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KAPITEL 3 BAUMEISTER DES KÖRPERS

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DAS, WAS SIE SUCHEN, ist etwa so groß wie ein Golfball«, sagt Nell Bekiares.1

Ich sitze in einem Labor an der University of Wisconsin in Madison und schaue hinunter in ein kleines Aquarium. Es scheint leer zu sein. Ich sehe nichts von der Größe eines Golfballs. Eigentlich sehe ich überhaupt nichts außer einer Schicht Sand. Dann wedelt Bekiares mit der Hand im Wasser; plötzlich stößt etwas hervor und gibt eine Wolke aus zähflüssiger, schwarzer Tinte ab. Es ist ein Zwergtintenfisch der Spezies Euprymna scolopes, genauer gesagt ein Weibchen. Es ist ungefähr so groß wie mein Daumen. Bekiares holt den Tintenfisch mit einer kleinen Schale heraus; er schießt, gespenstisch weiß vor Aufregung, mit ausgestreckten Armen darin herum, und seine Flossen schlagen heftig. Als der Tintenfisch sich wieder beruhigt hat, versteckt er seine Arme unter dem Körper und setzt sich darauf; gleichzeitig verändert sich seine Form: Aus dem Pfeil wird ein großes Gelee-Ei. Auch die Haut macht eine Veränderung durch: Winzige farbige Pünktchen erweitern sich schnell zu flachen dunkelbraunen, roten und gelben Scheiben, die mit irisierenden Flecken übersät sind. Jetzt ist der Tintenfisch nicht mehr weiß, sondern sieht aus wie eine von Seurat gemalte Herbstszene.

»Wenn sie so braun werden, sind sie glücklich«, sagt Bekiares. »Braun ist ziemlich gut. Die Männchen sind oft stinksauer. Dann stoßen sie immer wieder Tinte aus und schießen hin und her. Wenn sie dir Wasser ins Gesicht oder auf die Brust spritzen, ist das bestimmt Absicht.«

Ich bin erstaunt. Der Tintenfisch strahlt Charakter aus. Und er ist von einer spektakulären Schönheit.

Andere Tiere gibt es in der Schale nicht, aber der Tintenfisch ist dennoch nicht allein. Zwei Kammern auf seiner Unterseite – seine Leuchtorgane – sind voller Leuchtbakterien der Spezies Vibrio fischeri. Von ihnen geht ein abwärts gerichtetes Glimmen aus. Das Licht ist so schwach, dass man es unter den Leuchtstoffröhren des Labors nicht sehen kann, aber in den flachen Riffgewässern rund um Hawaii, wo der Tintenfisch zu Hause ist, wäre es deutlich zu erkennen. Nachts macht das Licht der Bakterien angeblich dem Mondschein Konkurrenz, der von oben ins Wasser dringt; auf diese Weise löscht es die Silhouette des Tintenfisches aus und verbirgt ihn vor seinen natürlichen Feinden. Dieses Tier wirft keinen Schatten.

Der Tintenfisch mag von unten unsichtbar sein, aber von oben kann man ihn leicht ausmachen. Man braucht nur nach Hawaii zu fliegen, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten und dann mit Stirnlampe und Netz durch knietiefes Wasser zu waten. Mit guten Reflexen kann man bis zum Sonnenaufgang ein halbes Dutzend von ihnen schnappen. Und wenn man sie einmal gefangen hat, lassen sie sich ebenso einfach halten, füttern und züchten. »Wenn sie mitten in Wisconsin leben können, können sie überall leben«, sagt die Zoologin Margaret McFall-Ngai, die dieses Labor leitet. Die selbstbewusste, elegante und extrovertierte McFall-Ngai erforscht schon seit fast dreißig Jahren die Tintenfische und ihre Leuchtbakterien. Sie hat die Tiere zu einem Musterbeispiel für Symbiose gemacht und ist dabei auch selbst zum Musterbeispiel geworden. Ihre Kollegen preisen sie als freimütige Bilderstürmerin, die erstaunlicherweise auch begeistert Skateboard fährt und sich schon zu einer Zeit, als »Mikrobiom« noch kein angesagtes Schlagwort war, unermüdlich für Mikroorganismen einsetzte. »Sie spricht von der ›Neuen Biologie‹, und wenn Margaret das sagt, hört es sich an wie in Großbuchstaben geschrieben«, erzählte mir ein Biologe. So hat sie nicht immer gedacht. Erst der Tintenfisch sorgte dafür, dass sie ihre Meinung änderte.2

Als Doktorandin beschäftigte sich McFall-Ngai mit einer Spezies von Fischen, die ebenfalls Leuchtbakterien in sich tragen. Sie war davon fasziniert, aber auch frustriert. Es erwies sich als unmöglich, die Fische im Labor zu züchten, das heißt, jedes einzelne Exemplar, mit dem sie arbeitete, stammte aus freier Wildbahn und war bereits von Bakterien besiedelt. Deshalb konnte sie die Fragen, für die sie sich eigentlich interessierte, nicht beantworten. Was geschieht, wenn die Partner zum ersten Mal aufeinandertreffen? Wie stellen sie ihre Verbindung her? Was hält andere Mikroorganismen davon ab, den Wirt zu besiedeln? Dann sagte ein Kollege zu ihr: »Sag mal, hast du schon von diesem Tintenfisch gehört?«

Die Tintenfischspezies Euprymna scolopes (auf Englisch heißt sie auch Hawaiian bobtail squid) war Embryologen gut bekannt, und ihre Leuchtbakterien waren Mikrobiologen ein Begriff, aber die Partnerschaft zwischen beiden hatte man bis dahin vollkommen außer Acht gelassen – und genau für diese Partnerschaft interessierte sich McFall-Ngai. Um sie genauer zu studieren, brauchte sie auch selbst einen Partner, jemanden, der etwas von den Bakterien verstand und ihre zoologischen Fachkenntnisse ergänzen konnte. Diese Person war Ned Ruby. »Ich glaube, ich war der dritte Mikrobiologe, den sie gefragt hat, und der erste, der einverstanden war«, sagt er. Die beiden gingen eine berufliche Beziehung ein, aus der wenig später auch eine Liebesbeziehung wurde. Rubys lässiges Surfer-Yin ergänzte McFall-Ngais konzentriertes, staatsfrauliches Yang. Wie einer ihrer Freunde mir erzählte, bildeten sie »eine echte Symbiose«. Heute leiten sie nebeneinanderliegende Labore und teilen sich die Tintenfische.

Die Tiere leben in Aquarien, die einen engen Korridor säumen. Insgesamt ist für vierundzwanzig von ihnen gleichzeitig Platz. Wenn eine neue Ladung eintrifft, sucht Bekiares, der Labormanager, einen Buchstaben aus und lässt dann die Studierenden die Tiere entsprechend taufen. Das Weibchen, dem ich begegnet bin, heißt Yoshi. In den Aquarien nebenan wohnen Yahoo, Ysolde, Yardley, Yara, Yves, Yusuf, Yokel und (Mr.) Yuk. Für die Weibchen ist alle zwei Wochen »Rendezvous-Abend«. Nach der Paarung werden sie in einem »Kinderzimmer« allein gelassen und legen dort in Tanks voller Kunststoffröhren jeweils Hunderte von Eiern. Bis daraus der Nachwuchs schlüpft, vergehen einige Wochen. Als wir das Kinderzimmer besichtigen, steht auf einem Regal ein Plastikbecher, in dem ein paar Dutzend Tintenfischbabys, jedes nur wenige Millimeter lang, herumzappeln. Zehn Tintenfischweibchen können pro Jahr bis zu 60.000 Jungtiere hervorbringen – das ist einer der Gründe, warum sie so ausgezeichnete Labortiere sind. Ein weiterer: Die Jungen sind beim Schlüpfen keimfrei. In freier Wildbahn werden sie innerhalb weniger Stunden von V. fischeri besiedelt. Im Labor können McFall-Ngai und Ruby den Kontakt der geschlüpften Tiere mit Symbionten genau kontrollieren. Sie können Zellen von V. fischeri mit leuchtenden Proteinen markieren und sie dann auf ihrem Weg in die Leuchtorgane des Tintenfisches verfolgen. So können sie zusehen, wie die Partnerschaft beginnt.

Am Anfang steht Physik. Die Oberfläche des Leuchtorgans ist von Schleim und Abschnitten mit beweglichen Haaren bedeckt, auch Cilien genannt. Diese erzeugen eine turbulente Strömung, die Teilchen mit der Größe von Bakterien anzieht, größere aber nicht. Die Mikroorganismen, unter ihnen auch V. fischeri, häufen sich also in dem Schleim an. Jetzt macht die Physik der Chemie Platz. Wenn nur eine Zelle von V. fischeri den Tintenfisch berührt, geschieht noch nichts. Bei zwei Zellen: immer noch nichts. Sobald aber fünf Zellen den Kontakt herstellen, schalten sie im Tintenfisch eine ganze Reihe von Genen ein. Einige davon produzieren einen Cocktail aus mikrobenhemmenden Wirkstoffen, die V. fischeri unbehelligt lassen, für andere Mikroorganismen aber eine unwirtliche Umgebung schaffen. Andere schütten Enzyme aus, die den Schleim des Tintenfisches abbauen und eine Substanz produzieren, die noch mehr Zellen von V. fischeri anlockt. Solche Vorgänge sind die Erklärung dafür, warum V. fischeri in der Schleimschicht schon bald die Oberhand gewinnt, obwohl sie anfangs gegenüber anderen Bakterien zahlenmäßig im Verhältnis 1 zu 1000 unterlegen sind. Nur diese Bakterienart, und nur sie allein, ist in der Lage, die Oberfläche des Tintenfisches in eine Landschaft zu verwandeln, die mehr von ihresgleichen anlockt und Konkurrenten abschreckt. Das Ganze erinnert an die Protagonisten von Science-Fic tion-Geschichten, die unwirtliche Planeten in eine angenehme Heimat terraformieren – nur mit dem Unterschied, dass hier ein Tier terraformiert wird.

Nachdem V. fischeri die Außenseite des Tintenfisches verändert hat, wandert es nach innen. Es schlüpft durch eine von wenigen Poren, wandert durch einen langen Gang, quetscht sich durch eine Engstelle und erreicht schließlich mehrere Krypten, Nischen ohne Ausgang. Dort angekommen, verändert das Bakterium den Tintenfisch weiter. Die Nischen sind mit säulenförmigen Zellen ausgekleidet, die nun größer und dichter werden und die neu eingetroffenen Mikroorganismen in enger Umarmung aufnehmen. Während die Bakterien sich an das umgestaltete Innere gewöhnen, schließen sich die Türen hinter ihnen. Der Zugang zu den Nischen verengt sich, die Gänge ziehen sich zusammen, die Abschnitte mit den Cilien lösen sich auf. Jetzt erreicht das Leuchtorgan seine ausgereifte Form. Nachdem es von den richtigen Bakterien besiedelt wurde – und auch hier ist V. fischeri der einzige Mikroorganismus, der jemals die Reise antritt –, findet keine weitere Besiedlung mehr statt.

Nun ja, na und? Das Ganze hört sich an wie abgelegenes Detailwissen über das Leben eines eigenartigen Tieres. Aber die Eigenschaften der Tintenfische bergen eine weitreichende Folgerung, und die begriff McFall-Ngai sofort. Im Jahr 1994, nachdem ihre erste Versuchsreihe mit den Tintenfischen abgeschlossen war, schrieb sie: »Die Ergebnisse dieser Studien sind die ersten experimentellen Daten, mit denen nachgewiesen wird, dass ein bestimmter bakterieller Symbiont in der Entwicklung von Tieren eine Auslösefunktion haben kann.«

Mit anderen Worten: Mikroorganismen formen den Körper von Tieren.

Aber wie machen sie das? Wie McFall-Ngais Arbeitsgruppe 2004 nachweisen konnte, hat die Veränderungsfähigkeit ihre Ursache in zwei Substanzen auf der Oberfläche von V. fischeri: Peptidoglycan (PGN) und Lipopolysaccharid (LPS). Das war eine Überraschung. Die beiden Verbindungen waren zu jener Zeit ausschließlich im Zusammenhang mit Krankheiten bekannt. Man bezeichnete sie als pathogen-assoziierte Molekülmuster (pathogen-associated molecular patterns oder kurz PAMPs); sie waren charakteristische Substanzen, die das Immunsystem von Tieren auf heraufziehende Infektionen aufmerksam machen. Aber V. fischeri ist kein Krankheitserreger. Es ist mit dem Bakterium verwandt, das beim Menschen die Cholera verursacht, schädigt aber den Tintenfisch überhaupt nicht. Also tauschte McFall-Ngai in der Abkürzung das Pathogen-P gegen ein umfassenderes Mikroorganismen-M aus und bezeichnete die Moleküle nun als MAMPs: Mikroben-assoziierte Molekülmuster. Der neue Begriff ist geradezu ein Symbol für die Mikrobiomforschung als Ganzes. Er sagt der ganzen Welt, dass diese Moleküle nicht nur Anzeichen für Krankheiten sind. Sie können zwar kräftezehrende Entzündungen auslösen, manchmal stehen sie aber auch am Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen einem Tier und einem Bakterium. Ohne sie nimmt das Leuchtorgan nie seine normale, endgültige Form an. Ohne sie überlebt der Tintenfisch zwar, vollzieht aber nie vollständig den Weg zur Reife.

Heute wissen wir, dass viele Tiere – von Fischen bis zu Mäusen – unter dem Einfluss bakterieller Partner heranwachsen, häufig sogar unter der Kontrolle der gleichen MAMPs, die auch das Leuchtorgan des Tintenfischs formen.3 Dank solcher Entdeckungen sehen wir heute die Entwicklung – den Prozess, durch den ein Tier sich von einer einzelnen Zelle in einen funktionsfähigen, ausgewachsenen Organismus verwandelt – in ganz neuem Licht.

Wenn man eine befruchtete Eizelle – von Menschen, von Tintenfischen, es funktioniert mit jeder – vorsichtig isoliert und unter dem Mikroskop betrachtet, sieht man irgendwann, wie sie sich in zwei Zellen teilt, dann in vier, dann in acht. Die Zellkugel wird größer. Sie faltet sich, beult sich aus und verformt sich. Die Zellen tauschen molekulare Signale aus und teilen sich damit gegenseitig mit, welche Gewebe und Organe sie hervorbringen sollen. Die ersten Körperteile bilden sich. Ein Embryo wächst heran und wird immer weiter heranwachsen, solange er ausreichend mit Nährstoffen versorgt ist. Die ganze Abfolge scheint selbstgenügsam zu sein und voranzuschreiten wie ein ungeheuer kompliziertes Computerprogramm, das von allein läuft. Von den Tintenfischen und anderen Tieren wissen wir aber, dass zur Entwicklung noch mehr gehört. Sie läuft nach Anweisungen in den Genen eines Tieres ab, aber auch nach denen in Genen seiner Mikroorganismen. Sie ist das Ergebnis fortdauernder Verhandlungen – einer Unterhaltung zwischen mehreren Arten, von denen nur eine die eigentliche Entwicklung vollzieht. Dabei entfaltet sich ein ganzes Ökosystem.

Ob ein Tier irgendwelche Mikroorganismen braucht, um sich ordnungsgemäß zu entwickeln, kann man am einfachsten überprüfen, indem man sie ihm vorenthält. Manche Arten sterben dann einfach: Die Mücke Aedes aegypti, die das Denguefieber überträgt, schafft es bis zum Larvenstadium, aber nicht weiter.4 Andere vertragen die Keimfreiheit besser. Euprymna scolopes leuchtet einfach nicht mehr; das wäre in McFall-Ngais Labor vielleicht ohne Bedeutung, aber in freier Wildbahn würde das Tier ohne Tarnung zu einer leichten Beute. Wissenschaftler haben auch keimfreie Formen nahezu aller anderen beliebten Labortiere hergestellt, darunter von Zebrafischen, Fliegen und Mäusen. Auch diese Tiere überleben, sind allerdings verändert. »Das keimfreie Tier ist im Großen und Ganzen eine elende Kreatur, und an nahezu jedem Punkt seiner Entwicklung erweckt es den Eindruck, es bedürfe eines künstlichen Substituts für die Keime, die ihm fehlen«, schrieb Theodor Rosebury. »Es ist so, wie ein Kind wäre, wenn wir es, vollständig geschützt vor den Schlägen der Welt, unter Glas halten könnten.«5

Am deutlichsten zeigen sich die seltsamen biologischen Eigenschaften keimfreier Tiere im Darm. Ein gut funktionierender Darm braucht eine große Oberfläche, mit der er Nährstoffe aufnehmen kann; deshalb sind seine Wände dicht mit langen, fingerförmigen Ausstülpungen besetzt, den Zotten. Die Zellen an deren Oberfläche müssen sich ständig regenerieren, denn sie werden durch die vor -übergleitende Nahrung abgeschabt. Außerdem braucht der Darm unter der Oberfläche ein dichtes Netz von Blutgefäßen, die Nährstoffe hin- und hertransportieren. Und er muss abgedichtet sein – seine Zellen müssen eng aneinanderhaften, damit fremde Moleküle (und Mikroorganismen) nicht von seinem Innenraum in die Blutgefäße sickern können. All diese lebenswichtigen Eigenschaften sind beeinträchtigt, wenn die Mikroben fehlen. Wenn Zebrafische oder Mäuse ohne Bakterien aufwachsen, entwickelt sich ihr Darm nicht vollständig, die Zotten sind kürzer, die Wände sind durchlässiger, die Blutgefäße sehen nicht wie ein dichtes städtisches Straßennetz aus, sondern wie vereinzelte Landstraßen, und ihr Regenerationszyklus ist einen Gang heruntergeschaltet. Viele dieser Mängel lassen sich einfach dadurch ausgleichen, dass man die Tiere mit einer normalen Mikroorganismenausstattung oder auch nur mit isolierten Molekülen von Mikroorganismen versorgt.6

Die Bakterien selbst geben dem Darm nicht physisch eine neue Form. Sie wirken vielmehr auf dem Weg über den Wirtsorganismus. Sie sind nicht die Arbeiter, sondern das Management. Dies zeigte Lora Hooper, indem sie keimfreien Mäusen per Infusion ein verbreitetes Darmbakterium namens Bacteroides thetaiotaomicron verabreichte – von seinen Freunden schlicht B-theta genannt.7 Wie sie herausfand, aktivieren die Mikroorganismen ein breites Spektrum verschiedener Mausgene, die an der Aufnahme von Nährstoffen, dem Aufbau einer undurchlässigen Barriere, dem Abbau von Giftstoffen, der Bildung neuer Blutgefäße und der Schaffung reifer Zellen mitwirken. Mit anderen Worten: Der Mikroorganismus teilt den Mäusen mit, wie sie ihre eigenen Gene einsetzen müssen, damit ein gesunder Darm entsteht.8 Der Entwicklungsbiologe Scott Gilbert bezeichnet dieses Prinzip als Co-Entwicklung. Weiter kann man sich von dem immer noch in Umlauf befindlichen Gedanken, Mikroorganismen seien nichts als eine Bedrohung, kaum entfernen. In Wirklichkeit helfen sie uns, zu dem zu werden, was wir sind.9

Skeptiker könnten nun einwenden, dass Mäuse, Zebrafische und Tintenfische die Mikroben für ihre Entwicklung nicht unbedingt brauchen: Eine keimfreie Maus sieht immer noch aus wie eine Maus, geht wie eine Maus und quiekt wie eine Maus. Es ist nicht so, dass man die Bakterien weglässt und plötzlich ein vollkommen anderes Tier vor sich hat. Aber keimfreie Tiere leben in einer anspruchslosen Umwelt: in klimakontrollierten Blasen mit ausreichend Nahrung und Wasser, ohne natürliche Feinde und ohne jedwede Infektionen. In der grausamen freien Wildbahn würden sie kaum überdauern. Sie könnten existieren, vermutlich jedoch nicht lange. Sie können sich allein entwickeln, aber besser ergeht es ihnen mit ihren Partnern, den Mikroorganismen.

Warum? Warum haben Tiere manche Teile ihrer Entwicklung so effizient auf andere Arten übertragen? Warum machen sie nicht alles selbst? »Nach meiner Überzeugung ist das unvermeidlich«, sagt John Rawls, der mit keimfreien Mäusen und Tintenfischen gearbeitet hat. »Mikroben sind für Tiere ein notwendiger Lebensbestandteil. Man kann sie nicht loswerden.« Denken wir noch einmal daran, dass die Tiere in einer Welt entstanden sind, in der es bereits seit Jahrmilliarden von Mikroorganismen wimmelte. Sie waren die Herrscher über den Planeten, lange bevor wir auf der Bildfläche erschienen. Und als wir schließlich da waren, entwickelten sich bei uns natürlich Wege, auf denen wir mit den Mikroben um uns herum in Wechselwirkung treten konnten. Alles andere wäre töricht, so als würden wir uns mit verbundenen Augen, Ohrstöpseln und Maulkorb in eine fremde Stadt begeben. Außerdem waren die Mikroorganismen nicht nur unvermeidlich, sondern nützlich. Sie fütterten die ersten Tiere. Ihre Gegenwart lieferte wertvolle Hinweise auf nährstoffreiche Regionen, auf Temperaturen, die dem Leben förderlich waren, oder auf flache Oberflächen, auf denen man sich niederlassen konnte. Indem die ersten Tiere solche Hinweise aufnahmen, verschafften sie sich wertvolle Informationen über ihre Umwelt. Und wie wir noch genauer erfahren werden, gibt es bis heute eine Fülle solcher uralter Wechselbeziehungen.

Nicole King ist weit weg von zu Hause. Normalerweise leitet sie ein Labor an der University of California in Berkeley, aber derzeit ist sie in London auf Urlaub. Sie will mit ihrem achtjährigen Sohn Nate eine Aufführung des Musicals Billy Elliot besuchen, allerdings nur unter der Bedingung, dass er eine halbe Stunde lang still neben uns auf der Parkbank sitzt, während wir über eine wenig bekannte Gruppe von Lebewesen sprechen, die Choanoflagellaten, auch Kragengeißeltierchen genannt. King ist eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die sich eingehend mit diesen Tierchen beschäftigen, und da sie voller Zuneigung von ihren »Choanos« spricht, werde ich sie auch so nennen.

Man findet sie in Gewässern auf der ganzen Welt, von tropischen Flüssen bis zu dem Meer unter dem Antarktiseis. Während wir uns unterhalten, meldet sich Nate, der bis dahin in aller Ruhe auf einem Block gekritzelt hat, zu Wort und zeichnet eines. Er malt ein Oval mit wellenförmigem Schwanz und einem Kragen aus steifen Filamenten – das Ganze sieht aus wie eine Samenzelle im Hemd. Der schlagende Schwanz treibt Bakterien und andere Teilchen in Richtung des Kragens, wo sie eingefangen, verschluckt und verdaut werden; Choanos sind aktive Räuber. Nates Zeichnung fängt ihre wesentlichen Eigenschaften sehr schön ein. Insbesondere macht sie deutlich, dass Choanos einzellige Lebewesen sind. Sie sind Eukaryonten wie du und ich, inklusive der Luxuseigenschaften wie Mitochondrien und einem Zellkern, die bei Bakterien fehlen. Aber wie Bakterien bestehen sie nur aus einer frei schwimmenden Zelle.10

Manchmal zeigen diese Zellen eine gesellige Seite. Salpingoeca rosetta, Kings Lieblingsspezies, bildet häufig Kolonien oder Rosetten. Auch die kann ihr Sohn zeichnen – Dutzende von Choanos mit nach innen gerichteten Köpfen und schlagenden Schwänzen auf der Außenseite sehen aus wie behaarte Himbeeren. Es ist, als wären mehrere Choanos aufeinander zugeschwommen, aber in Wirklichkeit ist das Gebilde nicht durch eine Kollision entstanden, sondern durch Zellteilung. Choanos vermehren sich durch Zweiteilung, aber manchmal trennen die beiden Tochterzellen sich nicht völlig, sondern sind am Ende durch eine kurze Brücke verbunden. Das geschieht immer und immer wieder, bis sich eine Kugel aus verbundenen Zellen gebildet hat, die von einer einzigen Hülle umgeben sind. Das ist die Rosette. Sie wäre eine uninteressante biologische Banalität, wären die Choanos nicht die nächsten lebenden Verwandten aller Tiere.11 Sie sind entfernte Vettern jedes Froschs, Skorpions, Regenwurms, Zaunkönigs oder Seesterns. King, die verstehen will, wie die Evolution des Tierreichs begonnen hat, ist von den Choanos fasziniert. Das gilt insbesondere für den Prozess, durch den aus einer einzigen Zelle ein vielzelliger Haufen und damit die Rosette wird.

Wir wissen sehr wenig darüber, wie die ersten Tiere aussahen, denn ihr weicher Körper bildete keine Fossilien. Sie kamen und gingen wie ein Winterhauch und hinterließen keine Spuren in der Welt. Wir können aber über sie einige begründete Vermutungen anstellen. Alle heutigen Tiere sind vielzellige Lebewesen. Ihr Dasein beginnt als hohle Zellkugel, und ihren Lebensunterhalt sichern sie sich durch Fressen. Deshalb ist es ein vernünftiger Gedanke, dass auch unser gemeinsamer Vorfahre die gleichen Eigenschaften hatte.12 Die Rosetten geben demnach heute wieder, wie die ersten Tiere ausgesehen haben dürften. Und der Prozess, durch den sie entstehen – eine einzige Zelle teilt sich und bildet eine zusammenhängende Kolonie –, vollzieht den evolutionären Übergang nach, der die Urtiere entstehen ließ, auf die schließlich die Eichhörnchen, Tauben, Enten, Kinder und alle anderen Tiere in dem Park folgten, in dem King und ich uns unterhalten. Indem sie diese harmlosen, wenig bekannten Einzeller studiert, kommt King der Aufklärung des rätselhaften Ursprungs unseres ganzen Organismenreiches so nahe, wie es überhaupt nur möglich ist.

Ihre Beziehung zu S. rosetta war nicht unproblematisch. Sie wusste, dass die Spezies in freier Wildbahn Kolonien bildet, konnte sie aber kaum dazu bringen, das auch in ihrem Labor zu tun. In ihren Händen und auch in denen anderer Wissenschaftler verwandelten sich die geselligen Geschöpfe auf rätselhafte Weise in Einzelgänger. Sie änderte Temperatur, Nährstoffkonzentration, Säuregehalt … doch es klappte nicht. King konnte das Problem nur lösen, indem sie aufgab. Frustriert wandte sie sich einem anderen Ziel zu: der Sequenzierung des Genoms von S. rosetta. Auch das brachte Schwierigkeiten mit sich. King hatte S. rosetta mit Bakterien gefüttert, aber die musste sie jetzt loswerden, damit ihre Gene nicht die Ergebnisse der Sequenzierung verfälschten. Also fütterte sie die Choanos mit einer ganzen Reihe von Antibiotika, und zerstörte damit überraschenderweise gänzlich deren Fähigkeit, Kolonien zu bilden. Hatten sie sich schon zuvor nur widerwillig zusammengetan, so lehnten sie es jetzt rigoros ab. Die Bakterien hatten irgendetwas an sich gehabt, was die Choanos gesellig machte.

Die Doktorandin Rosie Alegado nahm die ursprünglichen Wasserproben, isolierte die darin enthaltenen Mikroorganismen und fütterte die Choanos mit einem nach dem anderen. Von vierundsechzig Arten stellte nur ein Bakterium die Fähigkeit zur Rosettenbildung wieder her. Das war die Erklärung dafür, warum Kings anfängliche Experimente nie geklappt hatten: S. rosetta bildet nur dann Kolonien, wenn es mit den richtigen Mikroben zusammentrifft. Alegado identifizierte die verant wortliche Spezies und bezeichnete sie als Algoriphagus machipongonensis – es war eine neue Art, aber sie gehörte zu der Ab stam mungs linie der Bacteroidetes, die in unserem Darm vorherrscht.13 Außerdem fand sie heraus, wie die Bakterien die Rosettenbildung in Gang setzen: Sie schütten eine fettähnliche Substanz namens RIF-1 aus. »Ich habe es RIF genannt, das bedeutet Rosetteninduzierender Faktor, und die Zahl 1 habe ich ihm gegeben, weil ich sicher bin, dass es noch weitere gibt«, sagt sie. Sie hatte recht. Mittlerweile konnte die Arbeitsgruppe mehrere weitere Moleküle von vielen anderen Mikroorganismen identifizieren, von denen sich die Choanos zu einem Leben in der Kolonie verleiten lassen.

Nach Alegados Vermutung sind alle diese Substanzen ein Zeichen dafür, dass Nahrung in der Nähe ist. In der Gruppe können Choanos die Bakterien besser einfangen als alleine, und so tun sie sich zusammen, wenn sie bemerken, dass Bakterien nicht weit sind. »Ich glaube, die Choanos sind stets auf der Hut«, sagt Alegado. »Sie können nur langsam schwimmen, und die Bacteroidetes sind ein Hinweis darauf, dass sie sich in ein Umfeld mit guten Ressourcen und Nahrung begeben. Dann können sie sich auch dazu entschließen, eine Rosette zu bilden.«

Was hat das alles zu bedeuten? Trieben Bakterien die Entstehung der Tiere voran, weil sie Stimuli lieferten, die unsere einzelligen Vorfahren dazu veranlassten, vielzellige Kolonien zu bilden? King rät zur Vorsicht. Die heutigen Choanos sind nicht unsere Vorfahren, sondern unsere Vettern. Aus ihrem Verhalten abzuleiten, was die vorzeitlichen Choanos taten, wäre ein großer Gedankensprung, ganz zu schweigen davon, wie sie auf vorzeitliche Mikroorganismen reagierten. Zu solchen Behauptungen ist King noch nicht bereit. Zunächst einmal will sie herausfinden, ob auch moderne Tiere genauso auf Bakterien reagieren. Wenn das der Fall ist – wenn die gleichen Bakterien mithilfe der gleichen Moleküle die Entwicklung von Choanos wie auch von Tieren lenken –, würde dies nachdrücklich für den Gedanken sprechen, dass wir es mit einem alten Phänomen zu tun haben, das schon für unsere Ursprünge eine Rolle spielte. »Dass es in den Ozeanen, in denen sich die ersten Tiere entwickelten, massenhaft Bakterien gab, ist, glaube ich, unumstritten«, sagt King. »Sie waren vielgestaltig. Sie beherrschten die Welt, und die Tiere mussten mit ihnen zurechtkommen. Da ist der Gedanke, dass manche von Bakterien produzierten Moleküle die Entwicklung der ersten Tiere beeinflusst haben könnten, nicht besonders weit hergeholt.« Nein, weit hergeholt ist er nicht – vor allem wenn man weiß, was sich noch heute in Pearl Harbor abspielt.

Am Morgen des 7. Dezember 1941 flog ein großes Geschwader japanischer Kampfflugzeuge einen Überraschungsangriff auf den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii. Eines der ersten Opfer war das amerikanische Schlachtschiff Arizona; als es sank, riss es mehr als Tausend Offiziere und Besatzungsmitglieder mit in die Tiefe. Auch die anderen sieben Schlachtschiffe im Hafen wurden entweder zerstört oder schwer beschädigt, außerdem achtzehn weitere Schiffe und dreihundert Flugzeuge. Heute ist der Hafen ein ruhigerer Ort. Er gilt zwar nach wie vor als wichtiger Marinestützpunkt und ist weiterhin Liegeplatz mehrerer großer Schiffe, die größte Gefahr geht aber nicht mehr vom Himmel aus, sondern vom Meer.

Was mit den Schiffen geschieht, kann man sehen, wenn man irgendein beliebiges Stück Metall ins Wasser wirft. Innerhalb weniger Stunden wachsen darauf die ersten Bakterien. Dann folgen häufig die Algen, und vielleicht auch Muscheln oder Seepocken. Nach einigen Tagen jedoch tauchen weiße Röhren auf. Sie sind winzig klein – jede hat nur eine Länge von einigen Zentimetern und wenige Millimeter Durchmesser. Schon bald aber sind es Hunderte, dann Tausende und schließlich Millionen. Am Ende sieht die ganze Oberfläche aus wie ein gefrorener Langflorteppich. Die Röhren bilden sich überall: auf Felsen, an Pfeilern, Fischkäfigen und Schiffen. Wenn ein Flugzeugträger mehrere Monate im Hafen liegt, bilden die Röhren an seinem Rumpf am Ende mehrere Schichten von einigen Zentimetern Dicke. Der Fachausdruck lautet Fouling.14 Laien nennen es »extrem nervig«. Die Marine schickt manchmal Taucher unter die Schiffe, damit sie Schiffsschrauben und andere empfindliche Teile in Kunststoffsäcke hüllen, sodass die Röhren sie nicht blockieren können.

Jeder dieser weißen Zylinder beherbergt ein Tier, von dem er auch hergestellt wird. Marineangehörige nennen es »den Schnörkelwurm«. Der Meeresbiologe Michael Hadfield von der University of Hawaii kennt den Wurm unter dem Namen Hydroides elegans, zu Deutsch Kalkröhrenwurm. Er wurde erstmals im Hafen von Sydney gesichtet und beschrieben und ist seitdem im Mittelmeer, in der Karibik sowie an den Küsten von Japan und Hawaii aufgetaucht – immer in Buchten mit warmem Wasser und Schiffen. Indem er sich an von Menschen gemachte Schiffsrümpfe klammert, hat dieser meisterhafte blinde Passagier die ganze Welt besiedelt.

Hadfield erforscht die Schnörkelwürmer seit 1990 im Auftrag der Marine. Zuvor war er bereits Experte für Larven, die im Meer leben, und für die Navy sollte er verschiedene Anstrichfarben testen, um festzustellen, ob eine davon die Würmer abwehren konnte. Der eigentliche Trick aber, so dachte er, wäre, herauszufinden, warum die Würmer überhaupt den Entschluss fassen, sich niederzulassen. Wie kommt es, dass sie plötzlich an Schiffsrümpfen auftauchen?

Das ist eine uralte Frage. Armand Marie Leroi schreibt in seiner großartigen Aristoteles-Biografie: »Ein Marinegeschwader, sagt [Aristoteles], ankerte einmal vor Rhodos und es wurde eine Menge irdenes Geschirr über Bord geworfen. In den Töpfen sammelten sich Schlamm und dann lebendige Austern. Da Austern sich nicht auf Töpfe oder überhaupt bewegen können, müssen sie aus dem Schlamm entstanden sein.«15 Diese Idee der Spontanzeugung war jahrhundertelang in Mode, aber sie ist hoffnungslos falsch. Hinter dem plötzlichen Auftauchen von Austern und Röhrenwürmern steckt eine viel banalere Ursache. Die Tiere machen wie Korallen, Seeigel, Muscheln und Krebse ein Larvenstadium durch, und als Larven treiben sie durch das offene Wasser, bis sie irgendwo hängen bleiben. Die Larven sind mikroskopisch klein, außerordentlich zahlreich (möglicherweise bis zu hundert in einem Tropfen Meerwasser) und gleichen in nichts ihrem ausgewachsenen Gegenstück. Ein junger Seeigel ähnelt mehr einem Federball als dem Nadelkissen, zu dem er später wird. Und eine Larve von H. elegans ähnelt weniger dem langen, von einer Röhre umhüllten Wurm, sondern eher einem Wanddübel mit Augen. Man mag kaum glauben, dass es sich um dasselbe Tier handelt.

Irgendwann werden die Larven sesshaft. Sie legen ihre jugendliche Wanderlust ab und bauen ihren Körper so um, dass er die Form des ortsfesten, ausgewachsenen Tieres annimmt. Dieser Prozess, die Metamorphose, ist der wichtigste Augenblick in ihrem Leben. Früher vermutete man, dass er sich nach dem Zufallsprinzip abspielt, das heißt, dass die Larven sich an beliebigen Orten niederlassen und überleben, wenn sie Glück haben und an einen guten Standort geraten. In Wirklichkeit gehen sie aber absichtsvoll vor und sind wählerisch. Um den besten Ort für die Metamorphose zu finden, richten sie sich nach Anhaltspunkten wie chemischen Spuren, Temperaturgradienten und sogar Geräuschen.

Wie Hadfield schon bald herausfand, lässt sich H. elegans von Bakterien und insbesondere von Biofilmen anlocken, den schleimigen Matten aus dicht gedrängten Bakterien, die sich auf Oberflächen unter Wasser sehr schnell bilden. Findet eine Larve einen solchen Biofilm, schwimmt sie an den Bakterien entlang und drückt ihr Gesicht dagegen. Schon nach wenigen Minuten ist sie verankert: Dazu presst sie einen Schleimfaden aus dem Schwanz und scheidet rund um ihren Körper eine durchsichtige »Socke« aus. Nachdem sie sich auf diese Weise befestigt hat, beginnt ihre Veränderung. Sie verliert die kleinen Ruderhaare, mit denen sie zuvor im Wasser vorangekommen ist. Sie wird länger. Um den Kopf wächst ein Ring aus Tentakeln, mit denen sie nach Nahrungsbrocken greifen kann. Und sie beginnt, die harte Röhre aufzubauen. Mittlerweile ist sie ausgewachsen, und fortbewegen wird sie sich nie mehr. Für diese Verwandlung sind Bakterien eine unabdingbare Voraussetzung. Eine saubere, keimfreie Glasflasche ist für H. elegans ein Nimmerland, ein Ort der ewigen Unreife.

Die Würmer sprechen nicht auf irgendwelche beliebigen Mikroorganismen an. Von den vielen Stämmen, die in den Gewässern vor Hawaii vorkommen, können nach Hadfields Befunden nur wenige die Metamorphose in Gang setzen, und nur ein einziger tut es sehr energisch. Sein Name ist ein wahrer Zungenbrecher: Pseudoalteromonas luteoviolacea. Glücklicherweise nennt Hadfield ihn einfach P-luteo. Mehr als jede andere Mikroorganismenart kann diese die Wurmlarven hervorragend in ausgewachsene Würmer verwandeln. Ohne die Bakterien würden die Würmer ihren ausgereiften Zustand niemals erreichen.16

Und sie sind nicht die Einzigen, denen es so ergeht. Auch manche Schwammlarven lassen sich auf Oberflächen hinuntersinken und verwandeln sich, wenn sie mit Bakterien zusammentreffen. Das Gleiche tun Muscheln, Rankenfußkrebse, Seescheiden und Korallen. Auch Austern stehen auf der Liste – tut mir leid, Aristoteles. Hydractinia, eine mit Tentakeln ausgestattete Verwandte der Quallen und Seeanemonen, geht in den ausgewachsenen Zustand über, wenn sie mit Bakterien in Kontakt kommt, die auf den Gehäusen von Einsiedlerkrebsen leben. In den Ozeanen wimmelt es von Tierbabys, die ihren Lebenszyklus nur im Zusammenspiel mit Bakterien vollenden können, und oft insbesondere mit P-luteo.17

Was würde geschehen, wenn es diese Mikroorganismen plötzlich nicht mehr gäbe? Würden alle genannten Tiere aussterben, weil sie nicht mehr heranreifen und sich fortpflanzen können? Würden die Korallenriffe – die reichhaltigsten Ökosysteme im Meer – sich nicht mehr bilden, wenn bakterielle Kundschafter nicht zuerst die richtigen Oberflächen finden? »Ich glaube, etwas so Großspuriges habe ich nie behauptet«, sagt Hadfield mit der typischen Vorsicht des Wissenschaftlers. Dann aber fügt er zu meiner Überraschung hinzu: »Aber man könnte es durchaus so sagen. Sicher braucht nicht jede Larve im Meer einen Reiz in Form von Bakterien, und es gibt da draußen unzählige Larven, die man noch nie untersucht hat. Aber unter den Röhrenwürmern und Korallen und Seeanemonen und Rankenfußkrebsen und Moostierchen und Schwämmen … eine ellenlange Liste – unter all diesen Gruppen gibt es Beispiele dafür, dass der Schlüssel bei Bakterien liegt.«

Auch hier könnte man fragen: Warum verlassen sich die Tiere auf Hinweise von Bakterien? Möglicherweise können sich die Larven mithilfe der Mikroorganismen auf einer Oberfläche besser festhalten, oder die Mikroorganismen stellen Moleküle bereit, die Krankheitserreger in Schach halten. Aber Hadfield glaubt, dass ihr Nutzen schlichter ist. Ein Biofilm liefert der Tierlarve wichtige Informationen. Er besagt, dass es erstens eine feste Oberfläche gibt, die zweitens schon seit einiger Zeit dort vorhanden ist, drittens nicht giftig ist und viertens genug Nährstoffe enthält, um Mikroorganismen zu versorgen. Gründe genug, sich niederzulassen. Die bessere Frage würde lauten: Warum sollte man sich nicht auf Hinweise von Bakterien verlassen? Oder noch besser: Welche andere Wahl hat man? »Als die Larven der ersten Meerestiere bereit waren, sich niederzulassen, gab es keine sauberen Oberflächen«, sagt Hadfield im Anklang an Rawls und King. »Sie waren alle von Bakterien bedeckt. Da ist es nicht verwunderlich, dass Unterschiede in diesen Bakteriengemeinschaften der ursprüngliche Anhaltspunkt für das Sesshaftwerden waren.«

Sowohl Kings Choanos als auch Hadfields Würmer sind ausgezeichnet auf die Mikroorganismen abgestimmt und werden von ihnen auf dramatische Weise verändert. Ohne Bakterien wären die geselligen Choanos für alle Zeiten Einzelgänger, und die Wurmlarven würden immer unreif bleiben. Beide sind wunderschöne Beispiele dafür, wie gründlich Mikroben den Körperbau von Tieren (oder der Vettern von Tieren) formen können. Und doch handelt es sich hier nicht um Symbiosen im klassischen Sinn. Die Würmer nehmen P-luteo nicht in ihren Körper auf, und offensichtlich interagieren sie mit dem Bakterium auch nicht mehr, wenn sie ausgewachsen sind. Es ist eine vor -übergehende Beziehung. Sie gleichen Touristen, die sich bei Passanten nach dem Weg erkundigen und dann weitergehen. Andere Tiere aber gehen mit Mikroorganismen auch dauerhafte Beziehungen ein, die von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt sind.

Ein solches Tier ist der Plattwurm Paracatenula. Dieses winzige Geschöpf, das auf der ganzen Welt in warmen Meeressedimenten lebt, treibt die Symbiose ins Extrem. Sein Körper ist ungefähr einen Zentimeter lang und besteht zu fast 50 Prozent aus bakteriellen Symbionten. Sie sind im Trophosom verpackt, einem Körperhohlraum, der den Wurm fast zu 90 Prozent ausfüllt. Hinter dem Gehirn befinden sich praktisch nur noch Mikroben oder ihre Lebensräume. Harald Gruber-Vodicka, der diese Plattwürmer erforscht, bezeichnet die Bakterien als Motor und Batterie: Sie versorgen den Wurm mit Energie und speichern sie in Form von Fetten und Schwefelverbindungen. Diese Speicher verleihen dem Plattwurm seine leuchtend weiße Farbe. Außerdem liefern sie den Antrieb für seine ungewöhnlichste Fähigkeit: Paracatenula ist ein Meister der Regeneration.18 Schneidet man ihn in der Mitte durch, werden beide Teile wieder zu vollständig funktionsfähigen Tieren. An der hinteren Hälfte wächst sogar ein neuer Kopf mit einem Gehirn. »Wenn man sie klein hackt, kann man zehn von ihnen bekommen«, sagt Gruber-Vodicka. »Genau das tun sie wahrscheinlich in der Natur. Sie werden immer länger, dann bricht ein Ende ab, und es sind zwei.« Diese Fähigkeit ist vollständig vom Trophosom, den darin lebenden Bakterien und der von ihnen gespeicherten Energie abhängig. Solange ein Bruchteil des Plattwurms eine ausreichende Zahl von Symbionten enthält, kann daraus wieder das ganze Tier werden. Sind zu wenig Symbionten vorhanden, stirbt es. Was das bedeutet, widerspricht der Intuition: Der einzige Teil des Plattwurms, der sich nicht regenerieren kann, ist der bakterienfreie Kopf. Am Schwanz wächst ein neues Gehirn, aber das Gehirn allein bringt keinen Schwanz hervor.

Die Partnerschaft von Paracatenula mit den Mikroorganismen ist typisch für das gesamte Tierreich, Sie und mich eingeschlossen. Wir mögen nicht über die wundersamen Selbstheilungskräfte des Plattwurms verfügen, aber auch wir beherbergen Mikroorganismen im Inneren unseres Körpers und stehen während unseres gesamten Lebens mit ihnen in Wechselbeziehung. Anders als Hadfields Röhrenwürmer, deren Körperbau sich durch Bakterien aus der Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben verändert, wird unser Körper durch die Bakterien in uns ständig neu aufgebaut und umgeformt. Unsere Beziehung zu ihnen ist kein einmaliger Austausch, sondern ein ständiges Aushandeln.

Wie wir bereits erfahren haben, wirken sich Mikroorganismen auf die Entwicklung des Darms und anderer Organe aus, aber auch nachdem diese Aufgabe erledigt ist, kommen sie nicht zur Ruhe. Den Körper eines Tieres in Gang zu halten, erfordert Arbeit. Oder, mit den Worten von Oliver Sacks: »Nichts ist für das Überleben und die Unabhängigkeit von Lebewesen – seien es nun Elefanten oder Protozoen – von größerer Bedeutung als die Aufrechterhaltung einer gleichbleibenden inneren Umwelt.«19 Und dafür sind Mikroorganismen unentbehrlich. Sie wirken sich auf die Fettspeicherung aus. Sie tragen dazu bei, dass die innere Auskleidung des Darms und die Hautoberfläche sich erneuern können, indem geschädigte und abgestorbene Zellen durch neue ersetzt werden. Sie sorgen für die Unversehrtheit der Blut-Hirn-Schranke, eines Geflechts aus dicht gedrängten Zellen, das Nährstoffe und kleine Moleküle vom Blut ins Gehirn passieren lässt, größeren Molekülen und lebenden Zellen aber den Weg versperrt. Und sie beeinflussen sogar den unaufhörlichen Umbau des Skeletts, in dessen Verlauf frische Knochenmasse eingelagert und altes Material resorbiert wird.20

Nirgendwo ist dieser ständige Einfluss deutlicher zu erkennen als im Immunsystem, den Zellen und Molekülen, die gemeinsam unseren Organismus vor Infektionen und anderen Gefahren schützen. Dieses System ist höllisch kompliziert. Man kann sich eine riesige Wundermaschine à la Rube Goldberg vorstellen, die aus einer scheinbar endlosen Anordnung von Bestandteilen besteht, und diese Bestandteile erzeugen einander, lösen einander aus und geben sich gegenseitig Signale. Nun stellen wir uns die gleiche Maschine als knarrendes, halb fertiges Chaos vor, in dem jedes Einzelteil nur halb ausgebildet, in zu geringer Zahl vorhanden oder falsch verdrahtet ist. So sieht das Immunsystem eines keimfreien Tieres aus. Das ist der Grund, warum ein solches Tier »für Infektionen aller Art anfällig [ist] … das Tier verharrt in einem infantilen Unreifestadium und ist den Gefahren der Welt nicht gewachsen«, wie Theodor Rosebury es formulierte.21

Wie wir daran ablesen können, stellt das Genom eines Tieres nicht alles bereit, das dafür notwendig ist, dass ein ausgereiftes Immunsystem entstehen kann. Es bedarf auch des Beitrag eines Mikrobioms.22 In Hunderten von Fachartikeln wurde an ganz unterschiedlichen biologischen Arten – beispielsweise Mäusen, Tsetsefliegen und Zebrafischen – gezeigt, dass Mikroben in irgendeiner Form dazu beitragen, das Immunsystem zu formen. Sie haben Einfluss auf die Entstehung ganzer Klassen von Immunzellen und auf die Entwicklung von Organen, die solche Zellen herstellen und speichern. Besonders wichtig sind sie im Frühstadium des Lebens, wenn der Immunapparat zum ersten Mal aufgebaut wird und sich auf die große, böse Welt einstellt. Und auch wenn die Maschine erst einmal läuft, stimmen Mikroorganismen ihre Reaktionen weiterhin auf Gefahren ab.23

Ein gutes Beispiel sind Entzündungen: Bei diesen Abwehrreaktionen eilen Immunzellen an den Ort einer Verletzung oder Infektion, was zu Schwellungen, Rötungen und Wärmeentwicklung führt. Sie tragen entscheidend dazu bei, den Körper vor Gefahren zu schützen; ohne Entzündungen wären wir von Infektionen durchsetzt. Zum Problem wird eine Entzündung, wenn sie sich im ganzen Körper ausbreitet, zu lange andauert oder schon bei der geringsten Provokation in Gang kommt: Dann führt sie zu Asthma, Arthritis und anderen entzündlichen Erkrankungen oder Autoimmunkrankheiten. Eine Entzündung muss also zum richtigen Zeitpunkt ausgelöst und angemessen gesteuert werden. Ihre Unterdrückung ist ebenso wichtig wie ihre Aktivierung. Für beides sorgen Mikroorganismen. Manche Arten regen die Produktion kämpferischer, entzündungsfördernder Immunzellen an, andere lassen besänftigende, entzündungshemmende Zellen entstehen.24 Gemeinsam versetzen sie uns in die Lage, auf Gefahren zu reagieren, ohne aber die Reaktion zu weit zu treiben. Ohne sie geht dieses Gleichgewicht verloren; das ist der Grund, warum keimfreie Mäuse sowohl für Infektionen als auch für Autoimmunkrankheiten anfällig sind: Sie können weder eine angemessene Immunantwort aufbauen, wenn sie notwendig ist, noch in ruhigeren Zeiten eine unangemessene Antwort abwehren.

Halten wir hier einmal inne und überlegen wir, wie seltsam das alles ist. Die traditionelle Sicht auf das Immunsystem steckt voller militärischer Metaphern und feindseliger Formulierungen. Wir halten es für eine Abwehrstreitmacht, die das Selbst (unsere eigenen Zellen) vom Nichtselbst (Mikroorganismen und allem anderen) unterscheidet und Letzteres ausrottet. Und jetzt erfahren wir, dass Mikroorganismen unser Immunsystem überhaupt erst zusammenbauen und abstimmen!

Betrachten wir als Beispiel einmal das verbreitete Darmbakterium mit dem Namen Bacteroides fragilis oder »B-frag«. Wie Sarkis Mazmanian im Jahr 2002 zeigen konnte, beseitigt gerade dieser Mikroorganismus in keimfreien Mäusen einige Störungen des Immunsystems. Insbesondere stellt er eine ausgewogene Menge an T-Helferzellen wieder her, einer unentbehrlichen Klasse von Immunzellen, die den ganzen übrigen Apparat antreiben und koordinieren.25 Um das herauszufinden, brauchte Mazmanian nicht einmal den vollständigen Mikroorganismus. Er wies nach, dass eine einzige Zuckerverbindung auf seiner Außenhaut, das Polysaccharid A (PSA), ganz allein die Anzahl der T-Helferzellen erhöhen konnte. Damit hatte zum ersten Mal jemand gezeigt, dass ein einziger Mikroorganismus – nein, ein einziger von diesem Mikroorganismus produzierter Molekültyp – eine bestimmte Immunstörung beseitigen kann. Später wies Mazmanians Arbeitsgruppe nach, dass PSA zumindest bei Mäusen auch entzündliche Krankheiten wie Colitis (Darmentzündungen) und Multiple Sklerose (die Nervenzellen schädigt) verhindern und heilen kann.26 Diese Krankheiten sind auf eine Überreaktion des Immunsystems zurückzuführen; PSA sorgt für Ruhe und damit für Gesundheit.

Aber denken wir daran: PSA ist ein Bakterienmolekül, und damit gehört es zu den Substanzen, die das Immunsystem der herkömmlichen Weisheit zufolge als Gefahr einstufen sollte. PSA sollte Entzündungen auslösen. In Wirklichkeit tut es das Gegenteil: Es dämpft Entzündungen und beruhigt das Immunsystem. Mazmanian bezeichnet es als »Symbiosefaktor« – es ist eine chemische Nachricht des Mikroorganismus an den Wirt, und sie besagt: Ich komme in friedlicher Absicht.27 Damit ist eindeutig gezeigt, dass das Immunsystem nicht aufgrund einer angeborenen festen Verdrahtung den Unterschied zwischen harmlosen Symbionten und bedrohlichen Krankheitserregern kennt. In diesem Fall macht erst der Mikroorganismus die Unterscheidung möglich.

Wie können wir da das Immunsystem noch als Armee zerstörerischer Truppen betrachten, die kriegslüstern darauf aus sind, Mikroorganismen zu vernichten? Ganz offensichtlich ist die Sache komplizierter. Das System kann im eigenen Körper auf katastrophale Weise hochkochen, beispielsweise bei Autoimmunkrankheiten wie Diabetes des Typs 1 oder Multipler Sklerose. Andererseits köchelt es in Gegenwart unzähliger einheimischer Mikroorganismen wie B-frag sanft vor sich hin. Es ist also meines Erachtens zutreffender, das Immunsystem als eine Gruppe von Rangern zu sehen, als Ökosystem-Manager in einem Nationalpark. Sie müssen die Zahl der dort ansässigen Arten genau kontrollieren und problematische Eindringlinge vertreiben.

Aber die Sache hat noch einen weiteren Dreh: Die Bewohner des Parks haben die Ranger überhaupt erst eingestellt. Sie haben ihren Wärtern gesagt, für welche Arten sie sorgen und welche sie vertreiben sollen. Außerdem produzieren sie ständig Substanzen wie PSA, die mit darüber bestimmen, wie aufmerksam und reaktionsfähig die Wärter sind. Das Immunsystem ist nicht nur ein Mittel, um Mikroorganismen unter Kontrolle zu halten. Es wird zumindest teilweise auch von Mikroorganismen kontrolliert. Damit ist es schlicht ein weiterer Weg, auf dem unsere Vielheiten für die Erhaltung unseres Körpers sorgen.

Wenn wir eine Liste aller Arten in einem bestimmten Mikrobiom zusammenstellen, wissen wir, wer alles dazugehört. Eine Liste aller Gene in diesen Mikroorganismen zeigt, wozu sie in der Lage sind.28 Zählt man aber alle Substanzen auf, die von den Mikroorganismen produziert werden – ihre Stoffwechselprodukte –, können wir daraus ablesen, was diese Arten tatsächlich tun. Eine Reihe solcher Substanzen haben wir bereits kennengelernt, so den Symbiosefaktor PSA und die beiden von McFall-Ngai nachgewiesenen MAMPs, die Einfluss auf Tintenfische haben. Es gibt aber noch Hunderttausende weitere, und mit der Beantwortung der Frage, was sie alle tun, stehen wir erst ganz am Anfang.29 Diese Substanzen sind das Mittel, durch das Tiere mit ihren Symbionten in Austausch treten. Viele Wissenschaftler bemühen sich heute darum, bei diesem Austausch mitzuhören – und nicht nur sie. Die von Mikroorganismen produzierten Moleküle können den Körper ihres Wirtes auch verlassen, durch die Luft treiben und Nachrichten über größere Entfernungen transportieren. Solche Verlautbarungen kann man riechen, wenn man sich in die Savannen Afrikas aufmacht.

Unter allen großen Raubtieren Afrikas sind die Tüpfelhyänen die geselligsten. Zu einem Löwenrudel können bis zu einem Dutzend Individuen gehören, in einer Hyänensippe sind es vierzig bis achtzig. Nicht alle halten sich ständig am selben Ort auf: Im Laufe des Tages bilden sich immer wieder kleine Untergruppen, die sich später auflösen. Wegen dieser Dynamik sind die Hyänen großartige Forschungsobjekte für angehende Freilandbiologen. »Man kann auch Löwen im Freiland beobachten, aber sie liegen nur herum. Oder man arbeitet jahrelang mit Wölfen und sieht immer nur ihre Exkremente oder hört sie heulen«, sagt der hyänenbegeisterte Kevin Theis. »Aber bei den Hyänen … da gibt es Begrüßung, Rückkehr, Signale für Dominanz oder Unterwerfung. Jungtiere bemühen sich darum, ihren Platz in der Sippe zu finden, zugewanderte Männchen verschaffen sich einen Überblick darüber, wer alles dazugehört. Ihr Sozialleben ist um ein Vielfaches komplizierter.«

Diese Komplexität meistern die Hyänen mit einem breiten Repertoire verschiedener Signale, und manche davon sind chemischer Natur. Eine Tüpfelhyäne stellt sich beispielsweise breitbeinig über einen Grashalm und fährt an der Hinterseite eine Duftdrüse aus. Sie zieht die Drüse über den Grashalm und hinterlässt eine dünne Paste. Deren Farbe schwankt zwischen schwarz und orange, die Konsistenz von pulverig bis flüssig. Und der Geruch? »Für mich riecht es wie gärender Mulch, andere riechen auch Cheddarkäse oder billige Seife«, sagt Theis.

Er hatte sich schon seit einigen Jahren mit der Paste beschäftigt, da fragte ihn ein Kollege, ob Bakterien zu ihrem Geruch beitragen könnten. Theis war wie vor den Kopf geschlagen. Dann stellte er fest, dass andere Wissenschaftler schon in den 1970er-Jahren auf die gleiche Idee gekommen waren: Sie vertraten die Ansicht, dass Bakterien in den Duftdrüsen vieler Säugetiere vorhanden sind, wo sie Fette oder Proteine vergären und dabei Geruchsmoleküle an die Luft abgeben. Unterschiedliche Mikroorganismen seien möglicherweise die Erklärung dafür, warum verschiedene Tierarten ihren eigenen, charakteristischen Duft verströmen – wir erinnern uns an den Binturong aus dem Zoo von San Diego mit seinem Popcornduft.30 Möglicherweise dienten sie auch als Erkennungszeichen – sie geben Informationen über die Gesundheit oder die Stellung ihres Wirtes preis. Und wenn die Tiere spielen, sich drängeln und paaren, tauschen sie möglicherweise Mikroben aus, die ihnen einen charakteristischen Gruppengeruch verleihen.

Die Hypothese war plausibel, aber sie zu belegen, erwies sich als schwierig. Das Problem hatte Theis, dem nun genetische Hilfsmittel zur Verfügung standen, einige Jahrzehnte später nicht mehr. In Kenia sammelte er Proben der Paste aus den Drüsen von dreiundsiebzig betäubten Hyänen. Als er die DNA der darin enthaltenen Mikroorganismen sequenzierte, fand er mehr Bakterienarten als in allen bisherigen Übersichtsuntersuchungen zusammen. Außerdem zeigte er, dass die Bakterien und die von ihnen produzierten Substanzen sich bei Tüpfel- und Streifenhyänen unterscheiden, aber auch bei Hyänen aus verschiedenen Sippen, zwischen Männchen und Weibchen sowie zwischen fruchtbaren und unfruchtbaren Tieren.31 Aufgrund dieser Unterschiede kann die Paste als eine Art chemisches Graffiti dienen: Sie zeigt, wer sie hinterlassen hat, zu welcher Art er gehört, wie alt er ist und ob er zur Paarung zur Verfügung steht. Indem die Hyänen ihre duftenden Mikroorganismen auf Grashalmen hinterlassen, verbreiten sie ihre persönlichen Tags und Markierungen in der ganzen Savanne.

Das alles sind bislang noch Hypothesen. »Wir müssen das Duft-Mikrobiom abwandeln und herausfinden, ob sich dann auch das Duftprofil verändert«, sagt Theis. »Anschließend müssen wir nachweisen, dass die Hyänen auf eine solche Duftveränderung aufmerksam werden und darauf reagieren.« Mittlerweile haben andere Wissenschaftler ähnliche Muster auch in den Duftdrüsen und im Urin weiterer Säugetiere gefunden, so bei Elefanten, Erdmännchen, Dachsen, Mäusen und Fledermäusen. Der Duft eines alten Erdmännchens unterscheidet sich vom Eau de Jungchen. Der Gestank eines Elefantenmännchens ist anders als der eines Weibchens.

Und dann sind da noch wir. Die Achselhöhle eines Menschen ist der Duftdrüse einer Hyäne nicht unähnlich – warm, feucht und reich an Bakterien. Jede Mikrobenspezies schafft ihre eigenen Duftnoten. Corynebacterium erzeugt aus Schweiß eine Substanz, die wie Zwiebeln riecht, und die Produkte, die es aus Testosteron herstellt, duften je nach den Genen dessen, der daran schnuppert, nach Vanille, Urin oder gar nichts. Sind diese Düfte nützliche Signale? Ganz offensichtlich! Das Mikrobiom der Achselhöhle ist erstaunlich stabil – und die Gerüche unserer Achselhöhle auch. Jeder Mensch hat seine eigene, charakteristische Duftnote, und in mehreren Experimenten konnten Freiwillige verschiedene Menschen am Geruch ihrer T-Shirts unterscheiden. Es gelang ihnen sogar, eineiige Zwillinge anhand ihres Geruchs also solche zu erkennen. Vielleicht beziehen auch wir wie die Hyänen manche Informationen über andere Menschen, indem wir die Nachrichten erschnuppern, die von unseren Mikroorganismen ausgesandt werden. Und das gibt es nicht nur bei Säugetieren. Die Darmbakterien der Wüstenheuschrecken produzieren Teile des »Versammlungspheromons«, das die ansonsten allein lebenden Insekten zur Bildung von Schwärmen veranlasst, die den Himmel verdunkeln können. Deutsche Schaben werden von ihren Darmbakterien dazu veranlasst, sich auf ekelerregende Weise um die Exkremente ihrer Artgenossen zu versammeln. Und die großen Insekten der Spezies Thasus californicus, die im Südwesten Nordamerikas zu Hause ist, verlassen sich auf ein von ihren Symbionten hergestelltes Alarm-Pheromon, mit dem sie sich gegenseitig vor Gefahren warnen.32

Warum lassen Tiere solche chemischen Signale von Mikroorganismen produzieren? Theis nennt dafür den gleichen Grund wie Rawls, King und Hadfield: Es ist unvermeidlich. Alle Oberflächen sind von Mikroben bevölkert, die flüchtige Substanzen abgeben. Wenn sich in solchen chemischen Hinweisen eine Eigenschaft widerspiegelt, die zu kennen nützlich ist – wie beispielsweise das Geschlecht, die Kraft oder die Fruchtbarkeit –, entwickeln sich bei dem Wirtstier unter Umständen Duftorgane, die diese besonderen Mikroorganismen ernähren und beherbergen. Irgendwann verwandeln sich dann die unwillkürlichen Hinweise in vollständig ausgeprägte Signale. Wenn Mikroorganismen solche Nachrichten produzieren, die durch die Luft weitergegeben werden, können sie also das Verhalten von Tieren beeinflussen, die weit von ihrem eigentlichen Wirt entfernt sind. Und wenn das stimmt, sollte es uns nicht verwundern zu hören, dass sie auch auf kürzere Entfernung das Tierverhalten bestimmen können.

Im Jahr 2001 spritzte der Neurowissenschaftler Paul Patterson trächtigen Mäusen eine Substanz, die eine Virusinfektion nachahmt und eine Immunantwort auslöst. Die Mäuse brachten gesunde Jungtiere zur Welt, aber als die Kleinen zu ausgewachsenen Tieren heranwuchsen, bemerkte Patterson in ihrem Verhalten interessante Besonderheiten. Mäuse betreten von Natur aus nur widerwillig offene Flächen, bei diesen Mäusen aber war diese Tendenz besonders stark ausgeprägt. Außerdem ließen sie sich leicht durch laute Geräusche verwirren. Sie kraulten sich immer wieder selbst oder bemühten sich wiederholt, einen Kieselstein zu vergraben. Sie waren weniger kommunikativ als ihresgleichen und mieden soziale Kontakte. Ängstlichkeit, Bewegungswiederholungen, soziale Probleme: Patterson erkannte bei den Mäusen einen Anklang an zwei Gesundheitsstörungen des Menschen, nämlich Autismus und Schizophrenie. Die Ähnlichkeiten kamen nicht ganz unerwartet. Patterson hatte gelesen, dass schwangere Frauen, die an schweren Infektionen wie Grippe oder Masern leiden, häufiger Kinder mit Autismus und Schizophrenie zur Welt bringen. Deshalb kam ihm der Gedanke, dass die Immunantwort der Mutter sich in irgendeiner Form auf die Gehirnentwicklung beim Baby auswirken könnte. Er wusste nur noch nicht, wie.33

Der Groschen fiel erst einige Jahre später, als Patterson mit seinem Kollegen Sarkis Mazmanian, der die entzündungshemmende Wirkung des Darmbakteriums B-frag entdeckt hatte, beim Mittagessen saß. Gemeinsam erkannten die beiden Wissenschaftler, dass sie zwei Seiten derselben Medaille betrachtet hatten. Mazmanian hatte gezeigt, dass die Darmbakterien das Immunsystem beeinflussen, und Patterson hatte festgestellt, dass das Immunsystem sich auf das entstehende Gehirn auswirkt. Nun wurde ihnen klar, dass Pattersons Mäuse noch etwas anderes mit autistischen Kindern gemeinsam hatten: Darmprobleme. Sowohl die einen als auch die anderen litten häufiger an Durchfall und anderen Verdauungsstörungen, und in beiden waren ungewöhnliche Gemeinschaften von Darm-Mikroorganismen zu Hause. Vielleicht, so überlegten die beiden Wissenschaftler, wirkten diese Mikroorganismen sich sowohl bei Mäusen als auch bei Kindern irgendwie auf das Verhalten aus? Und würde sich vielleicht ein Verhalten ändern, wenn man die Darmprobleme in Ordnung brachte?

Um diesen Gedanken zu überprüfen, fütterten die beiden Pattersons Mäuse mit B-frag.34 Das hatte verblüffende Folgen: Die Nage tiere wurden plötzlich neugieriger, ließen sich weniger leicht beunruhigen, neigten weniger zu Bewegungswiederholungen und waren kommunikativer. Zwar zögerten sie immer noch, sich anderen Mäusen zu nähern, aber in allen übrigen Aspekten hatte B-frag die Veränderungen, die auf die Immunantwort der Mutter zurückzuführen waren, rückgängig gemacht.

Aber wie? Und warum? Die vielleicht stichhaltigste Vermutung: Indem die Wissenschaftler bei den schwangeren Müttern eine Virusinfektion nachahmten, hatten sie eine Immunantwort ausgelöst, die den Nachkommen einen übermäßig durchlässigen und mit einer ungewöhnlichen Kombination von Mikroorganismen besiedelten Darm beschert hatte. Die Mikroben produzierten Substanzen, die ins Blut gelangten und ins Gehirn wanderten, wo sie untypische Verhaltensweisen verursachten. Der Hauptschuldige ist dabei ein Giftstoff namens 4-ethylphenylsulfat (4EPS), der bei ansonsten gesunden Tieren Angstzustände auslösen kann. Das B-frag, das die Mäuse geschluckt hatten, dichtete ihren Darm ab und blockierte den Übergang von 4EPS (und anderen Substanzen) ins Gehirn, sodass die atypischen Symptome verschwanden.

Patterson starb 2014, aber Mazmanian führt die Arbeiten seines Freundes bis heute weiter. Langfristig will er ein Bakterium entwickeln, das Menschen einnehmen können, um damit einige besonders schwere Symptome des Autismus unter Kontrolle zu bringen. Bei diesem Bakterium könnte es sich um B-frag handeln: Bei den Mäusen erfüllt es seine Funktion und es ist zufällig auch der Mikroorganismus, der im Darm von Menschen mit Autismus am stärksten Mangelware ist. Eltern autistischer Kinder, die etwas über Mazmanians Arbeit lesen, fragen regelmäßig per E-Mail an, wo sie das Bakterium bekommen können. Viele solche Eltern geben ihren Kindern bereits probiotische Produkte gegen die Darmprobleme, und manche von ihnen behaupten, sie hätten auch beim Verhalten eine Verbesserung beobachtet. Mazmanian will die Einzelfallberichte jetzt mit handfesten klinischen Befunden untermauern. Er ist optimistisch.

Andere sind skeptischer. Die naheliegendste Kritik formuliert die Wissenschaftsautorin Emily Willingham so: »Mäuse haben keinen Autismus; dieser ist ein neurobiologisches Konstrukt der Menschen, das zum Teil durch die soziale und kulturelle Wahrnehmung dessen geprägt wird, was man für normal hält.«35 Gleicht eine Maus, die immer wieder einen Kieselstein vergräbt, wirklich einem Kind, das vorund zurückschaukelt? Ist eine geringere Häufigkeit der Quiekgeräusche das Gleiche, als wenn man nicht mit anderen Menschen sprechen kann? Flüchtig besehen springen die Ähnlichkeiten ins Auge. Blickt man genauer hin, sieht man vielleicht Parallelen zu anderen Störungen; Pattersons Mäuse wurden sogar ursprünglich zu dem Zweck gezüchtet, nicht den Autismus, sondern die Schizophrenie nachzubilden. Andererseits deutet ein Experiment, das Mazma nians Arbeitsgruppe kürzlich anstellte, auf eine Verbindung zwischen den beiden Gruppen von Verhaltensweisen hin. Sie übertrugen Mikroorganismen aus dem Darm autistischer Kinder in Mäuse und stellten fest, dass sich bei den Nagetieren die gleichen Besonderheiten entwickelten, die auch Patterson beobachtet hatte, darunter Verhaltenswiederholungen und soziale Zurückgezogenheit.36 Die Vermutung liegt also nah, dass die Mikroorganismen zumindest teilweise die Ursache solcher Verhaltensweisen sind. »Niemand würde behaupten wollen, man könne den Autismus in einem Mausmodell nachvollziehen«, sagt Mazmanian nachdrücklich. »Natürlich hat die Sache ihre Grenzen, aber sie ist, wie sie ist.«

Zumindest konnten Patterson und Mazmanian nachweisen, dass Eingriffe in die Darm-Mikroorganismen einer Maus – oder auch nur in die Moleküle eines einzigen Mikroorganismenprodukts, nämlich 4EPS – zu Verhaltensänderungen führen können. Bisher haben wir erfahren, dass Mikroorganismen sich auf die Entwicklung von Darm und Knochen, Blutgefäßen und T-Zellen auswirken können. Jetzt wissen wir, dass sie auch das Gehirn beeinflussen können, jenes Organ, das uns mehr als jedes andere zu dem macht, was wir sind. Es ist ein beunruhigender Gedanke. Wir legen so großen Wert auf unseren freien Willen, dass die Aussicht, unsere Eigenständigkeit an unsichtbare Kräfte zu verlieren, tief sitzende gesellschaftliche Ängste aufwühlt. Unsere düstersten Vorstellungen sind angefüllt mit Orwell’schen Schreckensvisionen, zwielichtigen Intrigen und Super-Bösewichten, die unseren Geist kontrollieren. Und nun stellt sich heraus, dass die gehirnlosen, mikroskopisch kleinen, einzelligen Lebewesen, die in unserem Inneren zu Hause sind, schon seit eh und je unsere Fäden in der Hand halten.

Am 6. Juni 1822 wurde der zwanzigjährige Pelzhändler Alexis St. Martin auf einer Insel in den Großen Seen Nordamerikas versehentlich von einem Gewehrschuss in die Flanke getroffen. Als der einzige Arzt der Insel, ein Militärchirurg namens William Beaumont, an den Unfallort kam, blutete St. Martin schon seit einer halben Stunde. Seine Rippen waren gebrochen und die Muskeln zerfetzt. Aus der Körperseite ragte ein Stück verbrannte Lunge heraus. Der Magen hatte ein fingerdickes Loch, aus dem Nahrung herauslief. »Angesichts dieses Dilemmas hielt ich meinen Versuch, sein Leben zu retten, für vollkommen nutzlos«, schrieb Beaumont später.37

Er versuchte es dennoch und brachte St. Martin in sein Haus. Tatsächlich gelang es ihm gegen alle Wahrscheinlichkeit nach vielen Operationen und monatelanger Pflege, den Zustand des Patienten zu stabilisieren. Vollkommen geheilt wurde St. Martin allerdings nie. Sein Magen wuchs an dem Loch in der Haut fest, sodass eine dauerhafte Verbindung zur Außenwelt entstand – eine »unfallbedingte Körperöffnung«, wie Beaumont es formulierte. Da die Pelztierjagd für ihn nun nicht mehr infrage kam, schloss sich St. Martin Beaumont als Handwerker und Diener an. Für den Arzt wurde der Mann zum Versuchskaninchen. Zu jener Zeit wusste man noch so gut wie nichts dar -über, wie Verdauung funktioniert. Beaumont erkannte in St. Martins Verletzung ganz buchstäblich ein Fenster zur Erkenntnis. Er sammelte Proben der Magensäure, und manchmal schob er Lebensmittel durch das Loch, um dann in Echtzeit zuzusehen, wie sie verdaut wurden. Die Experimente setzten sich bis 1833 fort, erst danach trennten sich die Wege der beiden Männer. St. Martin kehrte nach Quebec zurück und starb dort als Bauer im Alter von achtundsiebzig Jahren. Beaumont wurde als der Vater der Verdauungsphysiologie bekannt.38

Neben vielen anderen Beobachtungen stellte Beaumont fest, dass sich St. Martins Stimmung auf den Magen auswirkte. Wenn der Mann wütend oder reizbar wurde – und man kann sich kaum vorstellen, dass er nicht verärgert war, wenn der Chirurg ihm Lebensmittel durch ein Loch in der Körperseite schob –, veränderte sich das Tempo der Verdauung. Es war das erste eindeutige Anzeichen dafür, dass das Gehirn sich auf den Darm auswirkt. Heute, fast zwei Jahrhunderte später, kommt uns dieses Prinzip nur allzu vertraut vor. Wenn sich unsere Stimmung ändert, vergeht uns der Appetit, und die Stimmung verändert sich, wenn wir Hunger haben. Psychische Probleme und Verdauungsstörungen gehen häufig Hand in Hand. Die Biologen sprechen von einer »Darm-Gehirn-Achse«, einem Austausch zwischen Darm und Gehirn, der in beide Richtungen verläuft.

Heute wissen wir, dass die Mikroorganismen des Darms in beiden Richtungen ein Teil dieser Achse sind. Seit den 1970er-Jahren wurde in – einem schmalen Rinnsal gleichenden – Studien gezeigt, dass jede Form von Stress – Hunger, Schlaflosigkeit, Trennung von der Mutter, plötzliche Gegenwart eines aggressiven Artgenossen, unangenehme Temperaturen, drangvolle Enge und sogar laute Geräusche – das Mikrobiom im Mausdarm verändern kann. Auch das Umgekehrte gilt: Das Mikrobiom kann sich auf das Verhalten des Wirtes auswirken, so auf seine sozialen Einstellungen und auf die Fähigkeit zur Stressbewältigung.39

Im Jahr 2011 wurde aus dem Rinnsal an Studien ein breiter Strom. Innerhalb weniger Monate veröffentlichten mehrere Wissenschaftler faszinierende Artikel, in denen gezeigt wurde, dass Mikroorganismen sich auf Gehirn und Verhalten auswirken können.40 Am Karolinska-Institut in Schweden fand Sven Petterson heraus, dass keimfreie Mäuse weniger ängstlich sind und mehr Risiken eingehen als ihre mit Keimen versehenen Vettern. Wurden diese Mäuse aber als Jungtiere von Mikroorganismen besiedelt, zeigten sie als ausgewachsene Tiere das übliche, vorsichtige Verhalten. Auf der anderen Seite des Atlantiks gelangte Stephen Collins von der McMaster University fast durch Zufall zu einer ganz ähnlichen Entdeckung. Als ausgebildeter Gastroenterologe ging er der Frage nach, welche Wirkung probiotische Produkte im Darm keimfreier Mäuse entfalten. »Eine meiner technischen Assistentinnen hat zu mir gesagt: Mit diesem Probiotikum stimmt etwas nicht, es macht die Mäuse schreckhaft«, berichtet er. »Sie wirken plötzlich anders.« Damals arbeitete Collins mit zwei allgemein gebräuchlichen Stämmen von Labormäusen, von denen der eine von Natur aus schreckhaft und ängstlicher ist als der andere. Siedelte er Mikroorganismen aus dem ängstlichen Stamm auf die keimfreien Exemplare der unerschrockenen Mäuse an, wurden auch sie ängst licher. Umgekehrt war es genauso: Keimfreie Exemplare der ängst lichen Mäuse wurden durch die Mikroben ihrer mutigeren Vettern ebenfalls mutiger. Ein dramatischeres Ergebnis hätte Collins sich nicht wünschen können: Durch Austausch der Bakterien im Darm der Tiere hatte er auch einen Teil ihres Charakters ausgetauscht.

Wie wir bereits erfahren haben, sind keimfreie Mäuse seltsame Tiere: Viele ihrer physiologischen Veränderungen könnten auch ihr Verhalten beeinflussen. Deshalb war es wichtig, dass John Cryan und Ted Dinan von der University of Cork in Irland zu ähnlichen Befunden gelangten, obwohl sie normale Mäuse mit vollständigem Mikrobiom verwendet hatten. Sie arbeiteten mit dem gleichen Stamm ängstlicher Mäuse, den auch Collins studiert hatte, und es gelang ihnen, das Verhalten der Tiere zu ändern, indem sie ihnen einen einzigen Stamm von Lactobacillus rhamnosus fütterten – ein Bakterium, das in Joghurt und anderen Milchprodukten häufig zu finden ist. Nachdem die Mäuse diesen als JB-1 bezeichneten Stamm verzehrt hatten, konnten sie ihre Angst besser überwinden: Sie verbrachten mehr Zeit in den frei liegenden Teilen eines Labyrinths oder in der Mitte einer offenen Fläche. Außerdem wurden sie widerstandsfähiger gegen negative Stimmungen: Ließ man sie in eine Flasche mit Wasser fallen, paddelten sie längere Zeit aktiv herum, statt sich ziellos treiben zu lassen.41 Mit Versuchen dieser Art überprüft man auch häufig die Wirksamkeit von Psychopharmaka, und JB-1 hatte hier einen ganz ähnlichen Effekt wie Wirkstoffe mit angstlösenden und antidepressiven Eigenschaften. »Es war, als hätten die Mäuse niedrig dosiertes Prozac oder Valium erhalten«, sagt Cryan.

Das Team wollte genauer herausfinden, wie das Bakterium wirkt, und studierte dazu das Gehirn der Mäuse. Wie die Wissenschaftler feststellten, sorgt JB-1 dafür, dass verschiedene Gehirnteile, die an Lernen, Gedächtnis und Gefühlssteuerung beteiligt sind, anders auf GABA reagieren, eine Substanz, die beruhigend wirkt und die Aktivität erregter Nervenzellen dämpft. Auch hier zeigten sich verblüffende Parallelen zu seelischen Störungen des Menschen: Probleme mit der Reaktion auf GABA werden mit Angstzuständen und Depressionen in Verbindung gebracht, und angstlösende Medikamente aus der Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine verstärken die Wirkung von GABA. Die Arbeitsgruppe fand auch heraus, wie die Mikroorganismen das Gehirn beeinflussen. Ihr Hauptverdächtiger war der Vagusnerv, ein langer, verzweigter Nerv, der Signale zwischen dem Gehirn und Bauchorganen wie dem Darm übermittelt – womit er die Darm-Gehirn-Achse physisch verkörpert. Die Wissenschaftler durchtrennten ihn und stellten fest, dass das seelenverändernde JB-1 seinen Einfluss vollständig verlor.42

In diesen und nachfolgenden Studien wurde also wiederholt gezeigt, dass sich durch Veränderungen im Mikrobiom einer Maus auch ihr Verhalten, die chemischen Substanzen im Gehirn und ihre Anfälligkeit auf die Mausversion von Angst und Depressionen verändern. Es gibt allerdings auch viele Widersprüchlichkeiten. In manchen Studien stellte sich heraus, dass Mikroorganismen nur das Gehirn sehr junger Mäuse beeinflussen; in anderen waren auch halbwüchsige und ausgewachsene Tiere betroffen. In einigen Studien machten Bakterien die Nagetiere weniger ängstlich, in anderen wurden sie ängstlicher. Einige Untersuchungen zeigten, dass der Vagusnerv unentbehrlich ist; andere betonen, die Mikroorganismen könnten auch Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin produzieren, die Nachrichten von einem Neuron zum anderen transportieren.43 Die Widersprüche kommen nicht unerwartet: Wenn zwei so ungeheuer komplexe Dinge wie das Mikrobiom und das Gehirn aufeinandertreffen, wäre es naiv, eindeutige Ergebnisse zu erwarten.

Heute stellt sich die große Frage, ob irgendetwas davon für die Praxis von Bedeutung ist. Sind die fast unmerklichen Einflüsse der Mikroorganismen, die sich an Labortieren in ihrer kontrollierten Umwelt zeigen, für die wirkliche Welt von Interesse? Cryan hält die Skepsis für gerechtfertigt und glaubt, dass man ihr nur auf eine Weise begegnen kann: Man muss über die Experimente mit den Nagetieren hinausgehen. »Wir müssen Menschen studieren«, sagt er.

Vereinzelt ging man in Forschungsarbeiten der Frage nach, ob Menschen sich anders verhalten, nachdem sie Antibiotika oder Probiotika zu sich genommen haben, aber solche Untersuchungen leiden an methodischen Problemen und zweideutigen Ergebnissen. In einer zwar kleinen, aber schon vielversprechenderen Studie fand Kirsten Tillisch etwas Interessantes heraus: Frauen, die zweimal täglich mikrobenreichen Joghurt zu sich nehmen, weisen in den Teilen des Gehirns, die an der Verarbeitung von Gefühlen beteiligt sind, im Vergleich zu Frauen mit einer Ernährung aus mikrobenfreien Milchprodukten eine geringere Aktivität auf. Über die Frage, was solche Unterschiede bedeuten, kann man diskutieren, aber zumindest zeigen sie, dass Bakterien sich auch auf die Aktivität des menschlichen Gehirns auswirken können.44

Die Nagelprobe wird in der Klärung der Frage liegen, ob Bakterien den Menschen helfen können, Stress, Ängste, Depressionen und andere Störungen der seelischen Gesundheit besser zu bewältigen. Gewisse Anzeichen für Erfolg gibt es bereits. In einer kleinen klinischen Studie, die Stephen Collins gerade abgeschlossen hat, linderten probiotische Bakterien – ein eigener Stamm von Bifidobacterium, der einem Nahrungsmittelkonzern gehört – bei Menschen mit Reizdarm die Symptome der Depression.45 »Nach meiner Kenntnis wurde damit zum ersten Mal nachgewiesen, dass ein Probiotikum anormales Verhalten bei einer Patientengruppe verringern kann«, sagt er. Mittlerweile stehen auch John Cryan und Ted Dinan vor dem Abschluss ihrer Studie: Sie wollten wissen, ob probiotische Mikroorganismen – sie sprechen von Psychobiotika – den Menschen helfen können, mit Stress besser fertig zu werden. Dinan ist Psychiater und leitet eine Klinik für Patienten mit Depressionen; er ist mit seinen Hoffnungen sehr vorsichtig. »Ich muss sagen, dass ich zutiefst skeptisch war, als ich hörte, man könne einem Tier einen Mikroorganismus verabreichen und damit sein Verhalten verändern«, sagt er. Heute ist er zwar überzeugt, aber er hält es immer noch »für höchst unwahrscheinlich, dass wir eines Tages einen Probiotika-Cocktail haben werden, mit dem wir schwere Depressionen behandeln können. Gewisse Möglichkeiten bestehen aber am milderen Ende des Spektrums. Viele Menschen wollen keine Antidepressiva nehmen, und eine Therapie ist ihnen zu teuer; wenn wir ihnen ein wirksames Probiotikum geben könnten, wäre das für die Psychiatrie ein wichtiger Fortschritt.«

Schon heute zwingen solche Studien die Wissenschaftler dazu, verschiedene Verhaltensaspekte des Menschen unter dem Gesichtspunkt der Mikroorganismen zu betrachten. Wenn man viel Alkohol trinkt, wird der Darm durchlässiger, und Mikroorganismen können das Gehirn leichter beeinflussen – wäre das vielleicht eine Erklärung dafür, warum Alkoholiker häufig unter Depressionen oder Ängsten leiden? Durch unsere Ernährung verändern sich die Mikroorganismen im Darm – könnten solche Veränderungen höhere Wellen schlagen und unseren Geist beeinflussen?46 Das Mikrobiom ist im Alter weniger stabil – könnte dieser Effekt dazu beitragen, dass ältere Menschen häufiger Gehirnkrankheiten bekommen? Und können unsere Mikroorganismen vielleicht von vornherein mit darüber bestimmen, welche Lebensmittel wir gern essen? Wer ist es eigentlich, der unsere Hand in Bewegung setzt, wenn wir nach einem Hamburger oder einem Schokoriegel greifen?

Für uns ist die Wahl eines Gerichts von einer Speisekarte gleichbedeutend mit der Entscheidung für eine gute oder eine schlechte Mahlzeit. Für unsere Darmbakterien hat die Auswahl eine weitaus größere Bedeutung. Verschiedenen Mikroorganismen geht es mit bestimmten Lebensmitteln besser. Manche können pflanzliche Ballaststoffe so gut verdauen wie kein anderer Mikroorganismus. Andere gedeihen mit Fettsubstanzen. Wenn wir uns für eine Mahlzeit entscheiden, entscheiden wir also auch, welche Bakterien gefüttert werden und welche gegenüber ihren Mitbewohnern einen Vorteil genießen. Aber die Bakterien müssen nicht einfach nur herumliegen und dankbar auf unsere Entscheidung warten. Wie wir erfahren haben, finden sie auch Wege, um sich Zugang zu unserem Nervensystem zu verschaffen. Angenommen, sie schütten, wenn wir die »richtigen« Dinge gegessen haben, Dopamin aus, einen Wirkstoff, der zu Gefühlen wie Freude und Belohnung beiträgt: Können sie uns dann darauf trainieren, bestimmte Lebensmittel gegenüber anderen zu bevorzugen? Reden sie mit, wenn wir etwas von einer Speisekarte auswählen?47

Vorerst sind das nur Hypothesen – aber an den Haaren herbeigezogen sind sie nicht. In der Natur gibt es eine Fülle von Parasiten, die den Geist ihrer Wirte lenken.48 Das Tollwutvirus infiziert das Nerven-system und macht die Betroffenen gewalttätig und aggressiv; wenn sie dann nach ihresgleichen schlagen und ihnen Bisse oder Kratzer beibringen, übertragen sie auch den Erreger auf einen neuen Wirt. Ein anderer Puppenspieler ist der Gehirnparasit Toxoplasma gondii. Er kann sich nur in Katzen fortpflanzen; gelangt er in eine Ratte, unterdrückt er die natürliche Angst des Nagers vor dem Geruch von Katzen und ersetzt sie durch etwas Ähnliches wie sexuelle Anziehungskraft. Also eilt die Ratte – fatalerweise – zu den nächstbesten Katzen, und T. gondii kann seinen Lebenszyklus abschließen.49

Das Tollwutvirus und T. gondii sind regelrechte Parasiten: Sie vermehren sich egoistisch auf Kosten ihrer Wirte, was schädliche und oftmals tödliche Folgen hat. Anders die Mikroorganismen in unserem Darm: Sie sind ein natürlicher Teil unseres Lebens. Sie tragen dazu bei, unseren Körper aufzubauen – unseren Darm, unser Immunsystem, unser Nervensystem. Sie nützen uns. Aber das sollte uns nicht zu einem falschen Gefühl der Sicherheit verleiten. Symbiontische Mikroorganismen sind immer noch eigenständige Gebilde, die eigene Interessen verfolgen und ihre eigenen Evolutionskämpfe führen. Sie können unsere Partner sein, aber unsere Freunde sind sie nicht. Selbst in der einträchtigsten Symbiose bleibt immer noch Spielraum für Konflikt, Egoismus und Betrug.

Winzige Gefährten

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