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IV

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„Ja, dann kommen Sie mal herein.“ Sabine Harder hatte sich in der Tür kurz vorgestellt. Sie hatte eine weichere Stimme erwartet. Wolfgang Trödler sah sie emotionslos an.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach aufsuche, Herr Trödler.“ Sie schloss die Tür hinter sich und näherte sich dem Krankenbett, auf dem eine rot-weiß gestreifte Überdecke lag. Auch die Vorhänge waren in kräftigen Farben. Man spürte das Bemühen, die Atmosphäre eines Krankenhauses zu vermeiden. Der Patient saß mit angewinkelten Knien auf dem Bett, dessen Rückenteil hochgestellt war. Vor sich hatte er ein Exemplar von Psychologie heute aufgeschlagen, das er jetzt auf den Nachtschrank legte. Stumm zeigte er auf einen Stuhl und blickte zum unterhalb der Decke montierten Fernsehgerät. Tonlos flimmerten Bilder von einem Wettbewerb im Springreiten.

„Sie scheinen ja nicht einer Kirche anzugehören und haben auch nicht angekreuzt, dass Sie meinen Besuch wünschen“, versuchte sie einen Gesprächseinstieg und nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Ihr Gegenüber blickte sie weiterhin völlig ohne Ausdruck an. Keinerlei Anstalten, auf die Bemerkung einzugehen. Nur die Lippen zuckten leicht nervös.

„Gut, Herr Trödler, ich möchte Sie gerne etwas fragen. Geht das?“ Keine Reaktion. Trödler starrte knapp an ihren Augen vorbei, vielleicht auf die Stirn, vielleicht darüber hinweg auf den Fernseher. Ein Pferd verweigerte gerade vor dem Doppel-Oxer.

„Herr Trödler, Sie spielen sehr schön Akkordeon“, nahm sie erneut Anlauf, „könnten Sie sich vorstellen, nächsten Sonntag im Gottesdienst hier in der Klinik ein oder zwei Lieder zu begleiten?“

Sabine Harder fixierte ihn mit ihren Blicken. Dieser Frage sollte er nicht ausweichen. Tatsächlich zeigte Trödler nach einigem Zögern eine Reaktion, allerdings eine, die sie überraschte. Das Zucken der Lippen wanderte in die Wangen hoch, dann lachte er laut in Staccato-Tönen, eine Tonleiter abwärts, immer wieder neu ansetzend. Sein Bauch hüpfte und lief Gefahr davonzuspringen, wenn er nicht die Hände über ihm wie einen Gürtel zusammengefaltet hielt. Nachdem das Lachen abgeebbt war, wechselte er blitzschnell in eine ernste Tonlage und sah sie streng an. Er schüttelte mehrfach den rechten Zeigefinger drohend hin und her und begann dann zu reden:

„Weiß Sie nicht, dass mein eigentliches Instrument die Laute ist? Doch was ist aus der Königin der Instrumente geworden? Wo bekommt man heute noch eine Laute her? Aber gut, das ist der Lauf der Dinge. Neue Zeiten, neue Instrumente. Akkordeon ist wunderbar. Aber im Gottesdienst, vor voller Kirche, tut mir leid, Schwester in Christus, ein absolut unerfüllbarer Wunsch. Sie möge verzeihen. Und eine Bitte: Ich bin kein Trödler. Nenn Sie mich bitte beim Namen. Bruder Martin oder Herre Doktor Luther, ich darf wohl bitten.“

Ihr Kopf schwirrte. Laute, das war doch in der Tat Luthers Lieblingsinstrument. Wie hatte er sie genannt? Schwester in Christus. Ein Pfarrerskollege nannte sie auch Schwester, heuchlerisch, wie sie fand. Er hatte sich auch um die Krankenhausstelle beworben. Sie aber hatte den Zuschlag bekommen. Dagegen hatte er eine Konkurrentenklage eingereicht, ohne Erfolg. Aber ihr hatte die Klage geschadet, stand doch viel in der Lokalpresse darüber. Die Kritiker der Kirche freuten sich diebisch und erzählten bei allen Gelegenheiten: Da seht ihr mal, wie es in der Kirche zugeht, in diesem verlogenen Laden, da kloppen sich sogar die Pfarrer um die Stellen und so weiter. Ausgerechnet dieser Kollege, der jetzt an der Friedenskirche in der Stadt Dienst tat, nannte sie Schwester Harder, scheinheilig, falsch …

„Die Laute war immer meine große Trösterin“, hörte sie jetzt den Patienten Trödler reden, „ich bin oft von dem geplagt, was hier in diesen Blättern ‚Depression‘ genannt wird. Es ist Satan, der sich schon früh in meiner Seele eingenistet hat. In meiner Kindheit war ich von diesen Bildern heimgesucht. Vom Satan, der als Tod seine Finger nach mir ausstreckt. In der Zeit meines Studierens im altehrwürdigen Erfurt wünschte ich mir manches Mal das Ende meines Lebens herbei. Was wäre aus mir geworden ohne Frau Musica, ohne meine Laute, die mich wegriss von Bildern entfleischter Gebeine, von frohlockend tanzenden Knochengerüsten, vom feurig einherfahrenden Satan, der seine Hand nach mir ausstreckte …“

Er hatte sich in Rage geredet. Die Klinikseelsorgerin blickte ihn unsicher an. Alle ihre Vorsätze, Trödler von seinen Wahnvorstellungen abzubringen, waren zum Scheitern verurteilt. Viel zu überzeugend wirkte er in seiner neuen Identität.

„Dass die Vögel der Sorge und des Kummers über deinem Haupt fliegen, kannst du nicht ändern“, rief sie halblaut in Trödlers Redefluss, „aber dass sie Nester in deinem Haar bauen, das kannst du verhindern.“

Wie würde er auf ein Luther-Zitat reagieren? Zwar wollte sie Trödler nach wie vor nicht in seiner Luther-Identität anerkennen, aber sie war ratlos. Langsam beschlich sie auch eine Faszination. Woher nur wusste dieser Campingplatzwart so viel über den Reformator?

Trödler hielt sich die Hand vor die Augen, als ob er sich konzentriere. Eine Schweißperle hatte sich auf seiner Stirn gebildet.

„Ja, gewiss, solche Bilder habe ich vor langer Zeit gezeichnet, weil ich meine finsteren Täler im Sinne des 23. Psalms nicht anderen zumuten wollte. Meines Amtes ist es doch, die Menschen aufzurichten. Und es stimmt ja. Die Depressionen ebben irgendwann auch wieder mal gewisslich ab, vor allem wenn man im ständigen Gebet bleibt und im Vertrauen auf die erlösende Kraft unseres Herrn Jesus Christus der Dinge harrt, die da kommen.“

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück“, flüsterte die Seelsorgerin vor sich hin. Was der Patient erzählte, leuchtete ihr ein. War er wirklich ein normaler Patient? Sie entschied sich, aufs Ganze zu gehen.

„Halten Sie denn nach wie vor daran fest, das Entscheidende an Luthers Lehre sei die Rechtfertigungslehre?“

Sie sah den Mann auf dem Bett gespannt an.

„Luthers Lehre? Sie glaubt mir also nicht, dass ich dieser Luther bin!“ Für einen Augenblick zog Trödler den Mund schmollend zusammen. Doch dann fuhr er fort: „Ich weiß nicht, was Sie mit diesem schwierigen Wort meint: Rechtfertigungslehre. Wenn es bedeutet, das Entscheidende am Glauben sei es, Gott recht zu sein, vor ihm Gnade zu finden, dann stimme ich ihr zu. Doch ist es ihre Aufgabe als Schwester in Christus und Dienerin des Herrn, diese Botschaft in die Sprache unserer jetzigen Zeit zu übersetzen. Ich lese hier fliegende Blätter, die man jetzt zusammenheftet. ‚Das ist doch eine Zeitschrift, junger Mann‘, hat mir die dicke Frau in dem Käfig belehrend gesagt. Sie war wiederum ganz beleidigt, als ich vom Käfig sprach. ‚Das ist ein Kiosk, junger Mann‘, hat sie gemeint. Aber egal. Ich höre Nachrichten in diesem Ding hier, was die Schwester Radio nennt. Oder ich sehe Rätselsendungen im Gerät da oben, welches ihr Fernsehen nennt, alles wunderbare Erfindungen, um vielen Menschen an vielen Orten vom auferstandenen Herrn zu künden. Was ich geschrieben habe, ist in der Sprache der Menschen, die vor 500 Jahren gelebt haben. Heute verstehen das sicher viele nicht mehr. Das müssen die Jüngeren ändern, Leute wie Sie, Schwester in Christus! Wie alt ist Sie?“

Sabine Harder schluckte. Ihr Hals war trocken und sie hätte gerne etwas getrunken, wollte aber das Gespräch nicht unterbrechen.

„Achtundreißig“, antwortete sie und ging auf Trödlers Rede ein. „Ist es nur die Sprache? Oder sind es auch die Inhalte? Heute will doch kaum noch jemand einen gnädigen Gott, weil viele gar nicht mehr glauben, dass es einen Gott gibt!“

Trödler-Luther wog den Kopf in seiner Hand hin und her. Er sah auf den Fernseher, wo ein Pferd leichtfüßig über den Wassergraben sprang.

„Ja, Sie spricht ein wichtiges Thema an. Kann der Mensch ohne Gott leben? Sucht er sich nicht seine Götter, wenn er den einen Gott nicht glauben will? Ich bin sicher, jeder Mensch braucht Gott. Ersetzen wir mal das Wort Gott mit Geborgensein bei einer höheren Macht. Bei jemandem, der uns nicht so enttäuscht, wie es Menschen oft tun. Hier, in dieser Zeitschrift, ist überall die Rede von enttäuschten Menschen, enttäuscht vom Partner, von der Partnerin, von den Kindern, den Eltern, Freunden, Nachbarn. Da, lesen Sie Psychologie heute. Das Thema heißt: Enttäuschung als Chance. Ent-täuscht. Man hat uns eine Täuschung genommen. Das ist die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Ohne diese Täuschungen. Aber vorerst sind die Enttäuschten in ein Tief gestürzt. Wer holt sie da heraus? Auf wen ist in letzter Instanz Verlass?“

In diesem Augenblick ertönte eine leise Melodie aus dem Lautsprecher über der Tür.

„Oh, das Abendessen steht bereit. Ich muss gehen, sei Sie auf der Hut vor den Werken des Satans und halte Sie fest an dem, der Ihr das Leben geschenkt hat.“

Trödler-Luther sprang erstaunlich behände auf und schlurfte aus dem Zimmer. Sabine Harder war viel ratloser als vor dem Gespräch. Vor dem Stationszimmer freute sie sich, Schwester Petra anzutreffen. Sie bat sie um die Telefonnummer von Trödlers Lebensgefährtin. Irgendwo in seinem Leben gab es einen Luther-Bezug, der jetzt auf unerklärliche Weise hervorbrach. Diese Rosemarie Aicher musste ihr weiterhelfen. Vor allem wollte sie erfahren, ob Wolfgang Trödler vor dem Unfall öfter von Satan gesprochen hatte. Der Satan war in seiner neuen Identität sehr präsent, und vielleicht war er es auch in der alten gewesen. Sie brauchte einen Punkt in seinem früheren Leben, an dem sie ansetzen konnte. Sie war dabei, in ein fremdes Leben einzudringen. Ein Unterfangen, das ihr eigenes Leben völlig verändern sollte. Noch ahnte sie nichts davon.

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