Читать книгу Nächtliche Besuche bei Stefan Sternenstaub - Edda Blesgen - Страница 5

Der kleine Pirat und der Spinat

Оглавление

Der Nachtwächter und das Gespenst sitzen gemütlich beisammen. Ab und zu schaut Stefan Sternenstaub aus dem Fenster nach dem Rechten. Heute macht er keinen Rundgang, denn es regnet in Strömen.

„Zum Glück hat Quirin Quantler-Binder das Pulver Machunsichtbar vernichtet“, grübelt das Gespenst schaudernd. „Stell dir vor, der Geistergreifende Würgegrusel würde es schlucken und unsichtbar durch Kleinmeindorf schleichen...“

„Aber den gibt es doch überhaupt nicht“, sagt Stefan Sternenstaub.

„Seitdem ich ihn in Gedanken erschaffen habe, lebt er“, behauptet das Geistchen.

„Es hört sich ja fast so an, als ob du die Geschichte mit dem Zauberpulver für wahr hältst“, meint der Nachtwächter. „Ich habe meine Zweifel. Aber was die Sterne betrifft, glaube ich Quirin Quantler-Binder jedes Wort. Drei Jahre lang war er mein Lehrer für Chemie, Zeichnen und Werken. Er weckte in mir die Begeisterung für den gestirnten Nachthimmel, von dem er uns immer wieder erzählte, obwohl dieses Thema nichts mit seinem Unterricht zu tun hatte. - Komm mit mir nach draußen, Gespenst.“

Mützenkater sitzt auf dem Dach. Er beachtet die beiden nicht, weil er nur Augen für seine Katzenfreundin hat - eine schneeweiße ist diesmal die Auserwählte. Stefan Sternenstaub deutet auf einen leuchtenden Punkt, genau über der Fernsehantenne.

„Dort oben funkelt der Polarstern. Er ist dreihundert Lichtjahre von uns entfernt. So wie du ihn jetzt wahrnimmst, sah er zu deiner Menschenzeit aus.“

„Falls ich vor dreihundert Jahren gelebt habe“, ergänzt das Gespenst. „Es können auch vierhundert gewesen sein - so genau weiß ich das selber nicht mehr“, sagt es. „Wie weit ist eigentlich ein Lichtjahr?“

„Neunkommafünfbillionen Kilometer.“ Der Nachtwächter kennt sich aus.

Das Nebelgeistchen denkt angestrengt nach. „Neunkommafünfbillionen mal dreihundert...“ Ich verstehe nichts vom Rechnen, weil man zu meiner Zeit noch keine Schule zu besuchen brauchte.“

„Neunkommefünfbillionen mal dreihundert - das macht - das ergibt ...“ Stefan Sternenstaub gerät ins Stottern. „Es stimmt, was der Bäcker Bäcker sagt, die Zahl ist zu groß, es wird einem schwindlig davon. Lassen wir das also. Außerdem kann ich mir so eine weite Entfernung kaum vorstellen und du wahrscheinlich auch nicht. Komm wir gehen zurück ins Haus.“

Drinnen ist es gemütlich warm. „Noch jemanden gab es, der hörte mit leuchtenden Augen zu, wenn unser Lehrer Quantler-Binder von den Sternen berichtete“, erzählt der Nachtwächter weiter. „Das war Andrea, die in der Schule neben mir saß. Doch während ich mich an der unvergleichlichen Schönheit des nächtlichen Himmels erfreute, träumte sie davon, Astronautin zu werden, zu unbekannten Welten zu fliegen, mit Lichtgeschwindigkeit durch ferne Galaxien zu reisen und fremde, wenig menschenähnliche Wesen im Universum aufzuspüren.

Einmal schrieb ich Andrea einen Brief, in dem ich sie mit Andromeda anredete. Andromeda war eine äthiopische Königstochter, nach der ein Sternbild benannt ist. In der Pause kamen einige Mädchen aus meiner Klasse kichernd angelaufen: „Hallo, Mann im Mond, schöne Grüße von Andromeda“, riefen sie mir zu. Meine Banknachbarin hatte den Brief ihren Freundinnen gezeigt und jetzt machten sie sich über mich lustig.“

„Das war aber gemein“, fand das Gespenst.

„Ja“, bestätigt Stefan Sternenstaub, „ich fühlte mich sehr gekränkt. - Aus Andromedas Astronautenträumen wurde nichts. Sie freundete sich bereits in der Schule mit dem Sohn des Wirtes vom Gasthof ‘Piratenschiff’ an und heiratete sehr jung. Ich ging zur Stadtverwaltung nach Großkloßmoos in die Lehre. Täglich fuhr ich mit dem Bus dorthin. Nach meiner Ausbildung arbeitete ich fünf Jahre beim Einwohnermeldeamt. Doch als die Stelle eines Nachtwächters hier frei wurde, übernahm ich diese, um Beruf und Hobby, nämlich die Sternguckerei, miteinander verbinden zu können. Mein Einkommen ist zwar geringer, aber für mich allein reicht es, und nachdem Andromeda geheiratet hatte, war mir klar, ich würde niemals eine Familie gründen.

Dann starb der Wirtssohn, sechs Wochen bevor Andrea zwei Söhnen das Leben schenkte. Die Kinder sollten Castor und Pollux heißen, wie die beiden hellsten Sterne des nächtlichen Himmelsbildes Zwillinge. Doch der Bürgermeister weigerte sich, diese heidnischen Namen in das Geburtenregister einzutragen. Da nannte Andromeda ihre Buben Peter und Paul.

Sie stand jetzt mit ihrem Schwiegervater hinter der Theke, mixte Getränke, denen sie phantasievolle Namen gab: Abendsternnektar, Mondstrahlcoktail, Kometenlabetrank, Sternschnuppentau. Manchmal, wenn ich an ihrem Haus vorbeikam, hörte ich Andromeda mit ihren Kindern singen: „Weißt du, wieviel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt...“ oder aus dem offenen Fenster vernahm ich Fetzen des Märchens ‚Sterntaler’, das sie ihren Zwillingen erzählte.

Einmal beobachtete ich die Jungens beim Spielen am Dorfteich.

„Wenn ich erwachsen bin, werde ich Kapitän eines Seeräuberschiffes wie mein Urururururgroßvater“, sagte Paul. „Dann nenne ich mich Castor, der Pirat.“

„Und ich möchte Schornsteinfeger werden - Pollux der Schornsteinfeger“, entgegnete Peter.

Paul lachte ihn aus. „In dem Beruf braucht man keinen ausgefallenen Namen; bleib du nur bei deinem eigenen. Als Kaminkehrer wirst du Schwarzer Peter heißen. Aber willst du nicht lieber mein Erster Steuermann sein? Dann kannst du dich Pollux, der Seeräuber, nennen.“

Peter beharrte jedoch darauf, Schornsteinfeger zu werden.

Nachdem auch ihr Schwiegervater gestorben war, wechselte Andromeda eines Tages das Namensschild ‘Piratenschiff’ gegen ein neues aus. ‚Zum Mann im Mond’ stand dort in silberglänzenden Buchstaben auf nachtblauem Hintergrund. Da blühte eine verrückte Hoffnung in mir auf. Ich beschloss, meine Nachtwächtertätigkeit aufzugeben und wieder in Großkloßmoos zu arbeiten, um eine Familie, genauer gesagt, eine Frau und Zwillinge, ernähren zu können. Dann ging ich in den Wald und pflückte Sternmiere für Andromeda. Vor dem Wirtshaus angekommen, verließ mich der Mut. Traurig schlich ich nach Hause, stellte die Blumen in eine Vase und zerriss mein Bewerbungsschreiben an die Verwaltung in Großkloßmoos.

Eines Tages hing das Schild ‚Piratenschiff’ wieder auf. Jetzt nenne ich die Wirtin sogar in Gedanken nicht mehr Andromeda, sondern Andrea. Sie schenkt den Leuten Bier und Schnäpse aus, denn ihre Mixgetränke Abendsternnektar, Mondstrahlcocktail und Sternschnuppentau wurden von den Kleinmeindorfern verschmäht. Und nie wieder hörte ich sie ihren Söhnen Peter und Paul, die eigentlich Castor und Pollux heißen sollten, das Lied ‚Weißt du, wieviel Sternlein stehen’ vorsingen oder das Märchen ‚Sterntaler’ erzählen. - Inzwischen sind die Buben auch zu groß dafür. Jetzt lauschen sie lieber Piratengeschichten.“

„Kennst du eigentlich die Geschichte von ihrem Urururururahn?“ fragt das Gespenst.

„Etwa die vom Zwergpiraten?“

„Du hast schon von ihm gehört?“, fragt das Geistchen enttäuscht.

„Aber ja, wie alle Kleinmeindorfer. Andreas Schwiegervater erzählte die Geschichte jedem und immer wieder. Trotzdem würde ich sie gerne von dir vernehmen. Ich bin überzeugt, du bringst sie viel besser als der Wirt; sie wird mir bestimmt gefallen, obwohl ich sie längst kenne.“

„O ja“, bettelt Mützenkater, der auf Samtpfoten hereinschleicht. „Ich habe noch nie von dem Urururururahn gehört. Ich dachte, die Kneipe hieße nur ganz zufällig ‚Piratenschiff’, so wie in Großkloßmoos eine Wirtschaft den Namen ‚Morgenröte’ trägt und eine andere ‚Zum goldenen Einhorn’ benannt ist. Aber erst muss ich euch noch berichten, wie es mir mit der Katzendame, Tiffany heißt sie, ergangen ist...“

Das Gespenst unterbricht ihn zappelig. „Lass mich doch endlich von dem Seeräuber erzählen, der zu meinen Lebzeiten, vor etwa drei- oder vierhundert Jahren, auf allen Weltmeeren Angst und Schrecken verbreitete. Danach wirst du auch wissen, warum der Wirt als Spezialität Spiegeleier und Spinat servierte. Andrea hat diesen Brauch übernommen. Die Geschichte heißt:

Der kleine Pirat und der Spinat

Auf den Weltmeeren kreuzte einmal ein Piratenschiff mit der Totenkopffahne umher. Alle Seeleute fürchteten den Kapitän, obwohl er nicht größer als ein siebenjähriges Kind war.

Ich bin der gefährlichste Pirat aller Zeiten“, prahlte er. „Ay, ay Sire“, erwiderten seine Matrosen respektvoll.

Die ehrlichen Seefahrer gaben ihm den Namen ‘Zwergpirat’. Als er das erfuhr, ärgerte er sich schrecklich und tat noch wilder, als er ohnehin schon war.

Irgendwann einmal hatte der Zwergpirat in einer Hafenstadt eine Frau geheiratet. Dann zog er wieder fort und vergaß sie über dem rauen Seeräuberhandwerk. Als er nach Jahren den Hafen ihrer Heimatstadt abermals anlief, erinnerte er sich an sie und wollte sie besuchen. Doch in dem Haus wohnten fremde Leute. Von ihnen erfuhr der Zwergpirat, seine Frau sei inzwischen gestorben. Sie hinterließ ihm einen kleinen Sohn von sieben Jahren, Hans hieß er, der bei Verwandten aufgezogen wurde. Der kleine Seeräuberkapitän nahm sein Kind mit aufs Schiff.

Bisher war ich ein tüchtiger Pirat, der beste, den es überhaupt auf den Weltmeeren gibt und je gegeben hat“, rühmte er sich, „jetzt werde ich ein ebenso tüchtiger Vater, denn was ich tue, mache ich gründlich.“

Er befahl seinem Steuermann, Kurs auf den nördlichen Atlantik zu nehmen. „Kleine Kinder brauchen Lebertran zum Gedeihen“, belehrte er seine Mannschaft. „Dieser wird aus der Leber von Dorschen gewonnen. Also fahren wir auf Dorschfang, damit mein Sohn seinen Lebertran bekommt.“

So wurde es gemacht. Doch die ganze Mühe war vergebens. Als der Piratensohn den ersten Löffel Lebertran schlucken sollte, spie er ihn in hohem Bogen wieder aus.

Komm, mach’ noch einmal den Mund auf“, redete sein Vater ihm gut zu. „Von Lebertran wirst du groß und stark und ein tüchtiger Pirat.“

Der Junge schnitt eine Grimasse. „Sicher hast du dieses scheußliche Zeug auch nicht eingenommen, sonst wärst du nicht so klein“, erwiderte er. „Trotzdem ist ein gefürchteter Seeräuber aus dir geworden.“

Aber ich habe immer darunter gelitten, Zwergpirat genannt zu werden. Du sollst es einmal besser haben. Groß und stark wie der Riese Goliath, wirst du alle Seeräuber allein durch dein Aussehen in die Flucht schlagen. - Goliath, so werde ich dich jetzt schon nennen, Goliath, der Pirat, das hört sich viel besser an als Hans.“

Alles Zureden half jedoch nichts. Da lief der Piratenkapitän mit seinem Schiff den nächsten Hafen an und kaufte Spinat ein, riesengroße Körbe voll Spinat. Der Schiffskoch musste gleich eine Portion kochen und dazu Spiegeleier braten.

Goliath aß die Spiegeleier, den Spinat verschmähte er. „Ich mag dieses Grünzeug nicht“, schrie er, „und werde keinen Happen davon essen, selbst wenn ich mein Lebtag nicht größer werde als du, Vater.“

Der kleine Pirat war ratlos. Wie sollte er sein Kind aufziehen, wenn es keinen Spinat und keinen Lebertran mochte? Da er auf diese Frage keine Antwort wusste, beschloss er, erst wieder einmal ein Schiff zu kapern und danach weiter zu überlegen. Doch sein Sohn schien auch nicht viel vom Seeräuberhandwerk zu halten.

Kannst du nicht auf ehrliche Weise dein Brot verdienen, wie andere Leute?“, mahnte er seinen Vater. Aber dieser antwortete störrisch:

Ich liebe dich, mein Sohn, doch ein guter Mutterersatz wird niemals aus mir. Hingegen bleibe ich ein tüchtiger Pirat und das mein Leben lang.“

Sie fuhren aufs weite Meer hinaus. Nach einigen Tagen tauchte am Horizont ein Schiff auf. Der Kapitän ließ es herankommen, dann gab er den Befehl zum Angriff. Doch da näherte sich aus der Ferne ein weiteres Schiff, noch eins und noch eins. Es war eine ganze Flotte, die der König ausgesandt hatte, um den Zwergpiraten zu fangen. Gegen eine solche Übermacht kamen die Seeräuber nicht an. Der Kapitän ließ wenden und das Schiff flog mit vollen Segeln davon. Die Flotte folgte, aber sie war nicht so schnell. Der kleine Pirat sah den Abstand immer größer werden und lachte:

Eine ganze Flotte schickt der König aus, um mich zu fangen. Du siehst, wie schrecklich, wie gefährlich, wie gefürchtet ich bin, mein Sohn. - Nanu“, staunte er, als er keine Antwort erhielt, „wo bist du?“

Sein Junge war verschwunden. Der besorgte Vater ließ das ganze Schiff durchsuchen. Nirgendwo fand man den Kleinen.

Er ist über Bord gefallen und ertrunken“, schluchzte der Zwergpirat traurig.

Goliath war tatsächlich über die Reling ins Meer geplumpst. Doch er lebte noch. Matrosen der königlichen Flotte hatten ihn aus dem Wasser gefischt. Als sie den Knirps tropfend vor sich stehen sahen, jubelten sie:

Juchhu, wir haben den Zwergpiraten gefangen. Das Schiff braucht nicht weiter verfolgt zu werden, wir haben seinen Kapitän.“

Ich bin kein Kapitän und erst recht kein Seeräuber“, krähte der Kleine empört. - Niemand wollte ihm glauben. „Mein Name ist Goliath und nicht Zwergpirat.“

Seht euch diesen Knirps an. Er heißt Goliath“, feixten die Matrosen. Sämtliche Offiziere und der Kapitän waren inzwischen hinzugekommen. Die ganze Mannschaft wieherte vor Vergnügen.

Du bist nicht größer als ein siebenjähriges Kind, also haben wir den Zwergpiraten vor uns stehen.“

Irrtum, ich bin so klein, weil ich tatsächlich erst sieben Jahre zähle“, protestierte der Junge, doch es half ihm nichts. Man sperrte ihn ein und brachte ihn an die Küste. Von dort wurde er unter strengster Bewachung zur Hauptstadt geschleppt und ins Gefängnis geworfen. In drei Monaten sollte der Prozess gegen ihn sein.

Vier kräftige Wärter bewachten den kleinen Häftling. Sie brachten ihm Wasser und Brot, wie das damals im Kerker üblich war. Doch Goliath hatte sich eine List ausgedacht. Er schob den Napf beiseite.

Ich esse nur Spinat und trinke nur Lebertran,“, erklärte er. Da nahmen die Aufseher das Essen wieder mit. An diesem Abend musste der Piratensohn sich hungrig schlafen legen. Trotzdem schob er auch am nächsten Tag Brot und Wasser beiseite. So ging das mehrere Tage lang; er rührte nichts an. Die Wärter sahen, wie ihr berühmter Gefangener dünn und blass wurde. Da packte sie die Angst.

Er darf nicht vor der Gerichtsverhandlung sterben, sonst hängt man uns an seiner Stelle“, sagten sie sich.

Von da an bekam der Junge zu allen Mahlzeiten Lebertran und Spinat, wie er es gewünscht hatte. Er griff tüchtig zu und erholte sich schnell.

Die drei Monate vergingen. Eines Morgens brachte man den Häftling vom Gefängnis zum Justizgebäude, wo der Prozess gegen ihn stattfinden sollte. Auf dem Weg dorthin drängten sich die Leute neugierig in den Straßen. Doch als er vorüber geführt wurde, ging ein enttäuschtes Murmeln durch die Menge.

Das ist doch nicht der Zwergpirat. Dieser lange Kerl kann doch nicht der Zwergpirat sein.“

Tatsächlich, Goliath war in den vergangenen Wochen von all dem Lebertran und den Unmengen Spinat unglaublich in die Höhe geschossen, er überragte seine Wärter um einen Kopf.

Ihr habt den Zwergpiraten entkommen lassen“, donnerte der Richter die Aufseher an. „Die Seeräuber haben ihren Anführer aus dem Gefängnis befreit und einen Unschuldigen an seiner Stelle eingesperrt. Nehmt ihm sofort die Fesseln ab und lasst ihn laufen.“

Ehe er sich besann, stand der Piratensohn als freier Mann auf der Straße und trug sogar noch einen Beutel mit Münzen bei sich, mit denen man ihn für die Tage im Kerker entschädigt hatte. So schnell ihn seine nun langen Beine trugen, floh er aus der Stadt.

Von dem Geld kaufte der Junge sich einen Fischerkahn. Diesen belud er mit Spinat und Lebertran als Proviant und fuhr aufs Meer hinaus. Mehrere Tage trieb er auf den Wellen. Da tauchte am Horizont das Schiff seines Vaters mit der schwarzen Totenkopffahne auf.

Der Zwergpirat stand an Bord. Er war es gewohnt, alles, was sich auf dem Wasser bewegte, vor ihm fliehen zu sehen. Doch dieser Mensch in dem elenden Fischerkahn schien keinen Respekt vor ihm zu haben, er steuerte direkt auf ihn zu. Der Kapitän kniff die Augen zusammen und spähte nach dem Insassen des Wasserfahrzeuges. Und jeder liebevolle Vater, selbst ein Seeräuber, erkennt seinen Sohn, auch wenn er ihn mehrere Monate nicht mehr gesehen hat und dieser in der Zwischenzeit unheimlich gewachsen ist.

Hallo, Goliath, du lebst noch?“ rief er ihm erfreut zu. „Komm an Bord, damit ich dich umarmen kann.“

Der Matrosen ließen eine Strickleiter hinunter. Doch der Piratensohn zögerte.

Einen Augenblick noch, ich muss erst meinen Teller leer essen“, entgegnete er.

Was isst du denn da?“ wollte der Vater wissen.

Spinat“, rief der Junge hinauf.

Spinat?“ Der Seeräuberkapitän war sprachlos. Er sah seinem Sohn staunend zu, der seelenruhig den Teller leer löffelte und dann erst zu ihm hinaufkletterte. Sie umarmten sich.

Du machst deinem Namen alle Ehre“, sagte der Kapitän und führte Goliath in seine Kajüte. Dort saßen sie stundenlang beisammen und der Junge erzählte, wie Spinat und Lebertran ihm geholfen hatten.

Fabelhaft“, staunte der Pirat, „fabelhaft. Vielleicht sollte ich es auch einmal damit versuchen? Wer weiß, vielleicht wachse ich auch noch?“

Und weil er alles was er tat, besonders gründlich machte, entließ er seine Seeräuber-Mannschaft, verkaufte das Schiff und erwarb vom Erlös ein großes Stück Land, nahe bei Kleinmeindorf, wo ihn niemand kannte. Der Zwergpirat und sein Sohn bauten ein Haus und pflanzten Spinat an, nur Spinat, soweit man sehen konnte, Spinat.

Und wenn die beiden abends müde von der Feldarbeit heimkamen, dann aßen sie ihr Grünzeug und tranken dazu Lebertran.

Als der Zwergpirat älter wurde und ihm das Bücken schwer fiel, überließ er seinem Sohn allein den Ackerbau. Er eröffnete in Kleinmeindorf eine Gaststätte und nannte sie ‚Piratenschiff’. Hungrigen Kneipenbesuchern servierte er Spinat mit Spiegeleiern. Aber gegen den Durst mochte niemand Lebertran trinken. Der Zwergpirat stand hinter der Theke, schenkte seinen Gästen Bier, Wein, Schnaps aus und erzählte dabei haarsträubende Seeräubergeschichten. Die Kleinmeindorfer lauschten gebannt. Sie wunderten sich über die lebhafte Fantasie des Wirtes. Niemand glaubte, er habe all die verwegenen Abenteuer selbst erlebt. Man lächelte gutmütig über ihn, weil er unbedingt mit ‚Zwergpirat’ angeredet werden wollte. Diesen freundlichen älteren Herrn, der Sohn und Schwiegertochter liebte, seine inzwischen zahlreichen Enkel vergötterte und die Gäste verwöhnte, konnte sich keiner als gefühllosen, messerwetzenden, enterhakenschwingenden Bösewicht vorstellen.

Trotz Spinat und Lebertran wuchs der Zwergpirat nicht mehr. Er blieb ein Zwerg sein Leben lang. Doch Pirat - nein, dieser Teil seines Namens passte nicht mehr zu ihm. Nie wieder trieb er sich als Seeräuber auf den Meeren herum.“

„Spinat und Spiegeleier - hm, das könnte mir auch schmecken.“ Mützenkater leckt sich das Schnäuzchen. „Stellt euch vor, ich bot der Katzendame Tiffany eine saftige Birne an, die ich für sie gepflückt und am Stängel herbeigeschleppt hatte. Sie zog beleidigt von dannen und rief mir zu, ich solle erstmal das Mäusefangen lernen, ehe ich mich ihr wieder nähere. Aber Tiffany wird wohl als alte Jungfer sterben; ich kann keiner Maus etwas zuleide tun. Jetzt auf zum ‘Piratenschiff’! Vielleicht stehen dort Reste für mich herum. Tschüss ihr beiden.“

Nächtliche Besuche bei Stefan Sternenstaub

Подняться наверх