delft in diesem Sommer gewesen war. Er enthält aber auch faszinierend detaillierte Berichte über die Tierlein. Sie seien »unglaublich klein, nein, aus meiner Sicht so klein, dass ich der Ansicht bin, dass selbst hundert dieser winzigen Tiere, die ausgestreckt hintereinander lägen, nicht die Länge eines groben Sandkorns erreichen würden; und wenn das wahr ist, kämen zehnmal hunderttausend dieser Lebewesen kaum der Masse eines groben Sandkorns gleich«. (Später stellte er fest, dass ein Sandkorn einen Durchmesser von ungefähr einem Dreißigstelmillimeter hat, das heißt, eines der »winzigen Tiere« wäre drei Mikrometer lang. Das ist mehr oder weniger die Größe eines durchschnittlichen Bakteriums. Der Mann war erstaunlich präzise.)

Angenommen, heute würde irgendjemand plötzlich verkünden, er habe eine Gruppe wundersamer, unsichtbarer Lebewesen beobachtet, die noch kein anderer jemals gesehen hat. Würden wir ihm glauben? Oldenburg hatte sicherlich seine Zweifel, wie auch bereits bei Leeuwenhoeks früheren Beschreibungen der »Tierlein«. Dennoch veröffentlichte er 1677 Leeuwenhoeks Brief – »ein außerordentliches Denkmal für die aufgeschlossene Skepsis der Wissenschaft«, wie Nick Lane es nennt. Allerdings fügte Oldenburg eine warnende Notiz hinzu: Er erklärte, die Gesellschaft wolle Leeuwenhoeks Methoden im Einzelnen kennenlernen, damit auch andere seine unerwarteten Beobachtungen bestätigen konnten. Aber Leeuwenhoek kooperierte nicht so recht. Seine Technik zur Herstellung von Linsen war ein gut gehütetes Geheimnis. Statt es preiszugeben, zeigte er die Tierlein einem Notar, einem Rechtsanwalt, einem Arzt und anderen gut beleumundeten Herren, die daraufhin der Royal Society berichteten, er könne tatsächlich sehen, was er zu sehen behauptete. Gleichzeitig bemühten sich andere Mikroskopiker darum, Leeuwenhoeks Arbeiten nachzuvollziehen – und scheiterten. Selbst der große Hooke hatte anfangs zu kämpfen, und der Erfolg stellte sich erst ein, als er zu den verhassten Einzellinsen-Mikroskopen wechselte. Sein Erfolg bestätigte Leeuwenhoek und festigte den Ruf des Niederländers. Im Jahr 1680 wurde der ungebildete Textilkaufmann zum Mitglied der Royal Society ernannt. Und da er weder Latein noch Englisch lesen konnte, erklärte sich die Gesellschaft bereit, ihm die Mitgliedsurkunde auf Niederländisch auszustellen.

Nachdem Leeuwenhoek als erster Mensch überhaupt Mikroorganismen gesehen hatte, sah er nun auch als erster seine eigenen. Im Jahr 1683 fielen ihm zwischen seinen Zähnen weiße, teigige Beläge auf, und wie es seine Gewohnheit war, betrachtete er sie durch seine Linsen. Das Ergebnis? Weitere Lebewesen »in sehr hübscher Bewegung«! Da gab es lange, torpedoförmige Stäbchen, die »wie ein Hecht« durch das Wasser schossen, in dem er seinen Zahnbelag gelöst hatte, und kleinere, die sich drehten wie ein Kreisel. »Alle Menschen, welche in unseren Vereinigten Niederlanden leben, sind nicht so zahlreich wie die lebenden Tiere, die ich genau an diesem Tag in meinem eigenen Mund mit mir herumtrage«, berichtete er. Er zeichnete die Mikroben und schuf damit ein einfaches Bild, das die Mona Lisa der Mikrobiologie wurde. Außerdem studierte er sie in den Mündern anderer Bürger aus Delft: von zwei Frauen, einem achtjährigen Kind und einem alten Mann, der sich angeblich nie die Zähne geputzt hatte. Er setzte den Proben, die er bei sich selbst abgekratzt hatte, sogar Essig zu und beobachtete, wie die Tierlein starben – der erste Bericht über Desinfektion.

Als Leeuwenhoek 1723 im Alter von neunzig Jahren starb, war er zu einem der berühmtesten Mitglieder der Royal Society geworden. Er hinterließ der Gesellschaft ein schwarzes, lackiertes Kästchen, in dem sechsundzwanzig seiner verblüffenden Mikroskope einschließlich der montierten Objekte lagen. Bizarrerweise verschwand die Kiste und tauchte nie wieder auf – ein umso tragischerer Verlust, als Leeuwenhoek niemandem je genau erklärt hatte, wie er seine Instrumente herstellte. In einem Brief beschwerte er sich, die Studenten interessierten sich mehr für Geld oder Ruhm als dafür, »Dinge zu entdecken, welche unseren Blicken verborgen sind«. »Nicht einer unter tausend Männern ist zu solchen Studien in der Lage, denn sie benötigen viel Zeit und man muss viel Geld aufwenden«, klagte er. »Und vor allem sind die meisten Männer nicht neugierig, es zu wissen: Nein, manche zögern nicht einmal zu sagen: Was spielt es schon für eine Rolle, ob ich es weiß oder nicht?«6

Seine Einstellung wäre fast der Tod seines Erbes gewesen. Als andere durch ihre minderwertigen Mikroskope blickten, sahen sie nichts, oder nichts als Produkte ihrer Einbildung. Das Interesse schwand. Als Carl von Linné in den 1730er-Jahren begann, alle Lebensformen zu klassifizieren, fasste er sämtliche Mikroorganismen zu der Gattung Chaos (was so viel wie »formlos«) und dem Stamm Vermes (»Würmer«) zusammen. Nachdem man die Welt der Mikroorganismen entdeckt hatte, sollten noch eineinhalb Jahrhunderte vergehen, bevor man sich daranmachte, sie ernsthaft zu erforschen.

Heute werden Mikroorganismen so häufig mit Schmutz und Krankheit in Verbindung gebracht, dass die meisten Menschen wahrscheinlich angeekelt zurückschrecken würden, wenn man ihnen zeigte, welche Vielfalt allein in ihrem Mund zu Hause ist. Leeuwenhoek hegte diese Abscheu nicht. Tausende von winzigen Dingen? In seinem Trinkwasser? In seinem Mund? Im Mund jedes Menschen? Wie aufregend! Wenn er den Verdacht hatte, dass sie Krankheiten verursachen können, brachte er es in seinen Schriften, in denen er so auffällig auf Spekulationen verzichtete, nicht zum Ausdruck. Andere Gelehrten waren weniger zurückhaltend. Der Wiener Arzt Marcus Plenciz behauptete 1762, mikroskopisch kleine Lebewesen könnten Krankheiten verursachen, weil sie sich im Körper vermehren und durch die Luft verbreiten. »Jede Krankheit hat ihren Organismus«, schrieb er weitsichtig. Leider hatte er für seine Behauptungen keine Belege, und deshalb konnte er auch andere nicht davon überzeugen, dass diese unbedeutenden Lebewesen eine Bedeutung haben. »Ich werde keine Zeit mit der Bemühung vergeuden, diese absurden Hypothesen zu widerlegen«, schrieb ein Kritiker.7

Das alles änderte sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch den anmaßenden und streitlustigen französischen Chemiker Louis Pasteur.8 Er konnte kurz hintereinander nachweisen, dass Bakterien verschiedene Flüssigkeiten sauer werden lassen und dafür sorgen, dass Fleisch verwest. Und wenn sie sowohl für die Gärung als auch für die Verwesung verantwortlich sind, so behauptete Pasteur, dann können sie auch Krankheiten hervorrufen. Diese »Keimtheorie« hatten auch Plenciz und andere bereits vertreten, sie war aber nach wie vor umstritten. Man glaubte eher, Krankheiten würden durch Miasmen hervorgerufen, schlechte Luft, die von verwesender Materie ausging. Pasteur bewies 1865 etwas anderes: Er entdeckte, dass zwei Krankheiten, an denen die Seidenraupen Frankreichs litten, von Mikroben ausgelöst wurden. Er isolierte die infizierten Eier, verhinderte so, dass die Krankheiten sich ausbreiteten, und rettete die Seidenindustrie.

Zur gleichen Zeit beschäftigte sich der Arzt Robert Koch in Deutschland mit einer Milzbrandepidemie, die das Vieh dahinraffte. Andere Wissenschaftler hatten im Gewebe der betroffenen Tiere bereits ein Bakterium namens Bacillus anthracis gesehen. Diese Mikroorganismen spritzte Koch 1876 einer Maus – woraufhin sie starb. Er gewann die Bakterien aus dem toten Nagetier und injizierte sie einem weiteren – das ebenfalls starb. Hartnäckig wiederholte er den grausigen Versuch über zwanzig Generationen hinweg, und jedes Mal geschah das Gleiche. Damit hatte Koch eindeutig gezeigt, dass das Bakterium den Milzbrand verursachte. Die Keimtheorie der Krankheiten stimmte.

Nun hatte man die Mikroorganismen endgültig wiederentdeckt, und sie wurden sofort in die Rolle der Todesboten gedrängt. Sie waren Keime, Pathogene, Überbringer von Seuchen. In den zwanzig Jahren, die auf die Arbeit mit dem Milzbrand folgten, hatten Koch und viele andere entdeckt, welche Bakterien hinter Lepra, Tripper, Typhus, Tuberkulose, Cholera, Diphtherie, Tetanus und Pest stehen. Wie für Leeuwenhoek, so ebneten auch hier neue Hilfsmittel den Weg: bessere Linsen, neue Methoden, um Mikroorganismen in Reinkulturen auf Platten mit gallertartigem Agar heranzuzüchten, und neue Färbemethoden, mit denen man Bakterien unter dem Mikroskop besser ausmachen und identifizieren konnte. Vom Identifizieren ging man sofort zum Eliminieren über. Von Pasteur angeregt, begann der britische Chirurg Joseph Lister, in seiner Praxis neue Methoden zum Keimfreimachen anzuwenden: Er zwang seine Mitarbeiter, Hände, Instrumente und Operationssäle chemisch zu desinfizieren, und bewahrte damit unzählige Patienten vor verheerenden Infektionen. Andere suchten nach Wegen, um Bakterien an ihrer Tätigkeit zu hindern und so Krankheiten zu heilen, die Hygiene zu verbessern und Nahrung haltbar zu machen. Die Bakteriologie wurde zu einer angewandten Wissenschaft: Man studierte Mikroorganismen, um sie abzuwehren oder zu zerstören.

Da war es auch nicht gerade hilfreich, dass ein gewisser Charles Darwin im Jahr 1859, nur kurz vor dieser Welle neuer Entdeckungen, sein Werk Die Entstehung der Arten veröffentlicht hatte. »Durch diesen historischen Zufall entwickelte sich die Keimtheorie der Krankheiten in der blutrünstigen Phase des Darwinismus: Man betrachtete das Wechselspiel zwischen den Lebewesen als Kampf ums Überleben, in dem man Freund oder Feind sein musste, ohne dass Pardon gegeben wurde«, schrieb der Mikrobiologe René Dubos.9 »Diese Einstellung prägte von Anfang an alle späteren Versuche, von Mikroorganismen verursachte Krankheiten unter Kontrolle zu bringen. Es führte zu einer Art aggressiven Kriegsführung gegen die Mikroorganismen mit dem Ziel, sie aus dem kranken Menschen und der Gemeinschaft zu entfernen.«

Diese Einstellung herrscht bis heute. Würde ich in eine Bibliothek gehen und ein Lehrbuch der Mikrobiologie aus dem Fenster werfen, könnte ich damit leicht einem Passanten eine Gehirnerschütterung zufügen. Würde ich dagegen alle Seiten herausreißen, auf denen von nützlichen Mikroorganismen die Rede ist, könnte ich damit höchstens jemandem einen dieser gemeinen Papierschnitte antun. Berichte über Krankheit und Tod beherrschen noch heute unsere Vorstellungen von Mikrobiologie.

Während die Keimtheoretiker im Rampenlicht standen und einen tödlichen Krankheitserreger nach dem anderen identifizierten, mühten sich andere Biologen im Hintergrund mit Arbeiten ab, welche die Mikroorganismen am Ende in einem völlig anderen Licht erscheinen ließen.

Einer der Ersten, die ihre globale Bedeutung nachwiesen, war der Niederländer Martinus Beijerinck. Der zurückgezogen lebende, abweisende und unbeliebte Wissenschaftler empfand keine Liebe für Menschen mit Ausnahme einiger enger Kollegen und auch keine Liebe zur medizinischen Mikrobiologie.10 Krankheiten interessierten ihn nicht. Er wollte Mikroorganismen in ihrem natürlichen Lebensraum studieren: in Boden, Wasser, Pflanzenwurzeln. Im Jahr 1888 fand er Bakterien, die der Luft den Stickstoff entziehen und ihn in Ammo niak verwandeln, den die Pflanzen nutzen können; später isolierte er Arten, die zur Bewegung des Schwefels durch Boden und Atmosphäre beitragen. Seine Arbeiten waren in Beijerincks Heimatstadt Delft – wo Leeuwenhoek schon zwei Jahrhunderte zuvor erstmals Bakterien zu Gesicht bekommen hatte – der Auftakt zu einer Neugeburt der Mikrobiologie. Die Mitglieder seiner neu gegründeten Delfter Schule und Geistesverwandte wie der Russe Sergei Winogradski bezeichneten sich selbst als mikrobielle Ökologen. Sie fanden heraus, dass Mikroorganismen nicht nur eine Gefahr für die Menschheit sind, sondern auch unverzichtbare Bestandteile der Welt.

Die Zeitungen jener Zeit sprachen plötzlich von »guten Keimen«, die den Boden mit Nährstoffen anreichern und dazu beitragen, alkoholische Getränke und Milchprodukte herzustellen. Einem Lehrbuch von 1910 zufolge waren die »schlechten Keime«, auf die sich alle konzentrierten, »ein kleiner, spezialisierter Nebenzweig im Reich der Bakterien, der, grob gesagt, eigentlich von untergeordneter Bedeutung ist«.11 Die meisten Bakterien, so hieß es dort, seien abbauende Organismen, die der Welt die Nährstoffe aus verwesendem organischem Material zurückgeben. »Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, ohne [sie] … würde alles Leben auf der Erde zwangsläufig zu Ende sein.«

Anderen Mikrobiologen wurde zur Zeit der Jahrhundertwende klar, dass viele Mikroorganismen sich die Körper der Tiere, Pflanzen und anderer sichtbarer Lebewesen teilen. Es stellte sich heraus, dass Flechten – die farbigen Flecken, die auf Wänden, Steinen, Baumrinde und Holzbalken wachsen – zusammengesetzte Lebewesen sind: Sie bestehen aus mikroskopisch kleinen Algen, die mit einem Pilz als Wirtsorganismus zusammenleben und im Austausch für Mineralstoffe und Wasser Nährstoffe liefern.12 Wie man außerdem bemerkte, enthalten die Zellen vieler Tiere wie Seeanemonen oder Plattwürmer ebenfalls Algen, in denen von Rossameisen sind dagegen lebende Bakterien zu Hause. Die Pilze, die an Baumwurzeln wachsen und die man lange für Parasiten hielt, erwiesen sich als Partner, die Stickstoff im Austausch gegen Kohlenhydrate bereitstellen.

Solche Partnerschaften wurden nun als Symbiose bezeichnet, ein Begriff, der von den griechischen Wörtern für »zusammen« und »Leben« kommt.13 Das Wort selbst war neutral und konnte jede Form der Koexistenz bezeichnen. Wenn ein Partner auf Kosten des anderen profitierte, war er ein Parasit (oder ein Krankheitserreger, wenn er eine Krankheit verursachte). Wenn er profitierte, ohne den Wirt zu schädigen, nannte man ihn einen Kommensalen. Nützte er dem Wirt, war er ein Mutualist. Alle diese Formen des gemeinsamen Daseins gehören in die Rubrik der Symbiose.

Solche Konzepte entwickelten sich zu einer unglücklichen Zeit. Im Schatten des Darwinismus sprachen die Biologen vom Überleben der Geeignetsten. Die Natur war rot an Zähnen und Klauen. Thomas Huxley, Darwins Bulldogge, hatte die Tierwelt mit einem »Gladiatorenkampf« verglichen. In diesem Rahmen von Konflikt und Konkurrenz nahm die Symbiose mit ihren Themen von Kooperation und Teamwork eine heikle Stellung ein. Auch zu der Idee, Mikroorganismen seien Bösewichte, passte sie nicht. In der Zeit nach Pasteur war ihre Anwesenheit zu einem Anzeichen von Krankheit geworden, und ihre Abwesenheit galt als definierendes Merkmal gesunden Gewebes. Als Friedrich Blochmann 1884 erstmals die Bakterien der Rossameisen sah, widersprach die Vorstellung von Mikroorganismen als harmlosen Mitbewohnern so stark der Intuition, dass er sprachliche Verrenkungen anstellte, um sie nicht als das beschreiben zu müssen, was sie waren.14 Er nannte sie »Plasmastäbchen« oder sprach von einer »sehr auffälligen faserigen Differenzierung des Eiplasmas«. Erst nach jahrelangen eingehenden Untersuchungen bekannte er endlich Farbe. Im Jahr 1887 schrieb er: »Ich glaube, dass man nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens kaum anders kann, als die Stäbchen für Bakterien zu erklären.«

Mittlerweile war anderen Wissenschaftlern aufgefallen, dass der Darm von Menschen und anderen Tieren ebenfalls eine Fülle symbiontischer Bakterien enthält. Sie rufen weder eine erkennbare Krankheit noch Verwesung hervor. Vielmehr sind sie einfach da – als »normale Darmflora«. »Mit der Entstehung der Tiere … war es unvermeidlich, dass Bakterien von Zeit zu Zeit in ihrem Körper in Gefangenschaft gerieten«, schrieb Arthur Isaac Kendall, ein Pionier der Erforschung von Darmbakterien.15 Der menschliche Körper ist demnach einfach ein weiterer Lebensraum, und Kendall hatte den Eindruck, dass die dort lebenden Mikroorganismen es verdienten, dass man sie nicht nur zerstörte oder unterdrückte, sondern auch studierte. Aber das war einfacher gesagt als getan. Schon damals war klar, dass unsere Mikroorganismen entmutigend große Lebensgemeinschaften bilden. Theodor Escherich, der Entdecker des Bakteriums E. coli, das zu einer Hauptstütze der Laborwissenschaft werden sollte, sagte einmal: »Es scheint eine sinnlose, zweifelhafte Übung zu sein, die offenbar zufällig auftretenden Bakterien in normalem Stuhl und im Verdauungstrakt zu untersuchen und zu entwirren, wo sie in einer Situation sind, die anscheinend von tausend Zufällen abhängig ist.«16

Dennoch taten Escherichs Zeitgenossen, was sie konnten. Schon hundert Jahre bevor Mikrobiom zum Schlagwort wurde, charakterisierten sie Bakterien aus Katzen, Hunden, Wölfen, Tigern, Löwen, Pferden, Rindern, Schafen, Ziegen, Elefanten, Kamelen und Menschen.17 Sie skizzierten die Grundzüge des mikrobiologischen Ökosystems im Menschen, und das mehrere Jahrzehnte bevor das Wort »Ökosystem« 1935 überhaupt geprägt wurde. Sie zeigten, dass sich von Geburt an in unserem Organismus Mikroorganismen ansammeln und dass in den einzelnen Organen unterschiedliche Arten die Vorherrschaft haben. Sie erkannten, dass insbesondere der Darm reich an Mikroorganismen ist und dass seine Bewohner sich verändern, wenn die Tiere unterschiedliche Nahrung zu sich nehmen. Kendall bezeichnete den Darm 1909 als »einzigartig vollkommenen Brutschrank« für Bakterien, deren Tätigkeiten »nicht in aktivem Gegensatz zu denen des Wirtes stehen«.18 Sie mochten vielleicht opportunistisch Krankheiten verursachen, wenn die Widerstandskraft des Wirtes geschwächt war, aber ansonsten waren sie harmlos.

Konnten sie möglicherweise auch nützlich sein? Genau das glaubte paradoxerweise Pasteur, der Mann, der überhaupt erst die Waffe für die langwierige Schießerei mit den Mikroben entsichert hatte. Er vertrat die Ansicht, Bakterien könnten für das Leben hilfreich oder vielleicht sogar unentbehrlich sein, denn man wusste bereits, dass der Magen einer Kuh die Cellulose aus Pflanzen verdaut und nahrhafte Säuren produziert, die das Wirtstier dann aufnimmt. Kendall äußerte die Vermutung, die Mikroorganismen im Darm des Menschen könnten ihrem Wirt helfen, indem sie fremde Bakterien bekämpfen und verhindern, dass diese Fuß fassen (dass sie eine Rolle für die Verdauung spielen, bezweifelte er allerdings).19 Der russische Nobelpreisträger Elias Metschnikoff trieb diese Sichtweisen ins Extrem. Er wurde einmal als »hysterischer Charakter aus einem Roman von Dostojewski« bezeichnet20 und war ein Musterbeispiel des inneren Widerspruchs: Einerseits versuchte er als abgrundtiefer Pessimist mindestens zweimal, sich das Leben zu nehmen, andererseits schrieb er ein Buch mit dem Titel Beiträge zu einer optimistischen Weltauffassung. In diesem 1908 erschienenen Buch projizierte er seine eigenen Widersprüche auf die Welt der Mikroorganismen.

Einerseits erklärte Metschnikoff, Darmbakterien würden Giftstoffe produzieren, die Krankheit, Senilität und Alterung verursachen und »die Hauptursache für die kurze Dauer eines Menschenlebens« seien. Andererseits glaubte er aber auch, manche Mikroorganismen könnten das Leben verlängern. In diesem Punkt bezog er seine Anregung von bulgarischen Bauern, die regelmäßig Sauermilch tranken und weit über hundert Jahre alt wurden. Die beiden Aspekte, so Metsch ni koff, hingen zusammen. Die gärende Milch enthielt Bakterien, dar unter eine Art, die er als bulgarischen Bazillus bezeichnete. Diese stellten Milchsäure her, die im Darm der Bauern die schädlichen, lebensverkürzenden Mikroorganismen abtötete. Metschnikoff war von seiner Idee so überzeugt, dass er anfing, selbst regelmäßig Sauermilch zu trinken. Andere wiederum waren von dem angesehenen Wissenschaftler Metschnikoff so überzeugt, dass sie es ihm nachmachten. (Seine Behauptungen führten sogar dazu, dass künstliche Darmausgänge in Mode kamen, und inspirierten Aldous Huxley zu seinem Roman Nach vielen Sommern: Darin spritzt sich ein Hollywoodmagnat den Darm von Karpfen, um so die Mikroorganismen in seinem eigenen Darm zu verändern und die Unsterblichkeit zu erlangen.) Natürlich tranken Menschen schon seit Jahrtausenden vergorene Milchprodukte, aber jetzt dachten sie dabei an die Mikroorganismen. Die Mode überlebte Metschnikoff: Er starb mit einundsiebzig Jahren an Herzversagen.

Aber trotz aller Bemühungen von Kendall, Metschnikoff und anderen kam die Erforschung der symbiontischen Bakterien von Menschen und anderen Tieren durch die zunehmende Konzentration auf Krankheitserreger unter die Räder. Die Öffentlichkeit wurde durch Gesundheitstipps ermutigt, Keime mit bakterientötenden Produkten und übertriebener Hygiene von ihrem Körper und aus der Umgebung zu entfernen. Zur gleichen Zeit wurden die ersten Antibiotika entdeckt und in großen Mengen hergestellt, Wirkstoffe, die sowohl die Keime als auch alles, was darüber berichtet wurde, hinwegfegten. Endlich hatten die Menschen eine Chance, diese winzigen Feinde zu besiegen. Und angesichts solcher Aussichten setzte, was die Erforschung der symbiontischen Bakterien anging, eine lange Durststrecke ein, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts andauerte. Eine 1938 erschienene, detaillierte Geschichte der Bakteriologie erwähnte die in unserem Organismus ansässigen Mikroorganismen überhaupt nicht.21 Das führende Lehrbuch des Fachgebiets widmete ihnen ein einsames Kapitel, erläuterte aber vor allem, wie man sie von Krankheitserregern unterscheiden kann. Erwähnenswert waren sie nur, weil man sie von ihren interessanteren Kollegen trennen musste. Wenn Wissenschaftler sich mit Bakterien beschäftigten, dann meistens zu dem Zweck, andere Lebewesen besser zu verstehen. Wie sich herausstellte, sind viele Aspekte der Biochemie, beispielsweise die Aktivierung von Genen oder die Speicherung von Energie, im Stammbaum des Lebens überall gleich. Durch Erforschung von E. coli wollte man auch die Elefanten verstehen. Bakterien wurden zu »Stellvertretern für eine allgemeingültige, reduktionistische Einstellung gegenüber dem Lebendigen«, schrieb die Historikerin Funke Sangodeyi. »Die Mikrobiologie wurde zu einer dienenden Wissenschaft.«22

Auf dem Weg zu größerer Bekanntheit ging es nur langsam voran. Dazu trugen neue Methoden bei, unter anderem solche zur Zucht der sauerstoffhassenden Mikroorganismen, die im Darm von Tieren vorherrschen; jetzt konnte man große Gruppen wichtiger Mikroorganismen erforschen, die zuvor für die Wissenschaft nicht zugänglich gewesen waren.23 Auch die Einstellungen änderten sich. Dank der ökologischen Mikrobiologen der Delfter Schule wurde den Wissenschaftlern klar, dass man Bakterien nicht als Einzelorganismen erforschen sollte, die man in ein Reagenzglas werfen kann, sondern als Gemeinschaften, die in Lebensräumen – in diesem Fall ihren Wirtstieren – zu Hause sind. Vertreter spezialisierter Zweige der Medizin wie Zahnheilkunde und Dermatologie studierten die Ökologie der Mikroorganismen in den jeweiligen Organen.24 Sie »stellten sich mit ihren Arbeiten gegen die dominierende Mikrobiologie ihrer Zeit«, schrieb Sangodeyi. Aber sie waren noch isoliert. Auch Botaniker beschäftigten sich mit Mikroorganismen auf Pflanzen, und Zoologen erforschten sie bei Tieren. Die Mikrobiologie war in mehrere kleine Fachgebiete zersplittert, deren bruchstückhafte Bemühungen leicht zu übersehen waren. Es gab keine einheitliche Wissenschaftlergemeinde, die sich mit symbiontischen Mikroorganismen beschäftigt hätte – keine Wissenschaftsdisziplin sozusagen. Im Geist der Symbiose musste jemand die Teile zu einem größeren Ganzen zusammen fügen.

Dieses Ziel nahm der Mikrobiologe Theodor Rosebury, ein Experte für die Mikroorganismen im Mund, seit 1928 für die Mikrobiome des Menschen in Angriff. Mehr als dreißig Jahre lang sammelte er alle Forschungsergebnisse, die er finden konnte, und 1962 verwob er die zarten, hauchdünnen Fäden zu einem robusten Teppich: dem bahnbrechenden Werk Microorganisms Indigenous to Man.25 »Soweit mir bekannt ist, hat noch nie jemand versucht, ein solches Buch zu schreiben«, schrieb er. »Es scheint sogar das erste Mal zu sein … dass das Thema als zusammengehörige Einheit behandelt wird.« Damit hatte er recht. Sein Werk war detailliert, umfassend und ein unentbehrlicher Vorgänger des hier vorliegenden Buches.26 In vielen Einzelheiten beschrieb er die häufigsten Bakterien in allen Körperteilen. Er schilderte, wie die Mikroorganismen ein Baby nach der Geburt besiedeln. Er äußerte die Vermutung, sie könnten Vitamine und Antibiotika produzieren und so Infektionen verhüten, die von Krankheitserregern verursacht werden. Er erklärte, das Mikrobiom kehre nach einer Antibiotikabehandlung in seinen Normalzustand zurück, könne sich aber bei einer chronischen Anwendung solcher Wirkstoffe auch längerfristig verändern. Und mit den meisten seiner Aussagen behielt er recht. »Vieles von der Verachtung, mit der die normale Flora seit langer Zeit gestraft wurde, ist noch nicht wiedergutgemacht worden«, schrieb er. »Dieses Buch soll unter anderem den Vorschlag machen, genau das zu tun.«

Es gelang. Roseburys zusammenfassende Darstellung erweckte ein daniederliegendes Fachgebiet zu neuem Leben und wurde zum Anlass für zahlreiche neue Forschungsarbeiten.27 Einer der Wissenschaftler, die zu diesem Vermächtnis beitrugen, war der liebenswürdige, in Frankreich geborene Amerikaner René Dubos, der sich bereits einen Namen gemacht hatte. In Anlehnung an die ökologischen Lehren der Delfter Schule erforschte er die Mikroorganismen im Boden; aus ihnen hatte er Wirkstoffe isoliert, die dazu beitrugen, das Anti biotikazeitalter einzuläuten. Aber Dubos hielt seine Wirkstoffe nicht für Waffen zum Abtöten von Mikroorganismen, sondern für Hilfsmittel, mit denen man sie »domestizieren« kann. Selbst in seinen späteren Arbeiten über Tuberkulose und Lungenentzündung verzichtete er darauf, Mikroorganismen in die Rolle von Feinden zu drängen, und entsprechend vermied er militaristische Metaphern. Er war im Kern ein überzeugter Naturliebhaber, und Mikroorganismen sind nun mal ein Teil der Natur. »Es war sein lebenslanges Credo, dass man Lebewesen nur in ihrer Beziehung zu allem anderen verstehen kann«, schrieb seine Biografin Susan Moberg.28

Dubos erkannte den Wert unserer symbiontischen Mikroorganismen und war betrübt darüber, dass man ihren Nutzen bislang übersehen hatte. »Das Wissen, dass Mikroorganismen für den Menschen hilfreich sein können, ist für die Allgemeinheit nie besonders reizvoll gewesen, denn Menschen sind in der Regel von den Gefahren, die ihr Leben bedrohen, stärker gefesselt als von den biologischen Kräften, auf die sie angewiesen sind«, schrieb er. »Die Geschichte der Kriegsführung ist stets glanzvoller als Berichte über Kooperation. Pest, Cholera und Gelbfieber haben den Weg in Romane, auf die Bühne und auf die Kinoleinwand gefunden, aber niemand hat jemals eine Erfolgsgeschichte über die nützlichen Funktionen der Mikroorganismen in Darm oder Magen geschrieben.«29 Zusammen mit seinen Kollegen Dwayne Savage und Russell Schaedler trug er dazu bei, diese Funktionen aufzuklären. Wie die drei zeigen konnten, gewinnen schlechte Siedler unter Umständen die Oberhand, wenn man die angestammten Mikroorganismenarten mit Antibiotika vernichtet. Sie untersuchten keimfreie Mäuse, die man in sterilen Brutkästen aufgezogen hatte, und konnten nachweisen, dass diese Nagetiere kürzer lebten, langsamer heranwuchsen, ein anormales Verdauungs- und Immunsystem besaßen und anfälliger für Stress und Infektionen waren. »Für die Entwicklung und die physiologische Tätigkeit normaler Tiere und Menschen spielen mehrere Mikroorganismenarten eine unverzichtbare Rolle«, schrieb er.30

Aber Dubos wusste auch, dass er nur an der Oberfläche kratzte. »Mit Sicherheit stellen sie [die bisher identifizierten Bakterien] nur einen sehr kleinen Teil der gesamten einheimischen Mikrobiome dar, und zwar noch nicht einmal den wichtigsten«, schrieb er. Der Rest – vielleicht bis zu 99 Prozent – wollte einfach im Labor nicht wachsen. Diese »nicht kultivierte Mehrheit« war ein beängstigendes Hindernis. Obwohl seit Leeuwenhoeks Zeit so vieles geschehen war, wussten die Mikrobiologen über die meisten Organismen, die sie eigentlich erforschen sollten, immer noch nichts. Leistungsfähige Mikroskope allein konnten das Problem nicht lösen. Auch Methoden zur Aufzucht von Mikroorganismen konnten das Problem nicht lösen. Man brauchte einen anderen Ansatz.

Ende der 1960er-Jahre machte sich der junge Amerikaner Carl Woese an ein verschrobenes Nischenprojekt: Er sammelte verschiedene Bakterienarten und analysierte die Moleküle ihrer sogenannten 16S-rRNA, die in allen Mikroorganismen vorkommt. Kein anderer Wissenschaftler erkannte den Wert einer solchen Arbeit, und so hatte Woese keine Konkurrenten: »Es war ein Rennen mit nur einem Pferd«, sagte er später.31 Außerdem war es ein teures, langsames und gefährliches Rennen, zu dem der Umgang mit beunruhigend großen Mengen an radioaktiven Flüssigkeiten gehörte. Aber es war auch revolutionär.

Zu jener Zeit konnten Biologen die Verwandtschaften zwischen verschiedenen biologischen Arten ausschließlich aus ihren körperlichen Merkmalen ableiten: Durch Vergleich von Einzelheiten der Größe, Form und Anatomie fanden sie heraus, wer mit wem verwandt war. Woese erkannte, dass er mit den Lebensmolekülen besser vorankam: mit DNA, RNA und Proteinen, die allen Lebewesen gemeinsam sind. In ihren Molekülen sammeln sich Veränderungen im Laufe der Zeit an, das heißt, eng verwandte Arten haben ähnlichere Versionen als solche mit weitläufigen Verwandtschaftsverhältnissen. Wenn er die richtigen Moleküle bei einem ausreichend vielgestaltigen Spektrum verschiedener Arten verglich, mussten sich die Zweige und Äste des Lebensstammbaums zeigen.32

Woese konzentrierte sich auf die 16S-rRNA, die von einem Gen gleichen Namens produziert wird. Sie gehört zu dem unentbehrlichen Proteinsyntheseapparat, der in allen Organismen vorhanden ist, und erwies sich damit als die von Woese gewünschte, überall vergleichbare Einheit. Bis 1976 hatte er Profile der 16S-rRNA von ungefähr dreißig verschiedenen Mikroben erstellt. Im Juni desselben Jahres begann er mit der Arbeit an einer Spezies, die sein Leben verändern sollte – und nicht nur sein Leben, sondern auch die Biologie, wie wir sie kennen.

Sein Untersuchungsobjekt stammte von Ralph Wolfe, der zu einem führenden Experten für eine rätselhafte Gruppe von Mikroben geworden war, die Methanogene. Diese Organismen brauchen zum Leben kaum mehr als Kohlendioxid und Wasserstoff, aus denen sie Methan herstellen. Sie sind in Sümpfen, Ozeanen und dem Darm des Menschen zu Hause; die Spezies, die Wolfe geschickt hatte, hieß Methanobacterium thermoautotrophicum und lebte im warmen Schlamm von Kläranlagen. Woese ging wie alle anderen davon aus, dass es sich einfach um eine weitere Bakterienart handelte, wenn auch um eine mit seltsamen Lebensgewohnheiten. Als er aber ihre 16SrRNA analysierte, wurde ihm klar, dass sie eindeutig nicht bakterientypisch war. In der Frage, wann er die Bedeutung seiner Beobachtung in vollem Umfang begriff, wie überschwänglich oder vorsichtig er war und ob er eine Wiederholung der Experimente forderte, gehen die Berichte auseinander. Eines aber ist klar: Im Dezember hatte seine Arbeitsgruppe mehrere weitere Methanogene sequenziert und bei allen die gleiche Gesetzmäßigkeit gefunden. Wolfe erinnert sich, dass Woese zu ihm sagte: »Diese Dinger sind noch nicht einmal Bakterien.«

Woese veröffentlichte seine Befunde 1977 in einem Fachartikel und gab den Methanogenen darin den neuen Namen Archaebacteria. Später wurden sie schlicht Archaea genannt.33 Woese beharrte darauf, sie seien nicht einfach seltsame Bakterien, sondern eine vollkommen andere Lebensform. Es war eine erstaunliche Behauptung. Woese hatte diese rätselhaften Mikroorganismen im Schlamm ausgegraben und stellte sie auf die gleiche Stufe wie die allgegenwärtigen Bakterien oder die mächtigen Eukaryonten. Es war, als hätte man eine Weltkarte vor sich, und Woese würde in aller Stille ein ganzes Drittel entfalten, das bisher verborgen war.

Wie nicht anders zu erwarten, stießen Woeses Behauptungen selbst bei anderen wissenschaftlichen Bilderstürmern auf lautstarke Kritik. Die Fachzeitschrift Science bezeichnete ihn später als »den seelisch vernarbten Evolutionär der Mikrobiologie«, und tatsächlich trug er die Narben bis zu seinem Tod im Jahr 2012.34 Heute ist sein Vermächtnis nicht mehr zu leugnen. Seine Behauptung, die Archaea seien etwas anderes als Bakterien, erwies sich als richtig. Und was vielleicht noch wichtiger war: Der von ihm vertretene Ansatz, durch den Vergleich von Genen die Verwandtschaftsbeziehungen biologischer Arten aufzuklären, wurde zu einem der wichtigsten in der modernen Biologie.35 Außerdem ebneten seine Methoden anderen Wissenschaftlern wie beispielsweise seinem langjährigen Freund Norman Pace den Weg, nun wirklich die Welt der Mikroorganismen zu erkunden.

In den 1980er-Jahren analysierte Pace erstmals die rRNA von Archaea, die in extrem heißen Umgebungen leben. Besonders eingenommen war er vom Octopus Spring, einem tiefblauen Kessel im Yellowstone-Nationalpark, dessen Wasser mit einer Temperatur von 91 Grad Celsius beinahe siedete. Die Quelle war voller nicht identifizierter, hitzeliebender Mikroorganismen, die darin in so großen Schwärmen wuchsen, dass sie als rosafarbene Fasern sichtbar wurden. Pace kann sich noch gut daran erinnern, wie er etwas über die Quelle las, sofort in sein Labor lief und rief: »He, Leute, seht euch das mal an! Kilo grammmengen! Schnappen wir uns einen Eimer und fahren hin.« Darauf sagte ein Mitglied seiner Arbeitsgruppe: »Aber wir wissen doch nicht einmal, was für Organismen das sind.« Worauf Pace erwiderte: »Das macht doch nichts. Wir können sie ja sequenzieren.«

Er hätte ebenso gut »Heureka!« rufen können. Pace war klar geworden, dass er Mikroorganismen mit Woeses Methoden studieren konnte, ohne dass er sie heranzüchten musste. Er brauchte sie nicht einmal zu sehen. Es reichte, wenn er ihre DNA oder RNA unmittelbar aus der Umwelt gewann und sequenzierte. Dann würde sich zeigen, was dort lebte und wie es in den Stammbaum der Mikroorganismen passte – Biogeografie und Evolutionsbiologie in einem. »Wir sind mit unserem Eimer zum Yellowstone-Park gefahren und haben es gemacht«, sagt er. Im Wasser dieses »stillen, schönen und tödlichen Ortes« identifizierte Pace’ Arbeitsgruppe zwei Bakterienarten und ein Archaeon. Keines davon war schon einmal gezüchtet worden, und alle waren für die Wissenschaft neu. Die Befunde wurden 1984 veröffentlicht.36 Zum ersten Mal hatte damit jemand einen Organismus ausschließlich aufgrund seiner Gene entdeckt. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben.

Im Jahr 1991 analysierten Pace und sein Student Ed DeLong verschiedene Planktonproben, die sie aus dem Pazifik gefischt hatten. Darin fanden sie eine noch kompliziertere Mikroben-Lebensgemeinschaft als im Yellowstone-Park: fünfzehn neue Bakterienarten, darunter zwei, die zu keiner bekannten Gruppe gehörten. Langsam sprossen an dem kargen Stammbaum der Bakterien neue Blätter, Zweige und manchmal ganze Äste. In den 1980er-Jahren hatten noch alle bekannten Bakterien fein säuberlich in ein Dutzend Hauptgruppen oder Stämme gepasst. Bis 1998 war deren Zahl auf ungefähr vierzig angestiegen. Als ich 2015 mit Pace sprach, sagte er mir, wir seien jetzt bei ungefähr hundert, und rund achtzig davon seien noch nie in Kulturen gezüchtet worden. Einen Monat später berichtete Jill Banfield über die Entdeckung von fünfunddreißig neuen Stämmen allein in einer einzigen grundwasserführenden Schicht in Colorado.37

Nachdem die Mikrobiologen jetzt vom Joch der Bakterienkulturen und Mikroskopie befreit waren, konnten sie eine viel umfassendere Bestandsaufnahme der Mikroorganismen auf unserem Planeten in Angriff nehmen. »Das war immer unser Ziel«, sagt Pace. »Die Ökologie der Mikroorganismen war zu einer todgeweihten Wissenschaft geworden. Die Leute gingen hinaus, drehten einen Stein um, fanden ein Bakterium und glaubten, es sei charakteristisch für alles, was es dort draußen gibt. Das war dumm. Als wir zum ersten Mal anders vorgegangen sind, haben wir die Tür zur natürlichen Welt der Mikroorganismen aufgestoßen. Ich will, dass das auf meinem Grabstein steht. Es war ein großartiges Gefühl, und das ist es bis heute geblieben.«

Man brauchte sich jetzt auch nicht mehr auf die 16S-rRNA zu beschränken. Sehr schnell entwickelten Pace, DeLong und andere neue Methoden, um alle Gene der Mikroorganismen in einem Klumpen Erde oder einem Becher Wasser zu analysieren.38 Sie gewannen die DNA aus allen Mikroorganismen von einer Stelle, zerschnitten sie in kleine Stücke und sequenzierten sie alle auf einmal. »Wir haben jedes verdammte Gen bekommen, das wir haben wollten«, sagt Pace. Schon anhand der 16S-rRNA konnte man sehen, welche Arten vorhanden waren, darüber hinaus aber konnte man jetzt auch herausfinden, welche Fähigkeiten die Arten an einem bestimmten Ort besaßen. Dazu sucht man beispielsweise nach Genen für die Vitaminsynthese, für die Verdauung von Ballaststoffen oder für Antibiotikaresistenzen.

Die neue Methodik versprach eine Revolution der Mikrobiologie; man brauchte nur noch einen einprägsamen Namen. Einen solchen schlug Jo Handelsman 1998 vor: Metagenomik, die Genomforschung an Lebensgemeinschaften.39 »Die Metagenomik ist vielleicht der wichtigste Durchbruch in der Mikrobiologie seit der Erfindung des Mikroskops«, sagte sie einmal. Endlich war man auf dem Weg, das Leben auf der Erde in seinem ganzen Umfang zu verstehen. Handelsman und andere erforschten nun Mikroorganismen aus den Böden von Alaska, den Graslandschaften in Wisconsin, den säurehaltigen Abwässern eines Bergbaubetriebs in Kalifornien, dem Wasser der Sargassosee, dem Körper von Tiefseewürmern und dem Darm von Insekten. Und natürlich wandten manche Mikrobiologen sich nach dem Vorbild Leeuwenhoeks auch sich selbst zu.

Wie Dubos und viele andere, die sich irgendwann in Bakterien verliebt hatten, so hatte auch David Relman ursprünglich vorgehabt, sie umzubringen. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er sich als klinischer Mediziner mit Infektionskrankheiten beschäftigt. Ende der 1980er-Jahre identifizierte er mit Pace’ neuer Methode unbekannte Mikroorganismen, die hinter rätselhaften Erkrankungen des Menschen steckten. Anfangs war er zutiefst frustriert, weil jede Gewebeprobe, die vielleicht einen neuen Krankheitserreger beherbergen konnte, von dem normalen Mikrobiom überschwemmt war. Diese Bewohner waren eine lästige Ablenkung – bis Relman erkannte, dass sie auch für sich genommen interessant waren. Warum sollte man nicht diese Mikroorganismen anstelle der pathogenen Minderheit charakterisieren?

So kam es, dass Relman eine große Tradition begründete, in der Mikrobiologen ihre eigenen Mikrobiome sequenzierten. Als Erstes bat er seinen Zahnarzt, ein wenig Belag aus seinen Zahnfleischtaschen zu kratzen und in ein keimfreies Sammelröhrchen fallen zu lassen. Er nahm die Masse mit ins Labor und entschlüsselte ihre DNA. Es hätte zu nichts führen müssen. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass der Mund bereits der bestuntersuchte Mikroben-Lebensraum im menschlichen Körper war. Schon Leeuwenhoek hatte ihn sich angesehen. Rosebury hatte ihn untersucht. Mikrobiologen hatten fast fünfhundert Bakterienstämme aus seinen verschiedenen Nischen in Kulturen gezüchtet. Wenn irgendein Körperteil immun gegen neue Entdeckungen hätte sein können, dann der Mund. Und doch fand Relman an seinem eigenen Zahnfleisch ein Spektrum von Bakterienarten, das weitaus größer war als alles, was er aus denselben Proben heranzüchten hätte können.40 Selbst dort, in den bekanntesten Lebensräumen des menschlichen Körpers, wartete also noch eine atemberaubende Zahl unbekannter Arten auf ihre Entdeckung. Genauso erging es Relman 2005 auch mit dem Darm. Er sammelte Proben von verschiedenen Orten im Verdauungstrakt dreier Freiwilliger und identifizierte darin fast vierhundert Bakterienarten sowie ein Archaeon – und 80 Prozent davon waren für die Wissenschaft neu.41 Mit anderen Worten: Dubos hatte mit seinen Vermutungen recht gehabt. Die Mikrobiologen seiner Zeit hatten noch kaum an der Oberfläche der normalen menschlichen Bakterienflora gekratzt.

Das alles änderte sich Anfang der 2000er-Jahre: Jetzt machten Wissenschaftler überall im menschlichen Körper Sequenz-Bestandsaufnahmen. Jeff Gordon – ein Pionier, der uns in einem späteren Kapitel wieder begegnen wird – wies nach, dass Mikroorganismen die Fettspeicherung und die Entstehung neuer Blutgefäße in unserem Körper steuern und dass fettleibige Menschen in ihrem Darm andere Mikroorganismen haben als schlanke.42 Relman selbst bezeichnete die Mikrobiome jetzt als »lebenswichtiges Organ«. Die Wegbereiter lockten Mitarbeiter aus allen Fachgebieten der Biologie an, erregten die Aufmerksamkeit der Publikumspresse und erhielten nun Millionenbeträge zur Finanzierung großer, internationaler Projekte.43 Jahrhundertelang hatte das Mikrobiom des Menschen sein Dasein an den Rändern der biologischen Wissenschaft gefristet, nur Rebellen und Bilderstürmer hatten sich für es eingesetzt. Jetzt war es zu einem Teil des Mainstreams geworden. Seine Geschichte ist eine Geschichte darüber, wie Gedanken über den menschlichen Organismus und über wissenschaftliche Fragen von den Rändern in den Mittelpunkt wandern.

Im Artis, dem königlichen Zoo in Amsterdam, steht gleich hinter dem Eingang ein zweistöckiges Gebäude, das auf seiner Seitenwand das Bild einer riesigen, schreitenden Figur zeigt. Sie besteht aus kleinen, flauschigen Kugeln in Orange, Beige, Gelb und Blau. Es ist die Darstellung des menschlichen Mikrobioms, und sie lädt die Besucher mit einer freundlichen Handbewegung ins Micropia ein – in das erste Museum der Welt, das ausschließlich den Mikroorganismen gewidmet ist.44

Das Museum wurde im September 2014 nach einer Entwicklungszeit von zwölf Jahren und einem Kostenaufwand von 10 Millionen Euro eröffnet. Dass es sich ausgerechnet in den Niederlanden befindet, passt. Im nur 65 Kilometer entfernten Delft machte Leeuwenhoek die Welt zum ersten Mal mit dem verborgenen Reich der Bakterien bekannt. Heute ist ein Nachbau eines seiner brillianten Mikroskope das Erste, was ich sehe, nachdem ich die Eintrittskartenkontrolle von Micropia hinter mir habe. Es steht – bescheiden, täuschend einfach und auf dem Kopf stehend montiert – in einem Glasgefäß. Darum herum sind Proben von Dingen, die Leeuwenhoek hätte untersuchen können, unter anderem Pfefferaufgüsse, Entengrütze von einem Teich in der Nähe und Zahnbeläge.

Von dort begebe ich mich zusammen mit einem Freund und einer kleinen Familie in einen Aufzug. Als wir nach oben blicken, sehen wir unser eigenes Spiegelbild in einem Video, das an der Decke gezeigt wird. Während der Lift aufwärts fährt, zoomt die Kamera auf dramatische Weise auf unsere Gesichter; sie scheint immer näher zu kommen, zeigt Milben in den Wimpern, Hautzellen, Bakterien und schließlich auch Viren. Als die Türen sich in der zweiten Etage öffnen, sehen wir ein Schild aus kleinen Lichtpunkten, die sanft schimmern wie eine lebende Kolonie. »Wenn man ganz nah hinsieht, eröffnet sich eine neue Welt, schöner und spektakulärer als alles, was man sich jemals vorgestellt hätte«, steht dort. »Willkommen in Micropia.«

Einen ersten Eindruck von dieser neuen Welt erhalten wir sofort durch eine Reihe von Mikroskopen. Sie richten sich auf Mückenlarven, Wasserflöhe, Fadenwürmer, Schleimpilze, Algen und grüne Teichbakterien. Letztere sind 200-fach vergrößert, und ich wundere mich bei dem Gedanken, dass Leeuwenhoeks selbst gebautes Mikroskop aus der unteren Etage das Gleiche leistete. Auch er sah diese kleinen Wunder, allerdings auf viel unbequemere Weise. Während er angestrengt durch eine winzige Linse blinzeln musste, kann ich das Gesicht an ein bequem gepolstertes Okular halten und auf ein scharfes Digitaldisplay blicken.

Hinter den Mikroskopen zeigt eine große Darstellung die Biogeografie des menschlichen Mikrobioms. Die Besucher stehen vor einer Kamera, die ihren Körper abtastet und auf einem großen Bildschirm einen mikrobiologischen Avatar zeichnet. Der Avatar, dessen Haut mit weißen Punkten nachgezeichnet ist, während die Organe in bunten Farben dargestellt werden, ahmt die Bewegungen der Besucher nach. Sie gehen weiter, er geht weiter. Sie winken, er winkt. Durch Handbewegungen können sie verschiedene Organe auswählen und Informationen über die Mikroorganismen in Haut, Magen, Darm, Kopfhaut, Mund, Nase und an anderen Orten abrufen. Sie erfahren, welcher Mikroorganismus wo zu Hause ist und was er tut. In diesem einen Ausstellungsstück verkörpern sich die Entdeckungen vieler Jahrzehnte von Kendall über Rosebury bis zu Relman. Eigentlich ist das ganze Museum ein Tribut an die Geschichte. Unter anderem zeigt es eine Reihe von Flechten, jene zusammengesetzten Organismen, durch die Wissenschaftler im 19. Jahrhundert auf die Bedeutung der Symbiose aufmerksam wurden. An einer anderen Stelle zeigt ein Mikroskop die Milchsäurebakterien, in die Metschnikoff sich verliebt hatte – winzige Kugeln, die 630-fach vergrößert sind und hübsche Bewegungen vollführen.

Mir fällt auf, wie nüchtern die Informationen sind und wie schnell die Besucher sich mit dem Gedanken an eine Welt der Mikroorganismen abfinden. Niemand zuckt zurück, runzelt die Stirn oder rümpft die Nase. Ein Paar steht auf einer roten, herzförmigen Plattform und legt für einen langen Kuss die Lippen vor dem »Kiss-o-Meter« aufeinander, der ihnen sagt, wie viele Bakterien sie gerade ausgetauscht haben. Eine junge Frau blickt aufmerksam auf eine Wand mit Stuhlproben von Gorillas, Wasserschweinen, Kleinen Pandas, Kängurus, Löwen, Ameisenbären, Elefanten, Faultieren, Schopfaffen und vielen anderen, die alle in dem benachbarten Zoo gesammelt, in luftdichten Gefäßen eingeschlossen und dann in Plexiglaskästen untergebracht wurden. Eine Gruppe von Teenagern starrt auf eine Wand mit von hinten beleuchteten Agarplatten, auf denen Pilze und Bakterien wachsen. Manche stammen von Alltagsobjekten. Sie erkennen den Abdruck von Schlüsseln, Telefonen, Computermäusen, Fernbedienungen, Zahnbürsten, Türklinken und den rechteckigen Umriss eines Euro scheins. Sie staunen über die orangefarbenen Flecken von Klebsiella, die blauen Matten von Enterococcus und die grauen, schmierigen Massen von Staphylococcus, die aussehen, als wären sie mit dem Bleistift schraffiert.

Die Familie, die mit mir im Aufzug gefahren ist, betrachtet eine hübsche Darstellung von Carl Woeses Lebensstammbaum. Das Bild nimmt eine ganze Wand ein. Tiere und Pflanzen sind in einen kleinen Kreis in der Ecke verbannt, an Ästen und Zweigen herrschen die Bakterien und Archaea. Der Papa wurde vermutlich geboren, bevor man überhaupt wusste, dass Archaea existieren; jetzt erfahren seine Kinder in einer großen Touristenattraktion etwas über sie.

Micropia repräsentiert das wachsende Wissen aus dreihundertfünfzig Jahren und die sich wandelnden Einstellungen gegenüber den Mikroorganismen. Hier sind sie weder übersehene Vertreter der zweiten Liga noch düstere Bösewichter. Hier sind sie faszinierend, wunderschön und der Aufmerksamkeit wert. Hier sind sie die Stars. George Eliot schrieb in Middlemarch: »Tatsächlich wissen die meisten von uns nur wenig über die großen Urheber, bis sie unter die Sternbilder erhoben wurden und bereits über unser Schicksal bestimmen.« Damit hätte sie durchaus die Wissenschaftler meinen können, die uns die Welt der Mikroorganismen offenbart haben, und auch die Mikroorganismen selbst.

Winzige Gefährten

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