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Kapitel 2 – Rya und Levana

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Zehn Jahre zuvor.

Vögel saßen in den Zypressen, zwitscherten sich zu und begrüßten fröhlich einen neuen Morgen, als Ryas Mutter an der Zimmertür klopfte.

»Sakine? Rya? Wo bleibt ihr? Es ist schon spät.

Aufstehen! Aufstehen! Es wird ein herrlicher Tag! Wascht euch und deckt den Tisch draußen im Garten.«

»Ja, liebste Mutter, gleich«, klang es verschlafen unter der Bettdecke. Sakine rieb sich die Augen und schälte sich aus dem Bett. Ihr Zimmer war sehr liebevoll eingerichtet. Fröhliche Vorhänge hingen am Fenster, flauschiger Teppich zierte den Boden und der ›Duft‹ nach Räucherstäbchen erfüllte die Luft.

Sie tapste durch den Flur in das Zimmer ihrer Schwester, setzte sich auf deren Bettkante und gähnte: »Ich konnte heute Nacht kaum schlafen.«

»Das war bestimmt der Vollmond!«, lächelte Rya und streckte sich. »Ich im Gegensatz habe gut geschlafen und obendrein schön geträumt.«

»Sag schnell Schwesterchen, hast du auch von mir geträumt?«, fragte Sakine neugierig.

»Habe ich denn nicht gesagt, dass es ein schöner Traum war?«, grinste Rya, sprang in ihrem rosafarbenen Pyjama aus dem Bett und rannte davon.

Sakine schnappte sich ein Kopfkissen und rannte ihr hinterher. »Pass auf, wenn ich dich erwische!«

Rya verschwand schnell im Bad, verschloss die Tür hinter sich und lachte. Sakine war dreizehn Jahre alt und ihre Schwester Rya gerade erst elf Jahre alt geworden.

Die Ältere klopfte energisch an der Tür, bis Rya sie widerwillig öffnete. Beide putzten sich rasch die Zähne und wuschen ihre Gesichter, doch für eine gründliche Reinigung war keine Zeit. Sakine drängte ihre kleine Schwester nach unten, denn die Mutter rief zum widerholten Mal zum Frühstück.

Als sie im Garten den Tisch deckten, zischte Rya ihrer Schwester zu: »Du bist manchmal schlimmer als unsere Mutter. Alles muss bei dir seine Ordnung und seinen Platz haben. Total altmodisch!«

»Haben wir nicht einen zauberhaften Garten?«, lenkte Sakine ab, da sie zu müde zum Streiten war. »Die stolzen Orchideen und der reine, weiße Costus. Wie findest du eigentlich die Sharonblumen? Und die Heidelbeersträucher. Wollen wir nicht ein paar Beeren zum Frühstück pflücken? Das wäre sicher eine schöne Überraschung.«

Rya stemmte die Hände in die Hüften und stöhnte: »Erst hetzt du mich – und dann aber Beeren pflücken wollen.«

»Du hast Recht«, lächelte Sakine und streckte ihrer kleinen Schwester zur Versöhnung eine Tasse Tee entgegen.

Herr Zafar, ein kleiner, runder Mann, saß bereits am Tisch und hatte sich neugierig in seine Zeitung vertieft. Im Tageslicht glänzten einige graue Härchen auf seinem Kopf.

»Deron, bitte, zieh dir doch Schuhe an, sonst erkältest du dich noch!«, rief Frau Zafar besorgt über die Schulter, als sie gerade mehrere Körbe voller Essen hinaustrug. Ryas Bruder Deron fütterte gerade die Fische im Teich.

»Gleich!«, erwiderte dieser genervt, ließ sich jedoch nicht von den wild zappelnden Flossen der Wassertiere ablenken.

Der Garten war eine paradiesische Oase, eingezirkelt durch einen kleinen Bach, der in einem Teich mündete. In diesem schwammen Schleierschwanzgoldfische flink unter der glasklaren Oberfläche herum.

Lotosblüten, gelbe Alamandas und Geranien blühten in voller Pracht und warfen dunkle Schatten auf das Wasser, ebenso wie die Zitronen- und Kirschbäume, die entlang des Bachs wuchsen.

Ryas Vater hatte sich viele Blumen und Kräuter aus dem Ausland schicken lassen, die nun in voller Pracht gediehen und dem Garten etwas Meditatives gaben.

Das leise Plätschern des Wassers und die bunten Blumen verscheuchten alle Sorgen. Besonders bei den Tageswenden, wenn der Garten zu magischem Leben erwachte. Wenn die Vögel die Sonne besangen, oder die Grillen in die Nacht hinein konzertierten.

All dies wurde nur ermöglicht durch Ryas Großmutter, die ebenfalls im Haus ihrer Kinder lebte und sich mit Liebe und Sorgfalt um die Pflanzen kümmerte.

»Rya, mein Kind, könntest du bitte …« Die Mädchen waren gerade dabei gewesen, über die sattgrüne Wiese zu jagen, als Herr Zafars Stimme sie einheitlich inne halten ließ. Sein aufmerksamer Blick linste über den Rand der Zeitung hinweg und sofort nickte Rya und erwiderte: »Gerne doch, Vater.«

Schnell eilte sie nach oben in ihr Zimmer, öffnete das Fenster ganz weit und schaltete anschließend den Plattenspieler ein, bis die Musik hinunter in den Garten drang. Ihr Vater liebte es, wenn der leichte Klang der Flöte, begleitet von Laute und Tamburin, wie eine sehnsüchtige Wüstenkarawane vorbeischwebte.

Die orientalischen Klänge erinnerten ihn an eine verschleierte, geheimnisvolle Frau, deren Augen zaghaft durch die Tücher blickten, von einer unbekannten Sehnsucht singend. Der Wind versuchte, ihren Schleier an sich zu reißen und zu lüften.

Die Musik erinnerte ihn an einen durstigen Leoparden, der, aus dem Morgenschlaf gerissen, mit stolzem Gang zum Wasser einer vergessenen Oase schlich, wo er sein Spiegelbild im Wasser betrachtete.

Die Musik klang nach Freiheit.

Ein ganzer Monat war vergangen und Rya hatte während der Fastenzeit keine Musik gehört.

Die Eltern waren stolz auf ihre Kinder. Herr Zafars Ehefrau Yasmin sammelte Geld für die Armen, sorgte sich um den Haushalt und für ein gemütliches Zuhause. Es war wichtig, ein Teil der Gesellschaft zu sein und sich so zu verhalten, wie es Tradition war. Darauf achtete Herr Zafar streng. Frau Zafar traf sich einmal die Woche mit Freundinnen, mit denen sie bis zum Sonnenuntergang stickte, kochte und plauschte. Die anderen Tage der Woche verbrachte sie Zuhause bei der Familie.

Ihr Gatte hatte sich zwar als Kaufmann eine eigene Firma aufgebaut, die viel Engagement verlangte, dennoch versuchte er, soviel Zeit wie möglich mit seiner Familie zu verbringen.

Yasmin, die für das Fastenfest den ganzen Tag in der Küche gearbeitet hatte, deckte gerade den Tisch, als Herr Zafar zu ihr kam, sie von hinten umarmte und zwinkernd in ihr Ohr flüsterte: »Sollen wir uns nicht für eine Weile ins Schlafzimmer zurückziehen?« Liebevoll küsste sie auf die Wange und bettete sein Gesicht an dem ihren.

Yasmin lächelte und versuchte vergebens, sich von ihm zu lösen. Seufzend schaute sie um, bevor sie mahnen zischte: »Schäm dich, die Kinder sind in der Nähe!«

»Ich vermisse dich. Bitte, nur für eine halbe Stunde«, bettelte er wehleidig, während er sich von seiner Frau löste und zu sich umdrehte. Ihre Blicke trafen sich und ein Lächeln bildete sich auf den Lippen Yasmins.

»Nach dem Abendessen! Dann gehör ich nur dir«, versprach sie augenzwinkernd. »Nun lass mich aber bitte den Tisch fertig decken.«

Herr Zafar belächelte die rötlich verfärbten Wangen seiner Frau, ehe er anbot: »Kann ich dir vielleicht dabei behilflich sein Habibdi, mein Schatz?«

»Wenn du möchtest, darfst du gerne die Teller aus der Vitrine holen.«

Nach einer Weile war der Tisch mit silbernem Besteck gedeckt, einem Kerzenständer aus Gold und Tellern aus feinem, chinesischem Porzellan. Rya hatte Blütenblätter aus dem Garten über den Tisch gestreut.

Das besondere Essen verlangte besonderes Gedeck: Es gab Maqlube, ein Schmorgericht aus Reis, Lammfleisch und Auberginen mit gerösteten Mandeln. Dazu wurde Musakkhan serviert, gebackenes Huhn auf Brotfladen, Salat mit frischen, gewürfelten Tomaten, Gurken und Joghurt.

Familie Zafar war froh, endlich wieder den ganzen Tag hindurch essen zu dürfen, denn erst gestern war der Fastenmonat Ramadan zu Ende gegangen, der neunte Monat des muslimischen Mondjahres. Diesmal war der Ramadan in den Sommer gefallen und durch die längeren Tage war es viel anstrengender, vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang nichts zu essen oder zu trinken.

»Papa, darf ich mir einen Fisch aus dem Teich nehmen und ihn sezieren?«, fragte Deron in die Stille des Abendessens hinein, als die Teller gerade aufgetragen wurden.

»Finger weg von den Fischen! Wenn du unbedingt etwas auseinandernehmen möchtest, dann such dir einen Frosch!«, murrte Herr Zafar halbherzig, im Kopf bereits vom köstlichen Mahl schlemmend.

Ryas Bruder wurde ganz heiß und er schluckte. Papas Fisch hatte er schon mittags aus Versehen getötet. Deron saß starr auf dem Stuhl, den Blick nach unten gesenkt, und wagte es nicht, zu widersprechen.

Herr Zafar ahnte, dass etwas nicht stimmte, und fragte: »Hast du etwa schon wieder einen meiner Schleierschwanzgoldfische getötet?«

Der Junge wurde nervös und bekam es mit der Angst zu tun. Er wusste, dass er bedacht antworten musste und hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht, um dem bohrenden Blick seines Vaters zu entgehen. Herr Zafar trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch und Ungeduld kam langsam in ihm auf.

Der Blick der Mutter wanderte zwischen Ehemann und Sohn hin und her. Alle warteten auf Derons Antwort. Dieser nuschelte mit gedämpfter Stimme:

»Ja, Vater!«

Einer Antwort würde er eh nicht entgehen können und es wäre besser, nicht zu lügen.

»Wie oft habe ich dir gesagt, dass du die Fische in Ruhe lassen sollst?«, ärgerte sich Herr Zafar mit harter Strenge.

»Ich wollte ihn doch nur untersuchen! Außerdem möchte ich eines Tages Arzt werden«, rechtfertigte sich der fünfzehn jährige Deron kleinlaut.

»Arzt? Du kannst nicht einmal einen Hahn von einer Henne unterscheiden! Die armen Tiere. Wie willst du mit diesen Voraussetzungen Arzt werden? Du würdest die armen Jungs kastrieren, anstatt sie zu beschneiden«, schimpfte Herr Zafar, verstimmt, da er seinen Sohn schon oft ermahnt hatte, den Fischen fern zu bleiben.

In diesem Moment klingelte es an der Haustür und Levana, Ryas beste Freundin, kam mit ihrer Mutter Mona zum Abendessen.

Deron atmete erleichtert auf und verschwand heimlich auf sein Zimmer.

Die Mittagssonne brannte und hunderte von Menschen drängten durch die verwinkelten Gassen. Kinder tobten herum, rannten durch die Beine der Erwachsenen und jagten einander lachend hinterher. Der süßliche Duft von Früchten und Gewürzen lag in der Luft und aus einigen Kaminen stieg Rauch.

Rya und Levana kletterten zu dieser Jahreszeit oft auf Bäume oder saßen stundenlang heimlich auf den Dächern fremder Häuser. Manchmal aßen sie Kirschen und spuckten die Kerne von oben auf die Straße, während sie sich Geschichten ausdachten. Ihre Kindheit war unbeschwert und glücklich. Die beiden hatten sich und das war ihnen genug, denn sie wussten alles voneinander. Noch konnten sie nicht ahnen, dass ein einziger Tag ihr Leben verändern sollte.

Schweigend saßen sie auf einem Dach und sahen der roten Sonne bei ihrem Lauf über den Himmel zu. Rya war heute ungewöhnlich still und Levana spürte, dass etwas sie bedrückte. Liebevoll kniff sie Rya in den Oberarm und fragte sie: »Geht es dir gut?«

Ryas Blick fiel auf die rechteckigen Lehmziegelhäuser, die am Nordwestrand der Stadt standen, in der Ferne nur schemenhaft zu erkennen. Dann betrachtete sie die nahe Neustadt, wo sie wohnten. Sie versetzte sich in Gedanken an einen Ort, den es noch nicht gab. Dann schüttelte sie leicht den Kopf und meinte: »Levana, ich möchte nie erwachsen werden!«

Vielleicht hatte Rya Recht, aber immer so jung zu bleiben mochte Levana nicht. Denn oft stellte sie sich vor, wie toll es wäre, ohne Erlaubnis aus dem Haus gehen zu dürfen.

Nachdem sie sich alle Vorteile des Erwachsenseins ausgemalt hatte, beschloss sie laut:

»Doch, ich möchte schon erwachsen werden. Dann kann ich Mamas Auto benutzen, das geht nämlich viel schneller als zu Fuß. Und wir könnten spät nach Hause kommen und müssten niemanden um Erlaubnis fragen.«

Rya warf einen Blick auf das Haus, in dem sie wohnte. Rauch stieg aus dem Kamin auf.

»Nee, wenn wir erwachsen sind, müssen wir so komischen Frauenkram machen. Hinter dem Herd stehen, das Haus putzen und die ganzen Einkäufe erledigen.«

Levana, die bereits zu einer Erwiderung ansetzen wollte stockte. Ihre Freundin hatte Recht, Hausarbeit war lästig, und demonstrativ verschränkte sie die Arme vor der Brust bei dieser Vorstellung.

»Oh, das stimmt, Rya. Nein, so möchte ich nicht leben. Ich werde schnell erwachsen und dann heirate ich. Ich lasse meinen Mann kochen und putzen und danach darf er mit mir Karten spielen oder verstecken.«

Rya, aus ihren Gedanken gerissen, sah Levana verwirrt an, dann bildete sich ein Grinsen auf ihren kindlichen Zügen. »Du bist witzig«, stellte sie kichernd vor, doch Levana runzelte daraufhin nur die Stirn.

Dann begann auch sie zu lachen.

Schmollend forderte sie: »Mein Mann muss mir jeden Abend vorlesen und mit mir Fahrrad fahren.«

Rya prustete vor Lachen und fragte: »Was ist, wenn er dir nicht vorlesen mag?«

»Hm«, überlegte Levana laut und wippte auf dem heißen Dach mit den Beinen hin und her. »Dann werde ich nicht mehr mit ihm spielen«, beschloss sie kurzerhand und grinste glücklich über diesen Beschluss.

Rya kicherte leise.

Gedankenverloren bot sie ihrer Freundin die Tüte voller Kirschen an, die sie in ihrer Hand hielt und beide aßen weiter. Sie beobachteten die kleinen Kerne verzückt bei deren Flugbahn, doch irgendwann wurde Levana die Stille langweilig und sie fragte:

»Darf ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«

Rya sah ihre Freundin ernst an: »Klar.«

Kauend runzelte Levana ihre Stirn, dann begann sie:

»Eigentlich möchte ich nie heiraten, ich möchte nicht wie meine Mama traurig sein. Sie weint immer heimlich. Außerdem hat sie seit dem Tod von Papa ein schwaches Herz und sollte jeglichen Stress vermeiden. Du kannst dich doch noch erinnern, wie sie in der Küche lag und beinahe gestorben wäre, hätte dein Vater sie nicht gerettet. Nein, Rya, ich möchte nicht heiraten.«

Rya blickte ihre beste Freundin traurig an und legte ihre Hand auf dessen Schulter, denn sie wusste ganz genau, was Levana meinte. Dann schwiegen sie für einige Minuten vor sich hin.

Levana beobachtete die spielenden Kinder auf der Straße vor ihnen und begann traurig zu erzählen: »Manchmal denke ich mir, es wäre toll, einen Bruder zu haben. Aber meine Mutter hat gesagt, dass sie keine weiteren Kinder zur Welt bringen könnte.«

»Aber Levana«, rief Rya daraufhin empört aus und sah ihre Freundin streng an. »Du hast einen Bruder – Deron! Und Sakine und ich sind praktisch deine Schwestern.«

Levana strahlte glücklich ihr kindliches Lachen. »Danke, Rya! Du weißt ja, dass meine Mutter und ich alleine im großen Haus leben. Vater hat uns ein kleines Vermögen hinterlassen – es fehlt uns an nichts, doch manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn wir eine richtige Familie wären. Mit vielen Geschwistern, die mich manchmal nerven und die ich herumkommandieren kann«, scherzte Levana mit Wehmut in der Stimme.

Rya spürte ihren Schmerz und legte tröstend einen Arm um Levanas Schulter.

»Wir kommen eigentlich ganz gut alleine zu Recht, Mama und ich. Aber weißt du, manchmal wäre es schön, wenn Papa noch da wäre. Ich vermisse ihn.«

»Levana, du weißt, du bist bei uns jederzeit willkommen. Unser Haus ist auch dein Haus und du weißt doch, dass du nicht fragen brauchst, wenn du etwas möchtest. Wir sind deine Familie. Es ist schön, wenn du mit uns isst, dann fühlt es sich komplett an.«

»Vor allem, wenn es den berühmten Eintopf deiner Mutter gibt«, schwärmte Levana und leckte sich unterbewusst über die Lippen.

»Meine Tante war vorgestern bei uns. Sie half meiner Mama bei Spendensammlungen und bei der Erstellung von Flugblättern für Kleidersammlungen. Da hat sie erwähnt, dass alles im Leben einen Sinn habe.«

Levana schaute erstaunt. »Ist das wahr? Alles hat einen Sinn im Leben? Nichts passiert zufällig?«

Rya nickte und bestätigte: »Nichts im Leben passiert zufällig!«

Im nächsten Morgengrauen wachte Rya auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie hatte von einem Pfau geträumt.

Am späten Nachmittag traf sie ihre beste Freundin Levana, der sie sofort von ihrem Traum erzählte. Levana hörte ihr gespannt zu und versuchte, sich den Pfau vorzustellen.

So verging der Sommer und Herbst legte sich über das Land. Sanft raschelten die mehrfarbigen Blätter der Bäume im Wind, tanzten mit der kühlen Sturmbrise. Wolken türmten sich zu Schlössern im Himmel auf und etwas Geheimnisvolles lag in der Luft.

An diesem Tag waren die Vögel verstummt. Sie saßen auf den kahler werdenden Ästen und blickten über die leergefegte Stadt. Die Menschen hatten sich, wie jeden Freitag, in den Moscheen versammelt. Einzig das Gebet des Imams hallte zwischen den Häusern, als Levana und Rya sich bei den Händen nahmen und sich ans Fenster stellten. Levana flüsterte: »Heute ist ein besonderer Tag.«

Sie hatte den Mund nahe am Ohr ihrer Freundin. Dann drehte sie ihren Kopf mit den ungekämmten, zotteligen Haaren zum Fenster, während Rya sich am einfachen Baumwollhemd zupfte.

Levana, die gerne kurze Hosen trug, lief am liebsten barfuß herum und hasste es, wenn ihre Mutter sie in Kleider zwängen wollte. Tauschten die Mädchen Geheimnisse aus, redete Levana viel, während Rya eher wortkarg war und es liebte, bunte Röckchen anzuziehen.

Sie lauschten dem Gebet und genossen den Ruf des Imams, denn dieser war für Rya und Levana der Inbegriff ihrer Religion. Die Stimme gab ihnen Kraft und Vertrauen, sie einte alle Menschen und verbreitete Frieden. Die Gebete aus der Moschee, die ein heiliger Ort war, schienen aufzusteigen und sich in eine riesige, unsichtbare Kugel zu verwandeln. Eine Kugel, die aus den Energien der Gedanken, der Träume und der Wünsche bestand und auf ihrem Weg zu Gott war.

Auch Mona betete zu Hause. Als sie fertig war kam sie in das Zimmer ihrer Tochter und setzte sich zu den beiden Freundinnen.

»Mama, warum betest du?«, fragte Levana und dachte interessiert an den geheimnisvollen Teppich, den ihre Mutter dabei verwendete.

Mona erklärte lächelnd: »Durch das Beten fühle ich mich frei. Das geht anderen Menschen auch so. Egal welchen Gott sie haben, oder welcher Religionsgruppe sie angehören. Die Gebete sind an sich immer gleich. Sie unterscheiden sich nur in der Form des Gebetsrituals.«

»Also betest du nur, weil du dich dann hinterher frei fühlst, Mama?«

»Nein, nicht nur! Vor allem bete ich, um Gott nahe zu sein und mich ihm mit Leib und Seele zu unterwerfen. Ich erweise ihm dadurch Respekt. Man sollte im Gebet Allah für alles danken. Es geht nicht darum, dass er jedes Mal unsere Bitten erhört. Im Kern unterscheiden sich die Gebete nicht. Die Religionen haben fast alle einen gemeinsamen Nenner. Nämlich seinen Nächsten zu lieben und dem Anderen keinen Schmerz zuzufügen.«

Rya und Levana hörten aufmerksam zu. »Doch es gibt Menschen, die böse sind und andere verletzen!«, stellte Rya fragend fest.

Monas Gesicht wurde traurig, dann seufzte sie und erklärte: »Manche Menschen sind eben intolerant. Es gibt Gebote, die nicht missachtet werden dürfen. Man sollte andere Religionen akzeptieren, respektieren und versuchen, sie zu verstehen.

Die Zeiten haben sich jedoch geändert, die heiligen Bücher werden missbraucht und als Vorwand benutzt, um Kriege zu führen. Ein guter Moslem, der den Koran wahrhaftig verstanden und verinnerlicht hat, weiß, dass keiner von uns einen anderen verletzen darf. Man darf nur in Notwehr handeln. Es fließt Blut allein schon, weil Menschen nicht dieselbe Glaubensrichtung haben. Kriege werden auf Kosten der Gläubigen geführt, der Moslems. Wisst ihr was? Die perfekte Welt gibt es nicht, weil Menschen nicht perfekt sind.«

Rya kramte in ihrer lilafarbenen Tasche herum. Dann blickte sie Mona ernst an und fragte: »Und warum hat Allah uns denn nicht perfekt geschaffen?«

»Eine gute Frage! Vielleicht möchte Allah, dass wir Fehler begehen und daraus lernen«, meinte Mona nachdenklich.

Rya sah die Erwachsene kritisch an und protestierte: »Ich versteh das nicht! Das macht doch keinen Sinn. Gott hat uns nicht perfekt erschaffen, damit wir Fehler machen? Und dann schickt er uns in die Hölle, um uns für unsere Fehler zu bestrafen? Hätte Gott nicht viel weniger Arbeit, wenn er uns perfekt machen würde?«

Mona wusste keine Antwort darauf und zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich weiß das leider nicht.«

Die Kinder sahen Mona weiterhin neugierig an. Diese schien einige Sekunden in ihren eigenen Gedanken versunken, ehe sich ihr Blick wieder klärte und sie den Beiden ein schwaches Lächeln schenkte.

»Nun ist es Zeit für mich, zu gehen, ich habe noch einiges zu tun, meine Lieben.«

Die beiden Mädchen schwiegen, als Mona das Zimmer verließ. Dann zogen sie sich die Schuhe an und gingen nach draußen, um wieder auf eines der Dächer zu klettern.

»Levana, sieh dort drüben, der Berg der Versuchung, heute sieht er besonders atemberaubend aus!«, strahlte Rya.

In der Felswand des Berges war eine Kapelle und auf dem Berggipfel stand ein Kloster.

»Ich habe gehört, dass der Blick auf die Wüste von dort oben beeindruckend sein soll«, schwärmte Levana zustimmend.

Vertieft in den Anblick des Berges merkten sie gar nicht, wie ein Junge auf einem Fahrrad unter ihnen auf der Straße hielt und überrascht zu ihnen hochblickte. »Was macht ihr denn da oben? Kommt sofort runter, wenn mein Papa euch sieht, bekommt ihr richtig Ärger«, schrie er ihnen mit voller Stimme zu. Überrascht zuckten die Mädchen zusammen und betrachteten dann den Neuen.

Der kleine Junge hatte eine zerlöcherte, blaue Stoffhose an und ein blauweiß-kariertes knappes Hemd, das ihm aus der Hose rausgerutscht war. Zwei dichte Brauen zogen sich über seine großen Augen und seine kleine Nase, die gut zu seinem Gesicht passte. Über dem rechten Wangenknochen stach ein kleines Muttermal hervor.

»Ihr müsst da runter!« Er versuchte, einen zornigen Blick aufzusetzen, versagte jedoch kläglich.

Die beiden Mädchen sahen sich gegenseitig an und lachten dann zu dem Jungen hinunter: »Da musst du aber raufkommen und uns runterholen, sonst werden wir nirgends hingehen«, rief Levana frech.

»Ich werde Mama holen, wenn ihr da nicht runterkommt, das ist nämlich unser Haus«, drohte er wieder.

»Warum sollten wir? Es macht Spaß und wenn du willst, kannst du dich gerne zu uns setzen«, bot Rya an.

»Das geht nicht, Papa hat mir verboten hier hochzuklettern. Er hat gesagt, falls er mich jemals dabei erwischen sollte, würde er mich dafür enterben. Ich weiß zwar nicht, was das bedeutet. Aber wenn Papa das sagt, heißt das bestimmt langer Hausarrest«, stotterte er, doch in seinen Augen funkelte die Vorfreude darauf, dem Ruf der Versuchung zu folgen.

Rya und Levana mussten sich gegenseitig festhalten, um nicht vor Lachen runterzufallen.

»Jemanden zu enterben, bedeutet lediglich, jemandem nichts zu vererben. Was wiederum bedeutet, dass dieses Haus vielleicht niemals dir gehören wird und du uns darum auch nicht verbieten kannst, hier oben zu sitzen«, schmunzelte Levana über ihre eigene Schlagfertigkeit.

Der Junge überlegte kurz, ob das, was er gerade gehört hatte, wohl stimmen würde, während er sich an der Stirn kratzte und wieder nach oben blickte.

»Na komm endlich«, winkte Rya ihn hoch.

Er grübelte eine Weile und versuchte schließlich, hochzuklettern. »Na gut, Papa ist eh in der Moschee, ich komme zu euch.«

Rya und Levana waren geschmeidig wie freche Katzen hochgestiegen und es amüsierte sie, weil der kleine Junge dabei seine Schwierigkeiten hatte und ihnen auf allen Vieren entgegen kroch. Schließlich stand er mit weichen Knien vor ihnen und stellte sich höflich vor. »Mein Name ist Jasin«.

Die beiden Mädchen lächelten ihn an. Rya deutete auf ihre Freundin: »Das ist Levana und ich bin Rya.«

»Los, setz dich zu uns, wir tun dir schon nichts«, ermunterte ihn Levana.

Jasin kam vorsichtig näher, hockte sich mit übereinander geschlagenen Beinen hin und fragte schüchtern: »Wo wohnt ihr?«

Rya deutete mit dem Finger über die Dächer: »Gleich zwei Straßen weiter, neben dem Gemüseladen. Siehst du da drüben in dem Haus, wo Rauch aus dem Kamin steigt? Das ist mein Haus. Und in dem Haus direkt rechts daneben wohnt Levana.«

Jasins Blick wanderte suchend in die Ferne und zaghaft nickte er, als er besagte Häuser erkannte. Levana beobachtete ihn neugierig dabei. »Wir haben dich hier noch nie gesehen. Seid ihr neu hier? Denn wir kennen eigentlich jeden hier. Oder hat man dich adoptiert?«, fragte sie frech.

»Nein, mein Vater ist wegen der Arbeit hier, er arbeitet für eine große Firma. Wir sind bis jetzt schon oft umgezogen, weil er immer wieder versetzt wurde. Vor zwei Wochen sind wir hergekommen. Wir werden wahrscheinlich nicht mehr von hier weggehen, das hat mir Papa versprochen«, antwortete Jasin fröhlich und ging nicht auf die Stichelei des Mädchens ein. »Doch seit den Angriffen von letzter Woche hat mein Papa Angst. Habt ihr davon gehört? Ein Dorf wurde aus der Luft bombardiert. Es ist gar nicht so weit weg von hier. Man konnte es bis hierher hören!«

Rya wurde traurig. »Ja, auch wir hatten alle große Angst. Wenn ich mal groß bin, werde ich den Krieg beenden!«

Jasin fragte: »Und wie lange wohnt ihr schon hier?«

»Schon immer. Rya und ich kennen uns von Geburt an. Unsere Mütter sind gute Freundinnen, so wie wir auch«, lächelte Levana stolz.

»Ich kenne niemanden hier«, meinte Jasin traurig.

Rya lächelte, dann tröstete sie ihn sanft: »Doch du kennst uns! Wenn du möchtest, kannst du ab heute unser Freund sein«

Jasin blickte verschämt lächelnd auf seine Füße und nickte. »Sehr gerne!«

»Aber nur, wenn du Geheimnisse für dich behalten kannst und wir auf dem Dach sitzen dürfen!«, grinste Levana frech.

Jasin nickte wieder. Dann spuckten Rya und Levana in die Hände und forderten ihn auf: »Jetzt musst du auch in die Hand spucken.«

Jasin sah die beiden verdutzt an. Er verstand nicht, warum er in seine Hand spucken sollte. Aber er traute sich nicht, irgendwelche Fragen zu stellen und spuckte auch in seine Hand. Dann schlugen Rya und Levana ein.

»Jetzt ist es offiziell. Ab heute bist du unser Freund«, lachten Rya und Levana.

Jasin lachte breit und auf seinem Gesicht zeigte sich plötzlich ein kleines Grübchen.

Rya bot ihm auch von den Kirschen an und spuckte in weitem Bogen einen Kern über das Hausdach. Jasin beobachtete sie belustigt dabei, dann machte er es ihr nach. Ab jenem Tag saßen sie zu dritt auf den Dächern der Stadt und wurden schon bald unzertrennlich.

Ein Traum aus Sand und Regen

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