Читать книгу Aus Giessen und dessen Umgebung alten Tagen - Erik Schreiber, Friedrich Rolle, Leo Woerl - Страница 6

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Giessen.

Seht, welch ein eigentümlicher Zauber ist über die Landschaft ausgegossen, deren Mittelgrund die Stadt Giessen einnimmt, — der Zauber idyllischer Ruhe, unter deren lindem Odem sich das Herz so wohl und heiter fühlt, während das Auge mit Befriedigung auf der Schönheitslinie der Bergeshöhen ruht, welche den Horizont schliessen! Es war wohlgethan, dass ich den Spuren des Künstlers nachging, um einen Gesammtüberblick der Stadt zu gewinnen; — man geht nie irre, wenn man das Auge des Künstlers zum ästhetischen Kompass nimmt. Die Spur leitete mich in den Buschischen Garten vor der Stadt. Hier bin ich denn und kann mich über meinen Führer nicht beklagen. In der That: wenige Standpunkte in Giessens naher Umgebung eignen sich wie gerade der vom buschischen Garten zu einer so vollkommenen Auflassung des Gesammtüberblickes der Stadt und der Landschaft zugleich, wobei die eine durch die andere gleichsam ergänzt wird. Da wechseln im Vordergrund die zierlichen Baumgruppen, bunten Blumenbeete und dunklen Lauben des geschmackvoll angelegten Gartens mit Gruppen fröhlicher Menschen, welche die nahe Stadt verlassen haben und sich nach des Tages Lasten am Anblick der lieblichen Natur erlaben, welche sie umgiebt. Und schweift mein Auge über diese Menschen und jene Blumen hinweg, so folgt es dem hellen Streifen der Strasse, der sich scharf hervorhebt aus dem saftigen Grün des Wiesengrundes, bis hin zur Stadt, welche sich mir hier fast in ihrer ganzen Breite darstellt. Ein grüner Laubgürtel umschmiegt sie. Ueber ihre Dächer ragt der alte Thurm der Stadtkirche empor. Am äussersten Ende links (von meinem Standpunkt), wo sich die Heerstrasse von Frankfurt allmälig niedersenket, seh‘ ich auf dem Seltzerberg den spitzen Thurm der neuen katholischen Kirche und das jetzige Universitätsgebäude; es nimmt sich ja fast wie ein hohes stattliches Herrenhaus mit Thürmen und Zinnen aus; — am äussersten Ende rechts fesselt der alte Kanzleithurm mit seinem vieleckigen Oberbau meine Blicke. Im Hintergrunde, zu beiden Seiten des Thurmes der Stadtkirche erheben sich zwei Bergesgipfel — Vetzberg (links) und Gleiberg (rechts) —, beide — Burgruinen als Mauerkronen tragend; der breite Rücken des Dünsberges überwölbt sie im sanften Bogen. Rechts endlich schliesst sich an den Gleiberg die kahle Kuppe des Wettenbergs, dessen eigenthümlich abgestufte Vorberge ich von hier aus, wo einer den andern deckt, nur durch ein gutes Fernrohr erkennen kann. So vollendet sich das Landschaftsbild, anmuthig im Ganzen und reich an reizenden Einzelheiten, von deren einer der Blick zur andern eilt, um zur ersten wiederzukehren und mit Behagen darauf zu verweilen.

Das also ist die Musenstadt, von der ich in aller Weise so Vieles hörte, bevor ich sie endlich- sah! Ich kenne so manchen ernsten Mann, der über Vielem, was er vom Leben lernte, das Lächeln verlernt zu haben scheint, — auf dessen Stirne in Faltenschrift eine lange Geschichte von holden Hoffnungsblüten, aus denen keine Frucht geworden ist, geschrieben steht. Auch so manchen Greis kenne ich, der, kinderlos in seiner einsamen Stube sitzend, sich dennoch des jungen frischen Lebens draussen in der Welt vor seinen Fenstern freut. Zuweilen kam das Gespräch, wenn ich den Einen oder den Andern sah, auf Giessen, wo sie studirt hatten. Wie wurde da dem vielgeprüften, ernsten Geschäftsmanne, wenn er von Giessen sprach, das trübe Auge viel heller, als wenn er irgend eine angenehme Neuigkeit erfahren hätte; die Falten auf seiner Stirne glätteten sich und ein ungewohntes Lächeln verschönerte und veredelte die starren Züge des bleichen Angesichte. Denn es war nicht jenes Lächeln, das Aushängeschild eines ironischen Mitleids gegen sich selbst, womit man in reiferen Jahren Jugendthorheiten gleichsam zu entschuldigen sucht; es war das Lächeln der Pietät, das Lächeln einer Versöhnung, welche Vergangenheit und Gegenwart tief im Grunde der Seele feiern. Und sprach der Greis mit dem Silberhaar, dem die schönsten Blumen auf den Gräbern wachsen, sprach er von Giessen, so sah' ich wohl, wie eine Thräne an seinen Wimpern hing, eine Thräne der stillseligen Wehmuth, wie sie oft nach einem halben Jahrhundert noch aus dem unversiegten Bronnen der ersten Liebe zu Tage kommt. — Und es ist auch eine erste Liebe, die der Jüngling auf der Hochschule anknüpft und die wie ein leuchtender Faden in allen dunklen Irrgängen des ganzen Lebens ihn leiten soll. Mit dem vollen Feuer einer gesunden, unverdorbenen Seele tritt er aus dem stillen, engumfriedeten Familienkreise des Vaterhauses, welcher die brausende Gährung des jungen Herzens noch weniger fassen kann, als dieses selbst sich versteht, — kommt er aus der Schule, wo der fruchtbare Keim gepflegt wurde, welcher nun die klemme Hülle zu zersprengen, Wurzel zu fassen und sich in hundert Trieben, Aesten und Blüten am Licht der Sonne rasch auszuleben strebt. So betritt der Jüngling die Hochschule. Da ist es ihm zu Math, als fühle er nun erst plötzlich festen Boden unter seinen Füssen, und doch ist es ein rein idealer Boden, worauf er wandelt; — und doch ist dieser ideale Boden auch wieder ein fester, für jene Herzen nämlich, die im Jugendalter auch wirklich jung sind; — leider sieht man so oft auch das Gegentheil! Und eben das Ideal wird des Jünglings erste Liebe. Wie eine Göttin, rein und im überirdischen Glänze zu ihm niederschwebend, tritt es aus Rosenwolken vor ihn hin, und alles, was die junge Brust bis jetzt so schmerzlich-wonnig durchtobte, der ganze Elementarkampf des Frühlings, den sie in sich nur fühlte, nicht begriff, — ordnet sich plötzlich zu bestimmten Bildern, scheidet sich in besondere Begriffe, und das junge Herz unterlegt, im rastlosen schöpferischen Drange, den Bildern jene Begriffe, es kleidet die Begriffe in jene Formen, es gibt ihnen jene Namen, wozu es den Antrieb entweder aus den Grundstoffen seiner eigenen Wesenheit oder aus der Richtung der ganzen Zeit empfangt oder aus dem ewig Schönsten aller Zeiten, aller Völker. Diesem erscheint die erste Liebe als Freiheit, Jenem als Poesie, dem Dritten als Wissenschaft, — wehe Dem, dem sie blos als Nährerin erscheint. Doch, wem sie die reine, hehre Göttin ist, o wie reich schmückt sie Der mit dem ganzen Lenz seiner Jugend! Gleich einem fahrenden Ritter schwingt er sich auf das bäumende Ross, den Traum, und durchjaget die Welt nach allen vier Winden, um die Lieblingsfarbe seiner Dame auf allen Zinnen aufzustecken. Sein ganzes Leben rollt er wie einen Teppich vor ihren Füssen auf. Und so feurig, so verzehrend wie seine Liebe ist auch sein Hass; ihr seht freilich gar so oft nur die dunklen Rauchwolken aufwirbeln und würdiget die Opferglut nicht, welche diese erzeugte. Wer einen Blick in diese Welt der Jugendzeit gethan, der begreift wohl jenes Lächeln des Freudelosen, jene Thräne des Greises, — Beides, Lächeln und Thräne, hervorgerufen durch die Erinnerung, Beides vermittelt durch eine andre Welt, die zwischen einer solchen ersten Liebe und einer langsamen, kalten, lebenslangen Selbstentäusserung oder jenem Zeitpunkte hegt, wo man seine Jugend durch die leise lindernde Sühnkraft des Alters wiedergewinnt. Wie manches Andre, Verwandte knüpft sich noch so oft an die Zeit der Universitätsjahre! Zunächst jene einfache und unschuldige liebe des Jünglings zur Jungfrau, jene Liebe, welche, entzündet oder gestanden in einem Augenblick der Begeisterung und Hingebung, sich wie ein fröhlicher Schiffbrüchiger nicht blos an den Mastbaum, nein an jeden Strohhalm der Hoffnung anklammert und aus jedem Thautropfen Nahrung saugt, — jene Liebe, die oft Jahre lang wie scheintodt im Sarge liegt und sich dann plötzlich beim ersten Sonnenstrahl wieder so mächtig aufrichtet, die mit so beschränkten Erfüllungen, dennoch so ehrenwerth bescheiden, so jugendlich frisch an den Treu- und Traualtar tritt, wie sie ernst — „ihr‘ Sach' auf Nichts gestellt“ — keck hinaussegeln wollte in die offne See. Lächelt nicht über solche Erfüllungen alter Studentenliebe! Es ist etwas Rührendes in dieser Zärtlichkeit des alten Jünglings und der gealterten Jungfrau, in diesem Verhältniss, dem die Zeit den Schmelz der sinnlichen Schönheit nur abgestreift hat, um der Seelenschönheit Platz zu machen, damit diese ihr Siegel auf die reine Treue drücken kann. Und Dicht dies allein! Lasst uns auch nach andern Seiten des Universitätslebens hinblicken, nach jenen schroffen eckigen Gestalten, die in den Gleisen des bürgerlichen Lebens ganz ungewöhnlich sind, und die unter der wunderlichen Schale des bemoosten Hauptes so viel Kern, so viel Biederkeit, bei oft so viel stiller langer Noth, verbergen, — ferner nach jenen edlen und reinen Männerfreundschaften, die sich, auch als eine erste Liebe, gleichfalls bei grauem Haare jung erhalten, — eine so ungefährliche geheime Verbindung — der Herzen nämlich—als Liebe ist, eine Art von Freimauerei, welche in der Folge zuweilen sogar die schroffen Standesunterschiede ausgleicht und den Staatsrath mit dem ärmlichen Magister gleichstellt.

Dies alles passt vorzugsweise auf die Hochschule in der Provinzialstadt, wo sie die hervorragende Hauptsache, wo sie gleichsam Mittelpunkt und Achse des Lebens ist, wo, wenn auch nicht ihre Selbstständigkeit, doch gewiss ihre Eigentümlichkeit scharfer und bestimmter hervortreten kann, als in der Ebbe und Fluth der verschiedenartigsten Interessen, welche das Leben in der Residenz bewegen. In der Provinzialstadt erhalt sich im Allgemeinen die feste Gliederung des akademischen Lebens; dieses durchdringt meistens das bürgerlich- gesellige und überträgt auf dasselbe seine besondre Färbung. Auch der reine und erhebende Genuss der Naturschönheit ist dem akademischen Bürger in der Provinzialstadt mehr erleichtert, als in der Residenz; denn meistens beherrscht jene eine reizende Umgebung, welche mit ihr ein harmonisches Ganze bildet. Dann hallet jeder kühle Wald, jede Felsenwand und jede Ruine vom Rundgesang der akademischen Jünglinge, und Gottes Natur ist der grosse Salon, wo es keines Thees und keines Opernenthusiasmus bedarf, um die Herzen zu erwärmen und das bürgerliche Leben mit dem akademischen zu verschmelzen.

Und eine solche günstige Lage zeichnet nun Giessen aus. Am linken Ufer der Lahn, in welche die Wieseck rinnt, liegt die Stadt in einer schönen fruchtbaren Ebene, von Wäldern und sanken Anhöhen in der Nähe umgeben, von Gebirgszügen in der Ferne umschlossen. Nähe und Ferne aber geh'n ganz unmerklich ineinander über, und zu dem Interesse an den Reizen der Natur, — einem Interesse, welches durch die mannichfaltige Abwechselung von Höhen und Thälern, von Wald und Strom, durch die effectvollsten Gruppirungen der Hintergründe stets frisch und neu bleibt, — gesellt sich noch das historische Interesse für das Alter und die gewesene Bedeutsamkeit der umliegenden Schlösser, Kirchen und Ortschaften. Schon der Gesammtüberblick der Stadt vom Buschischen Garten aus lasst die Schönheit der Umgebungen ahnen. In ihrer vollen Pracht und Grossartigkeit aber soll ich diese vor mir entfaltet sehen, wenn ich den Seltzerberg besteige, und auf dessen Hochrücken meine Blicke die Runde machen lasse. So räth mir ein trefflicher Freund, und rasch befolge ich seinen Rath und nehme seinen Arm; wir steigen hinan. Unser Standpunkt ist einige Schritte vom Kreuzweg. Da liegt die Stadt mit ihren beiden Kirchtürmen tiefab zu unseren Füssen, nur das Universitätsgebäude raget mit seiner hellen Facade hoch und breit hervor. Gerade über demselben erheben sich unsere Blicke zu dem Wettenberg, den das Volk die „sieben Köppel“ nennt; und es sind auch eigentlich sieben Hügel, welche sich schichtenartig übereinandergipfeln. Von den beiden höchsten Spitzen senkt sich rechts die Linie des Bergrückens hernieder. Wir verfolgen nun das Rundgemälde in der Richtung nach rechts. Am Fuss des Bergrückens, am rechten Ufer der Lahn, die im Silberglanze schimmert, liegt das Dorf Launsbach; die Thurmspitze der katholischen Kirche weist wie ein Zeiger gerade darauf hin. In der nächsten Schlucht liegt das uralte Pfarrdorf Wissmar. Nun schliesst sich an die Absenkung jenes Bergrückens ein aufsteigender anderer; von dessen beiden kahlen Gipfeln ist der erste breitere der Altenberg, der kleinere rechts nebenan der Lützelberg. Wo sich dieser Bergrücken in den Waldgrund niedersenkt, da öffnet sich ein reizendes Thal, zur andern Seite von einem bewaldeten Bergrücken geschlossen; aus diesem Thale eilt die Lahn von Marburg her, an Bellenhausen, Friedelshausen, Kirchberg und der Badenburg vorbei nach Launsbach und Giessen zu; den Hintergrund dieses Thales schliessen die blauen Berge, an welchen ich durch ein gutes Fernrohr das Marburger Schloss erkennen kann. Gerade über dem Buschischen Garten sehe ich die Dörfer Wieseck und Altenbuseck. Nun bilden Waldparthieen den Vordergrund, auf dem sich mein Auge erholet, bevor es die Bergzüge wieder verfolgt. An dem dichtbewaldeten, hohen Berge gewahr ich hierauf Grossenbuseck und Rödchen; dann steigt der Giesser Wald mählig bis zu der Höhe hinan, auf welcher die wohlerhaltenen Gebäude der weiland Deutsch - Ordens - Kommende Schiffenberg thronen. Den Raum im Hintergrunde, wo er sich zwischen den Senkungen dieser Höhe und jenes Waldberges öffnet, füllen die blauen Spitzen des Vogelsberges in beinahe horizontaler Richtung. Ich habe mich indessen unvermerkt gewendet und sehe jetzt in der äussersten Ferne einen Höhenzug beginnen, dessen kahlen Saum der römische Pfahlgraben markirt, der sich nach Pohlgöns fortzieht. Auf dem höchsten Punkte steht das Pfarrdorf Grüningen, nicht weit davon stand einst das im 30jährigen Krieg erloschene Dorf Obersteinberg. Wo dieser Höhenzug sich zu senken scheint, steigt ein anderer aus dem Walde der Lindner Mark empor, und hinter dem Einschnitte, welchen Beide bilden, zeigt sich in der Ferne die Höhe bei Friedberg. Der Mittelgrund ist jetzt fortwährend Wald; im Hintergrund aber erhebt sich jetzt der Hausberg bei Butzbach, und scheint sich in dem langen und hohen Rücken des Hüttenberges, hinter welchem bei günstiger Beleuchtung die Spitze des Feldberges zu erkennen ist, fortzusetzen. Der nächste Gipfel dieses Zuges ist der Stoppelberg, an dessen Fuss in der Schlucht Münchholzhausen liegt. Ich sehe Lützellinden und Kleinlinden und in einiger Höhe das freundliche Dutenhofen. Nun gleitet der Gebirgsrücken allmälig in die Ebene hinab, welche er mit einem schmalen Vorsprung schliesst. Hier verlässt die Lahn das schöne breite Thal, in welches ich sie bei Launsbach eintreten sah, und wendet sich hinter jenem Vorsprung, um gen Wetzlar zu eilen. Längs der Oeffnung des Thales gruppiren sich jetzt die Gebirge des fernsten Hintergrundes zauberisch schön. Am rechten Lahnufer zeigen sich zunächst Dorlar und Atzbach, dahinter an dem hohen Bergrücken, dessen Umrisse scharf aus dem Horizont hervortreten, im blauen Duft halb verschleiert Greifenstein. Vor diesem schiebt sich jetzt ein langer schöngeschwungener Gebirgszug, an dessen Fuss liest am rechten Ufer der Lahn und am Bieberbach das anmuthige Heuchelheim, da steht bei der Mühle die breitschattige Linde, unter der schon so manche Jugendfreundschaft geschlossen ward; die Heuchelheimer Mühle (ungefähr eine halbe Stunde von Giessen entfernt) ist das beliebte Ziel so mancher Ausflüge. Weiter oben in der Mittelhöhe zeigt sich mir Kinzenbach. Auf den Bergen, welche sich hinter diesem Augenpunkte des Mittelgrundes hinziehen, kann man Königsberg, und etwas weiter rechts drüber auf dem Saum des Gipfels Hohensolms gewahren. An diesen Gebirgszug schliesst sich nun der hohe mit dichtem Wald bewachsene Dünsberg. Vor diesem winkt mir der Vetzberg mit dem Vetzberger Hof. Dann in der Hochebene der weisse Hardthof und auf dem hohen Gipfel rechts die stattliche Ruine des Schlosses Gleiberg, die wie ein Luginsland auf Giessen herabblickt. Hinter dem Gleiberg ruhet mein Auge auf dem dunklen Crofdorfer Wald von der langen Rundschau aus. Diese ist jetzt abgeschlossen. An den Gleiberg reihet sich nämlich wieder der Wettenberg. — Es wäre schwierig für den Zeichner, das herrliche Panorama in seiner ganzen Grossartigkeit aufzunehmen und dabei alle jene lieblichen Einzelnheiten der Gebirgsgruppen getreu bemerkbar zu machen, welche bei jeder wechselnden Beleuchtung andere Formen zu gewinnen, sich bald enger aneinander zu schliessen, bald wieder scharfer zu sondern scheinen, — diesen köstlichen Wechsel von Fruchtfeldern, Wiesen, Wäldern und Höfen; die Wirklichkeit, welche sich bei jeder neuen Beschauung neue Ueberraschungen vorbehält, würde wohl auch die sorgfältigste Aufnahme des Zeichners selbst bei der möglichst besten Ausführung weit hinter sich lassen. Wie viel schwieriger aber gar, dieses Panorama durch Worte zu skizziren, ohne allzu ausführlich oder unverständlich zu werden! Die Skizze in Worten, welche ich eben versucht habe, sollte auch blos eine Nachhülfe der Erinnerung für Den sein, der sich selbst schon auf dem Standpunkt befand, welchen ich eben einnahm, und der, jetzt vielleicht manche hundert Meilen davon entfernt, sich die Rundschau mit Geistesblicken erneuern will. Wer aber Giessen noch nicht kennt, mag sich dadurch vielleicht einen ungefähren Begriff verschaffen von dem reichen Kranze seiner näheren und ferneren Umgebungen, — einem Kranze, gewoben aus dunklem Waldesgrün und duftigem Bergesblau, die Schlösser und Thürme, im Abendroth glühend, schimmern wie Edelsteine darin, und die Lahn ist das Silberband , welches die beiden Enden des Kranzes schön verbindet.

Und nun folge ich dem Wege, der mich von dem Hochrücken des Seltzerberges zwischen wogenden Saatfeldern gegen die Frankfurter Heerstrasse zu führt, welche gerade nach der Stadt hineinweiset. Da steht an der Strasse die neue katholische Kirche, ein einfaches, schmuckloses Gebäude, welches man gut und gern eine Kapelle nennen könnte. Ihr gegenüber seh‘ ich auf der anderen Seite der Strasse die geräumigen Gebäulichkeiten der Universität, die Bibliothek und das schöne Wohnhaus des Bibliothekars. In einem Seitenanbau befindet sich das chemische Laboratorium. Es ist gewiss eines der merkwürdigsten auf dem Kontinent. Wer kommt wohl nach Giessen, und versäumt, es zu besuchen? Wer? Nur Der, den von der Menschheit nichts interessirt als sein kleines „grosses Ich“. O man muss es sehn, dies Laboratorium, auch wenn man kein Chemiker ist. Der Gelehrte gehe hinein, wie der Studirende und der Gewerbetreibende. Dies Laboratorium hat einen Ruf, welcher der ganzen Hochschule zu Gunsten kommt, — den Ruf des Mannes, dem es seine vollständige Einrichtung verdankt. Und tritt man nun hinein, wie ist da nichts mittelalterlich - Düstres, nichts, was uns an Fausts geheimnissvolle Studirstube erinnern könnte, „wo selbst das liebe Himmelslicht trüb durch gemalte Scheiben bricht.“ Und doch waltet auch hier ein Zauberer, der die Schmerzens- und Zornworte des alten Magus: „Geheimnissvoll am lichten Tag lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben", diesen hingeworfenen geistigen Fehdehandschuh kühn aufgenommen hat. Was viele Worte: hier waltet Justus Liebig, dieser scharfe, unermüdliche, schöpferische Geist, dessen Verdienste um die ganze wissenschaftliche Gestaltung der organischen Chemie Frankreich und England anerkannt haben, und dessen, anregende Kraft Wissbegierige aus Calcutta und Mexiko um sich her versammelt. Licht, wie des Meisters Geist, ist sein Laboratorium; ich möchte sagen: es drückt gewissermaßen den Charakter aus, welchen seine Wissenschaft in der neuesten Zeit — und zwar grösstenteils durch seine Beihülfe — endlich entfaltet hat. Ja, hier umtönet es mich leise, wie Geisterstimmen:

„Wie alles sich zum Ganzen webt,

Eins in dem andern wirkt und strebt;

Wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen

Und sich die goldnen Eimer reichen,

Mit segenduftenden Schwingen

Vom Himmel durch die Erde dringen,

Harmonisch all' das All durchklingen!“

Ich fühle hier tief die Wonne des Forschers nach vollbrachter Forschung, wenn ich Ihm auch nicht folgen kann, — dies erhebende Gefühl: das Todte zu beleben durch die Kraft des freien Geistes, — eine ächte Herrscherwonne, wie sie so leicht kein Herrscher fühlt, lässt sich dem Forscher nachfühlen, der keine Autorität anerkennt, als die des ewigen Gesetzes und auch diese nur, weil er sie geprüft hat und probehaltig fand. Doch ich muss mich von dieser Stätte trennen, die ich nicht beschreiben, sondern deren Eindruck ich hur andeuten wollte.

Geschmackvolle und freundliche neue Gebäude zieren den Seltzerweg, welchen ich jetzt, in die Strasse links einbiegend, zur Seite lasse, um durch Gärten und Wiesen an's Ufer der Lahn zu eilen. Welch ein reich gesegneter Fruchtboden, wohin ich rings blicke! Von welcher üppigen Fülle strotzt die Vegetation! Es ist eine wahre Freude, diese Gärten zu betrachten, wo jeder Obstbaum ein kleiner offner Tempel scheint, dessen schlanke hölzerne Säulen die Stützen sind, auf denen die Zweige wie eine Kuppel ruhen, und wo Laub und Obst mannigfaltig -zierliche Kapitäle und reiche Festons bilden. Schade, dass die Blumen, diese sprachlosen und doch so sinnigen Jungfrauen, sich nicht auch in ihren Festkleidern zeigen, womit sie die mütterliche Erde hier so gerne ausstatten möchte, wenn auch der Mensch darauf Gewicht legte, wie zum Beispiel in dem nahen Wetzlar, wo Göthe‘s Jugendgeist über den Blumen schwebt. Hier in den Gärten Giessens nehmen sich die Blumen einfach wie hübsche Landmädchen oder brave zierliche Bürgerstöchter zwischen den sorglich gepflegten Gemüsen aus; der praktische Hausmannssinn opfert das Schöne gern dem Nützlichen oder begnügt sich wenigstens, das Erstere von der Natur zu empfangen, während er das Letztere zu veredeln strebt. Dies gilt natürlich nur im Allgemeinen; denn in einzelnen Gärten reicher Besitzer empfängt uns Flora wie die elegante Dame vom Hause im reichsten Schmuck.

Und nun bin ich plötzlich bis vor das Neustadter oder Lahn -Thor gekommen. Dicht vor mir rauschet die Lahn, welche hier eine Fuhrt gestattet, Weiter oberhalb derselben wölbt sich die alte und hohe steinerne Bracke. Ein Denkmal alter Zeit! Ich gönnte dieser Brücke gern ihr Dasein, wenn sie nur bequemer wäre, so dass man sie zu Wagen passiren könnte, — nämlich ohne Gefahr, dabei den Hals zu brechen.

Vielleicht macht dieser fromme Wunsch Eindruck auf sie, und sie wird einmal über Nacht etwas humaner. So lang sie es aber nicht ist, gesteh' ich gern, dass ich sie lieber gar nicht sähe, sondern eine bequeme und solide neue statt ihrer. Es ist gewiss gar schön, das Altertümliche zu ehren, aber es ist noch schöner, den Anforderungen der Gegenwart bereitwillig zu entsprechen; denn der Lebende hat doch wohl die nächsten Rechte! Der Fremde, der zum erstenmal hierher kommt, kann sich eines ironischen Lächelns wohl kaum erwehren, wenn er sieht, dass jedermann es vorzieht, mit der elegantesten Equipage — durch die Lahn zu fahren, statt über die Brücke, welche kaum hundert Schritte oberhalb der Fuhrt steht; und so ist die Lahn, statt von Schiffen, von Fuhrwerk aller Art belebt. Ueberhaupt erweckt der Anblick der Lahn allerlei andre Gedanken. Da fliesst sie an der gewerbfleissigen, wackren Stadt so traurig hin, als schäme sie sich, dass man sie bisher noch nicht gewürdigt hat, ihr befrachtete Schiffe anzuvertrauen, welche sie in den Rhein hinabtrüge. Und es ist doch etwas Eigenes um den Verkehr! Ein neuer Verbindungsweg, der ihm geöffnet wird, belebt gar schnell elf andere, und alle zwölf sind dann eben so viele Gäste, welche, sich bei der Industrie zu Tisch einfinden und sie freundschaftlich nöthigen, mehr aufzutragen, als bisher- für den Hausbedarf grade ausreichte. Was gilt' die Wette: Jener fatale „dreizehnte“ Tischgenosse, der vielleicht bis dahin der Einzige war, nämlich Meister Stillstand, der so gern breit im Lehnstuhl sitzt, der so gesund aussieht und doch die Abzehrung in sich trägt, stirbt dann, wie irgend ein ominöser „Dreizehnter“, bevor ein Jahr vergeht. Hiermit will ich übrigens keineswegs sagen, dass der „Stillstand“, oder wie er seiner Charge nach wohl heissen sollte: der „Rückschritt“ gerade hier in Giessen zu treffen sei. Im Gegentheil: dieser traurige Schmarotzer, dieser Spassmacher nach der Leiche findet hier allzuviel Rührigkeit, als dass es ihm gefallen könnte. Allein, — wer kann uns denn dafür gutstehen, dass er sich hier nicht — aller möglichen polizeilichen Aufsicht zum Trotz — dennoch mit der Zeit einschmuggelte, wenn das naturgemässe Bedürfniss des hiesigen industriellen Bürgerthums: gleichen Schritt mit der Gegenwart zu halten, nicht befriedigt werden sollte? Giessen ist eine von den lebhaften Schlagadern der Provinz Oberhessen, deren Blutcirkulation nicht ins Stocken gerathen darf, ohne dass der ganze Organismus darunter leidet. Und unsre Zeit folgt bei solchen Fällen dem alten Grundsatz des Hippokrates: „Was die Arznei nicht heilt, heilt das Eisen.“ Die Arznei ist die Schiffahrt, die Eisenbahnen sind das Eisen. Es ist, um wieder auf Giessen zurückzukommen, ganz unberechenbar, welche Vortheile Giessen gewänne, wenn es durch eine Eisenbahn mit dem Rhein einerseits und mit dem Norden anderseits als natürlicher Mittelpunkt in nähere Berührung gebracht würde. Ueberhaupt, wer hat die Vortheile der Eisenbahnen bis jetzt noch völlig richtig berechnet? Man rechnet meistens gar zu ausschliesslich nach Zahlen, ohne auch jenes Kapital in Anschlag zu bringen, dessen Zinsen, statt Jahren, oft blos Augenblicke bedürfen, um selbst zum Kapital zu werden und wieder Zinsen zu tragen. Doch, wie kam ich denn nur auf einmal mitten in diese Gedankenarabesken, wo sich eine Ranke aus der anderen entspinnt und neue Triebe ansetzt? Halt, ich vermuthe es. Mir war's, als hätt‘ ich dort durch die Zweige der Ufergebüsche eine Jungfrau in reizender Blässe gesehen; sie tauchte aus den Wellen empor und schlug einen grünen nassen Schleier zurück; einen blauen Blumenkelch hielt sie in der Hand, und aus den goldnen Staubfäden wuchsen die Arabesken hervor; und ein leises Klingen zog drüber hin, ein melodisches Rauschen, wie ein Lied von ferner Zeit. Gewiss: das war die schöne Lahnnixe. Aber war Vergangenheit oder Zukunft der Inhalt des Liedes? O lasst mich lauschen und alles vergessen, was rings um mich ist.

So sass ich lange einsam auf einer Bank (denn mein Freund, der mich auf den Seltzerberg begleitet, war in die Stadt zurückgekehrt) und horchte; aber das leise Klingen wollte sich nicht wieder vernehmen lassen.

Und mittlerweile ist es Abend geworden, die Dämmerung webt ihre Schleier über das Landschaftsbild. Nur wenige Wandrer sind noch auf den Strassen und Feldwegen, der Landmann, der vom Acker ins Dorf kehret, der Landkrämer, der seinen bescheidnen Einkauf in der Stadt besorgt hat; — bald schwinden die dunklen Gestalten in den Schatten. Auch die Formen der Gebüsche am Ufer, welche noch vor kurzem so scharf hervorgetreten in der letzten Helle des Horizonts, verschwimmen jetzt in breite und undeutliche Massen. Da tritt der Mond aus den schweren Wolkenschichten hervor und grell beleuchtet sein bläulicher Schein den alten Thurm auf dem Gleiberg; in der gespenstigen Beleuchtung scheint mir dieser jetzt näher als am Tage. Schaurig still ist's rings um mich her; nur der gedämpfte Schall eines Studentengesanges dringt aus der Stadt herüber. Bald verstummet auch er und lauter wird jetzt das Rauschen der Wasser. Gewiss: das ist die Nixe hinter den Büschen. Sie hat jede Hülle abgelegt und wiegt sich auf den Wassern im Mondenstrahl und erzält von Geschicken alter Zeiten, die sie gesehen. Ich horche, was sie verkündet.

Wie die magischen Töne leise erklingen, verändert sich vor meinen Blicken das Bild der ganzen Landschaft. Ich sehe die Wasser frei und wild dahin rauschen, noch trägt der Strom kein Brückenjoch. Dichter Urwald bedecket die Höhen und die Ebene an beiden Ufern; unter den alten heiligen Bäumen aber streifen kühne Jäger umher, mit durchdringenden Blicken aus blauen Augen. Hier wandeln Jünglinge, ungeduldig nach dem ersten Feindesleben; denn schon tragen sie den Bart und lange wallt ihr Haar und die Sitte gebeut, ihnen Haupthaar und Bart wachsen zu lassen, bis sie einen Feind erlegt. Die Männer dort tragen eiserne Ringe, wie schmäliche Fesseln; aber sie haben sich diese selbst angethan, bis sie durch Feindesmord sich davon lösen. Hier schwächt das Alter die wilde Tapferkeit und die Freiheitslust nicht, die dem stämmigen Volk eigen sind, das den Frieden hasset, das das Feld nicht bauen mag, und das, hat es keinen Feind, mit dem gewaltigen Hochwild ringet. Es sind die Katten, die hier hausen. Hoch und schön, stolz und züchtig tritt die Jungfrau mit dem langen Goldhaar in der kriegerischen Männer Mitte; die Mutter hüllt ihr neugeborenes Kind nicht in warme weiche Decken, sie trägt es hinaus an die kalte Fluth und taucht es hinein und weiht ihm den Leib zu Kraft, das Herz zu Muth und Freiheitslust.

Horch: römischer Heeresruf schallt durch den Urwald. Nun kann sich die unzähmbare Tapferkeit mit erprobter Kriegskunst messen; nun gibt es Ringe zu lösen, nun Kinn und Stirn und Nacken in Feindesblut zu enthüllen. Denn die Freiheit der Katten ist in Gefahr; und schon hat der Römer den Pfahlgraben als einen Grenzwall seiner Herrschaft gezogen. Der Kampf entbrennt und für ferne Zeiten bleiben seine Spuren auf den Wahlplätzen; von Geschlecht zu Geschlecht geh'n die Namen Leichenau, Römerloch, Kattenfeld (jetzt Katzenfeld) über. — Es ist nicht der einzige Kampf zwischen Katten und Römern; viele folgen und die Römer lernen der Katten Tapferkeit kennen. Aber auch gegen andere deutsche Stämme zieht das gewaltige Volk in den Streit aus; Siege und Verluste wechseln; und endlich schmilzt der Name der Katten in dem grossen Bund der Stämme ein, in dem gefürchteten Gesammtnamen: Franken.

Wie schwere Gewitterwolken, vom Sturm gepeitscht, am Himmel sich jagen, so auf Erden die Geschicke der Völker. Eine sternlose Nacht hegt lange über diesem Boden, und wie die dichten Nebel sich wieder erheben und zerstreuen, tritt (vom siebenten Jahrhundert an) allmählig der Namen Hessen hell hervor. Ein grosses Frankenreich hat sich aufgethan, von Königen beherrscht. Die deutschen Lande sind in Gaue getheilt, denen Grafen vorstehen, die Unterabtheilungen der Gaue heissen Centen und Marken. Die hiesige Gegend wird theils dem Niederlahngau, theils der Wetterau zugerechnet und christliche Glaubensboten durchziehen sie. Welch ein verändertes Bild der Landschaft! Das Christenthum hat sie gelichtet: es hat die uralten heiligen Eichen, unter denen die Väter ihren einfachen Naturgottesdienst hielten, gefallt. Auf der Höhe, die sich zur Fuhrt der Lahn herniederneigt, steht jetzt ein Dörflein, genannt Selters und ein Kirchlein, St. Peter zu Ehren geweiht, am jenseitigen rechten Ufer ein anderes Dörflein Croppach. Die Herren der Gegend sind aus dem Konradinisch- salischen Geschlecht; in kirchlicher Hinsicht gehört sie zur Trierschen Diözese, und zwar zum Archidiakonat Dietkirchen, zum Dekanat Wetzlar. Mittlerweile hat sich das Lehenswesen entwickelt, und mächtige Geschlechter breiten sich aus, und stattliche Burgen erheben sich auf den Bergesgipfeln zu Schutz und Trutz. Schon wächst dort auf dem Gleiberg aus Basaltquadern der Thurm heran. Von seinen Zinnen überschauen zwei Grafen aus Lothringen das schöne Land, das ihr Eigen ist; eine Erbtochter des fränkischen Herzogshauses brachte es an jenes Geschlecht. Und herrlich ist dieser Stamm der Grafen von Gleiberg; stolz stehen sie unter den Grossen des Reiches. Eine Tochter des Geschlechts, die Gräfin Klemenzia, stiftet in der Nähe das Kloster Schiffenberg, und nun schwindet immer mehr das Dunkel der Wälder und statt ihrer kommt immer mehr neuangerodetes Land hell an's Licht der Sonne. Noch heisst die Gegend blos das „Wiesecker Thal“, vom Wieseckflüsschen, das es durchrinnt. Da erbauet, Graf Wilhelm von Gleiberg (gegen Ende des 12ten Jahrhunderts) diesseits der Lahn eine Burg zur Vorhut für die neuangelegten Dörfer und die Burg heisst fortan „zu den Glessen“. Seine Erbtochter Salome nennt sich (1197) „Gräfin von Giessen.“ Durch ihre Vermälung mit Hugo von Eberstein erbt ihre Tochter Mathilde die Herrschaft Giessen als einen Theil der Grafschaft Gleiberg, und Mathildens Sohn von dem Pfalzgrafen Rudolf von Tübingen so wie ihr Enkel sind fortwährend Herrn von Giessen. Der letztere, Ulrich Pfalzgraf von Tübingen, verkauft 1265 die Herrschaft Giessen an Heinrich das Kind, Landgrafen von Hessen, einen Enkel der heiligen Elisabeth und Sohn des Herzogs Heinrich II. von Brabant. Schon 15 Jahre vor diesem Verkauf kommt Giessen urkundlich als Stadt vor.

Zwar kann sich die Burg „zu den Giessen“ an Umfang mit jener stattlichen älteren nicht messen, welche stolz und frei vom hohen Felsengipfel auf sie herabblickt. Aber so tief die Burg zu den Giessen in der Ebene liegt, — sie ist doch fest und sicher durch die Wasser; sie ist der Liebling der Nixe, die ihre Arme um sie breitet, um sie vor Gewalt zu schützen, und, käme ein Feind, so erhöbe sich die Nixe zürnend und riefe die Wasser der Ebene herbei, die ihr gehorchen. Sieh, wie die ausgesteckten Fähnlein auf den Zinnen wallen! Da kommt der Adel von seinen offnen Sitzen in der Nachbarschaft herbeigeritten, und bauet sich an neben der Burg und ziehet fröhlich ein, des guten Schutzes sich freuend, den er hier findet. Da wird so mancher Freie und Adelige ein Burgmann zu Giessen, und die Burgmänner richten mit Gottes Hilfe den Burgfrieden unter sich auf, zu ihrer Aller Ordnung, Gesetz, Heil und Ansehn weit und breit. Es sind bedeutende Dynasten unter diesen, so die Herrn von Buseck, von Merenberg, von Falkenstein, von Nordeck, von Cleen, von Weitholshausen, von Schwalbach, die Riedesel, die Schenk zu Schweinsberg. Sie haben erbliche Burglehen und sind die Schöffen und stellen den Schultheiss. Sie schützen die Stadt in der bösen Zeit der Fehden gegen jeden Feind. Dieser Schutz, welch ein köstliches Gut, lockt immer mehr fleissige Leute aus dem Volke herbei; und sie siedeln sich, weil innerhalb der Ringmauer kein Platz mehr ist, auch um dieselbe ausserhalb an. So wächst gegen die Lahn hin allmählig die Neustadt heran; immer kräftiger entfaltet sich dabei das edle, deutsche Bürgerthum. In der Stadt Giessen aber erhebt sich eine Kapelle, dem heiligen Pankratius und der heiligen Maria geweiht, noch immer abhängig von der alten Mutterkirche zu St. Peter in Selters. Landgraf Otto stellt (1325) alle Bürger, die ausserhalb der Ringmauer wohnen, an Rechten und Freibriefen mit jenen innerhalb der Ringmauern völlig gleich. Die Stadt fuhrt den Buchstaben G von Silber, oben mit einer goldnen Krone geziert, im Wappen; in dem G aber steht ein rother Löwe mit schwarzen Flügeln, im blauen Felde.

Das junge Bürgerthum lässt seiner nicht spotten. Durch Mauern fest, ist es noch fester von Sinnesart; die Kraft und der Muth der Urväter, denen Mauern verhasst waren, hat sich im Bürgerthum erhalten und in neuer Weise erfreulich entfaltet; der uralt eingeborene Freisinn hat durch den Sinn für Ordnung und Gesetzlichkeit seine Weihe bekommen. Die Tüchtigkeit der Bürgerschaft von Giessen zeigt sich schon bald nach jener Anordnung des Landgrafen Otto. Er hatte langen Zwiespalt mit dem Kurfürsten Peter Aichspalter von Mainz. Dessen Nachfolger, Matthias, belagert, mit dem streitbaren Kurfürsten Balduin von Trier verbündet, 1327 das feste Giessen und erstürmt es nach mannhaftem Widerstand. Nun waltet das Kriegsvoll in der eroberten Stadt voll Uebermuth gar übel gegen Zucht und Recht. Aber die Bürger erduldend nicht lang. Wenige Wochen vorbei; da schallt es in allen Gassen: „Waffen zur Hand!“ und die Bürgerschwerter blitzen, die Uebermüthigen flieh'n; die Bürger aber übergeben die Stadt ihrem Landgrafen getreulich wieder. Sagt an: Was gibt es Edleres im Staat Tils Bürgersinn? Was stützt Fürsten so sicher? Und was festigt so gut, wie Freiheit, die Kräfte zu üben, die sich in schlimmen Zeiten erprobten? Und immer stattlicher wächst die Bedeutung Giessens heran, wie die Landgrafen die Stadt mit Freibriefen begaben, so Heinrich, zubenannt der Eiserne (1367), so Hermann, zubenannt der Gelehrte (1400), und Wilhelm (1498). Kaiser Maximilian I. verleiht der Stadt (1497) einen freien Jahrmarkt auf 8 Tage. Auch die neue Richtung des Handelsweges wird für Giessen von grossem Einfiuss. Die Verbindung zwischen dem deutschen Norden und Süden verfolgt den Zug über Giessen und Marburg. Die Heerstrasse bringt der Stadt Güter und Kaufleute; die engen krummen Gassen wimmeln von Menschen, und die Münze mit aller Herren Wappen rollt rascher von Hand zu Hand. Wohlhabenheit hat stets auch auf das Zunehmen der politischen Bedeutung einer Stadt für‘s Land wichtigen Einfluss, denn sie dient dem Selbstgefühl als Pfeiler, wenn auch nicht als Fundament; dies bleibt stets die Gesinnung. Und die Gesinnung ist in Giessen eine unwandelbare Liebe zum Fürstenhause. In der verhängnissvollen Zeit der Irrungen zwischen den beiden Brüdern, dem Landgrafen Ludwig dem Freimüthigen und Heinrich III, steht die Stadt Giessen (1469) in der Reihe der Vermittler. Nach dem Tode des Landgrafen Wilhelm II. soll sie mit Kassel, Marburg und Eschwege dessen letzten Willen vollziehen; — Beweise der höheren Bedeutung, welche sie errungen hat, der achtunggebietenden Stellung, welche sie im Lande behauptet.

Was rauschen die Wasser plötzlich so mächtig? Das klingt wie Gesang von alten Helden, wie ein hohes Lied von deutscher Kraft und Herrlichkeit! Welche Zeit, o Nixe, sahst du so sonnig über dir aufgehen, dass du alle Töne der Freude so hell und voll austönen lässest?

Der Frühling kommt, mit Holm und Speere,

Ein leuchtend Schwerdt in seiner Hand;

Er zieht heran für deutsche Ehre,

Sein Ruf: Ein freies Vaterland!

Nicht länger soll in dumpfen Mauern

Des Volkes allgemeiner Hort.

Der Geist — als ein Gefangner trauern,

Nicht länger sei gebannt, o Wort!

Da spannt der Lenz den goldnen Bogen,

Die Pfeile fliegen weit und breit;

Und Fürsten kommen hergezogen

Zu ihm als ritterlich Geleit.

Sie reichen sich die starken Rechten,

Und freudig ruft ihr bester Held:

„Die Wahrheit treulich zu verfechten

Gilt mehr als alles Gut der Welt!“

Aus Giessen und dessen Umgebung alten Tagen

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