Читать книгу 10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten - Ellen Notbohm - Страница 11

Der Anfang …

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Als Mutter eines autistischen Kleinkindes habe ich schnell begriffen, dass an manchen Tagen das einzig Vorhersehbare die Unvorhersehbarkeit war, das einzig Stabile die Instabilität. Obwohl viele Aspekte des Autismus inzwischen besser erforscht sind, gibt es noch einiges, das uns Rätsel aufgibt. Auch wenn wir uns sehr anstrengen, die Welt durch die Augen des autistischen Kindes zu betrachten, sind wir verwirrt durch neue oder wiederkehrende Verhaltensweisen, die sich von Tag zu Tag oder sogar von einem Moment auf den anderen verändern.

Vor nicht allzu langer Zeit gingen die Fachleute davon aus, Autismus sei eine ‚unheilbare Störung‘. Die Vorstellung, bei Autismus handle es sich um ein therapieresistentes Phänomen, bei dem Betroffene kein sinnerfülltes Leben führen und ihren Alltag nicht produktiv gestalten können, bröckelt angesichts immer neuer Erkenntnisse und eines kontinuierlich verbesserten Verständnisses. Tag für Tag erleben wir, dass autistische Menschen viele der schwierigen Probleme, die Autismus für sie mitbringt, überwinden, kompensieren oder sonst wie meistern und in ein erfülltes und dynamisches Leben integrieren. Viele unter ihnen sträuben sich gegen eine ‚Heilung‘ und distanzieren sich von der Sichtweise, es müsse ein Heilmittel geben.

In einem im Dezember 2004 in der New York Times erschienenen Artikel, der große Beachtung fand, zog Jack Thomas, ein mit dem Asperger-Syndrom diagnostizierter Zehntklässler, weltweite Aufmerksamkeit auf sich mit seiner Aussage: „Wir haben keine Krankheit, und deswegen können wir nicht geheilt werden. Wir sind einfach so.“ Heutzutage liest man immer wieder, sei es in sozialen Medien oder in den Leitmedien, dass autistische Erwachsene Jacks Standpunkt bestätigen und sich zu eigen gemacht haben.

Ich bin ganz bei ihnen. Wenn nicht-autistische Menschen die Herausforderungen durch den Filter ihrer eigenen Erfahrungen betrachten, dann verschließen sie unabsichtlich die Tür, die zu einer alternativen Denkweise führt. Das wiederum hat immense Auswirkungen darauf, ob Ihr Kind eine Zukunft hat oder nicht.

Es ist entscheidend, eine Perspektive zu haben. Wenn ich Elternabende veranstalte, bitte ich die Anwesenden, die auffälligsten Verhaltensweisen ihrer Kinder kurz zu skizzieren und dann in einem positiven Sinn neu zu formulieren. Verhält sich das Kind ‚reserviert‘ oder kann es ‚sich mit sich selbst beschäftigen und allein lernen‘? Ist es ‚leichtsinnig‘ oder ‚abenteuerlustig und bereit, neue Erfahrungen zu machen‘? Ist es ‚zwanghaft ordentlich‘ oder ‚ein hervorragendes Organisationstalent‘? ‚Quält es Sie mit ständiger Fragerei‘, oder ‚zeigt es Neugier für die Außenwelt und Durchhaltevermögen und Hartnäckigkeit‘? Warum versuchen wir, das ‚störrische‘ Kind zu disziplinieren und bewundern gleichzeitig das Kind, das ‚stur seine Ziele verfolgt‘? Die Begriffe ‚störrisch‘ und ‚stur‘ drücken beide eine Beharrlichkeit aus.

Die Reise meiner Familie durch das Autismus-Spektrum meines Sohnes nahm ihren Anfang mit einem Kind, das ein sanftes Gemüt hatte, aber nicht sprechen konnte, und das verstörende ‚Meltdowns‘ (Ausraster) erlebte. Vor vielen Aktivitäten schrak er zurück und hielt sich die Ohren zu. Er wollte nichts anziehen, ausgenommen, es war notwendig, wenn er sich anderen Menschen zeigen musste, und sein Schmerz- und Kältempfinden schien untypisch.

Bryce war drei Jahre alt, als ein Frühförderungsteam aus der allgemeinen Vorschuleinrichtung von Autismus sprach. Ich durchlief die klassischen fünf Phasen der Trauer schon während des ersten Treffens. Bei Connor, meinem älteren Sohn, war zwei Jahre zuvor eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (AHDS) festgestellt worden. Ich war vertraut mit Therapien, Problemen im sozialen Umfeld, der permanenten Wachsamkeit – und der Erschöpfung. Mich ergriff die blanke Angst. Und sie motivierte mich. Ich konnte die Vorstellung, dass dieses Schicksal Bryce‘ Zukunft bestimmen würde, nicht ertragen. Deswegen wollte ich alles in meiner Macht Stehende tun, um ihm etwas mitzugeben, mit dem er ein Leben ohne mich würde meistern können. Ich konnte mich gedanklich von Wörtern wie ‚Gefängnis‘ und ‚heimatlos‘ nicht befreien. Aber nicht den Bruchteil einer Sekunde lang dachte ich daran, seine Zukunft in die Hand von Fachleuten zu geben oder mich an den flüchtigen Gedanken zu klammern, dass sich Autismus auswächst. Diese Überlegungen zwangen mich, jeden Morgen aufzustehen und motivierten mich, etwas zu unternehmen.

Ich überspringe jetzt ein paar Jahre bis zur Jahrtausendwende. Bei der Schulfeier treten die entzückenden Erstklässler*innen nacheinander ans Mikrophon und beantworten die Frage: „Was möchtest du im neuen Jahrtausend werden?“ „Ein Fußballstar“, ist eine beliebte Antwort. „Ein Pop-Star! Ein Rennfahrer! Eine Comiczeichnerin, eine Tierärztin, ein Feuerwehrmann!“

Bryce hat eine Weile überlegt, bevor er geantwortet hat:

„Ich möchte einfach nur ein Erwachsener werden.“

Stürmischer Applaus folgt und der Direktor sagt mit wohlüberlegten Worten:

„Die Welt wäre eine bessere, wenn mehr Menschen dasselbe Ziel wie Bryce verfolgten.“

Meine Quintessenz: Die Diagnose Autismus ist nicht damit gleichzusetzen, dass Ihrem Kind, Ihnen als Eltern oder anderen Familienangehörigen ein erfülltes Leben voller Freude und Sinnhaftigkeit verwehrt bleibt. Sie mögen total verunsichert sein, aber springen Sie über Ihren Schatten und glauben Sie mir das. Mit einem Vorbehalt: Wie sehr wir das Potenzial unserer Kinder ausschöpfen können, hängt davon ab, welche Wahl wir treffen, wie wir für sie entscheiden und welche Haltung wir zu unseren Kindern bzw. Autismus einnehmen.

Mir ist eine Passage von Nora Ephrons Roman Heartburn in Erinnerung. Darin sagt die Protagonistin Rachel Samstat: „Wenn ein Traum in Millionen kleine Teilchen zerplatzt, dann hast du nur eine Wahl. Du kannst entweder an ihm festhalten, was unerträglich ist, oder du kannst dich lösen und einen anderen Traum träumen.“

10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten

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