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„Na, Rosemarie, was guggsche dann so traurisch?“

Renate Omlor sah der Campingplatzbetreiberin ihre Sorgen an. Es war Freitagabend, ein heißer Sommertag ging zu Ende. Die Terrasse der Seeklause war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nasik, die aus Armenien stammende Aushilfe mit den rehbraunen Augen, trug in luftigem Kleid Dutzende Krüge mit frisch gezapftem Bier zum durstigen und lebhaft sich unterhaltenden Campingvolk. Untermalt wurde der Geräuschpegel von CD-Musik. Die Flippers, Ute Freudenberg, Udo Jürgens.

„War schön, wenn manchmal Monsieur Wolle ier gespielt at!“, versuchten die Beauchamps aus Metz, Rosemarie ins Gespräch zu ziehen.

„Dass kannsche laud saan“, pflichtete Richard Omlor bei, der wie alle Saarländer ungeniert in vollem Dialekt sprach. „Wenn der Wolle sei Schiffaklawier ausgepaggd hadd, do is die Poschd abgang, aba gewaldisch!“

Rosemarie stocherte mit dem Löffel abwesend in ihrem Sex on the Beach. Eine Ärztin und eine Schwester Petra von der Reha-Klinik hatten sie angerufen. Sie war schockiert. Darüber zu reden, fiel ihr schwer. Sie schämte sich ein wenig. Was sollten die anderen von Wolle denken, wenn sie das hörten? Andererseits lief die Zeit in der Reha-Klinik ab, in einer Woche kam er zur Blauen Bucht zurück. Die Brüche, Prellungen, alles war geheilt. Nur die posttraumatische Belastungsstörung war geblieben und die Ärzteschaft stand vor einem Rätsel. So wenig er sich an sein Leben vor dem Unfall erinnern konnte, so präzise sprach er über Luthers Lieder. Dass er von sich behauptete, Martin Luther selbst zu sein, das musste doch allen auf dem Campingplatz den Eindruck vermitteln, er habe, ganz einfach gesagt, einen Dachschaden. Sie hatte keine Vorstellung, wie Wolle auf dem Campingplatz wieder arbeiten sollte, wenn er sich als Martin Luther empfand. Würde er dann wie der Reformator die Leute am Eingang mit Worten wie „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ begrüßen? Den Satz hatte sie im Internet gelesen, als sie einmal kurz das Stichwort Luther in eine Suchmaschine eingegeben hatte. Pflanzte er, nach einem angeblichen Luther-Zitat, das sie dort auch gesehen hatte, angesichts depressiver Stimmungen, von denen sein Arzt gesprochen hatte, jeden Tag einen Apfelbaum auf dem Gelände? Es war zum Heulen. Andererseits: War es nicht besser, die Stammgäste und Dauercamper ein wenig vorzubereiten, wenn Wolle bald als Reformator des 16. Jahrhunderts an der Blauen Bucht aufschlagen würde? Hinzu kam die veränderte Physiognomie, die kantigere Nase, die wulstigen Lippen, die tiefer liegenden Augen. Natürlich konnte sie das mit dem Unfall begründen, die Auszehrung, das Krankenhausessen. Aber war das wirklich glaubhaft? Schwester Petra hatte sie zur Hälfte der Reha-Zeit um ausschließlich weiße und schwarze Hemden und ebensolche Hosen in XXXL-Format gebeten. Wolfgang Trödler weigerte sich, in Holzfällerhemden oder Jeans herumzulaufen. Das sei seiner Würde als Geistlicher nicht angemessen. Außerdem stopfte er sich die Hemden nicht mehr in den Hosenbund, sondern trug sie offen, wie ein priesterliches Gewand. Nur so, so habe er gesagt, brachten ihm die Mitpatienten mehr Respekt entgegen. Auch fragte er bei der Klinikleitung an, ob man eine Näherei beauftragen könne, ihm sein Zeichen, die Lutherrose, auf alle Hemden und die Gesäßtaschen der Hosen zu nähen. Ein Lazarus Spengler habe ihm 1530 eine Zeichnung dieser Lutherrose auf die Veste Coburg geschickt, während der Verhandlungen auf dem Augsburger Reichstag. Er, Wolle alias Luther, habe die Rose später zu seinem Siegel gemacht.

Rosemarie starrte nach all diesen Mitteilungen ihr Mobiltelefon an. War sie in irgendeine Versteckte-Kamera-Sendung geraten? Vielleicht gibt sich die Schwester am anderen Telefon als Mitarbeiterin eines Fernsehsenders zu erkennen und der ganze Spuk ist vorbei, hoffte sie. Doch nichts davon geschah. In ihrer Not bat sie den Zivi bei einem seiner Stadtgänge, ihr eine leicht verständliche Luther-Biographie aus der Buchhandlung mitzubringen. Sie las gebannt die ersten Seiten über das Leben des Reformators und wusste schon bald mehr über dessen Kindheit als über die ihres Lebensgefährten. Etwas Hoffnung keimte in ihr auf, auf diesem Wege vielleicht auch ein wenig über Wolles Vorleben zu erfahren. Ich muss die schwierige Situation annehmen, sagte sie sich, und das Beste daraus machen.

„Ei, ich glaab“, ergänzte Heinz Ruffing, „dass med dem Wolle is nur voriewergehend. Wenn der widder e Zeidlang unner uns is, dann werd der sich aach widder erinnere.“

Schön wäre es, sagte sich Rosemarie. Dass Wolle keine Erinnerung mehr hatte, das hatte sie den befreundeten Campern erzählt. Aber der Anruf heute, der war eine noch viel größere Zumutung für alle. Sie zog noch einmal einen kräftigen Schluck aus dem Cocktailglas.

„Wolle leidet an einer multiplen Persönlichkeitsstörung“, sagte sie halblaut. Die etwas weiter am Tisch wegsitzenden wie Renate Omlor und Hilde Ruffing beugten sich ganz weit zu ihr hin. „Er weiß zwar nichts mehr von seiner eigenen Geschichte, glaubt aber, ein anderer zu sein.“

„E annerer?“, hakte die rotbackige Hilde Ruffing vorsichtig nach und holte sich einen Zigarillo aus dem Etui, „saa nur!“

„Loss mich roode“, ging Richard Omlor dazwischen, „ich saan emol, er glaabt, er is de Papschd!“

Rosemarie Aicher sah verblüfft auf den Saarländer, der immer so einfältig daherkam.

„Gar nicht so weit weg!“, entgegnete sie. Sie musste sogar ein bisschen schmunzeln.

Das Schmunzeln blieb nicht unbemerkt und ermutigte die anderen zu einem munteren Rätselraten.

„Ei, vielleischd iss er jo enner von denne Prieschder, die sich do an denne Kinner vergang hann“, spekulierte Hilde Ruffing vor sich hin, „er had bestimmd das Gefiehl, Schuld ze sinn an dem Unfall. Unn weil er in de Zeidung vor dem Unfall von denne Prieschder gelees had, iss dass in seim Kopp hänge geblieb unn deswee glaabt er a, eener von denne zu sinn.“

„Isch saan emool, er glaabt, er is de Jürgen Fliege“, sprang Heinz Ruffing auf den Zug auf.

So ging es noch eine Weile weiter. Es fielen Namen wie Eugen Drewermann, Margot Käßmann und Bischof Mixa.

„Er meint, er ist Martin Luther!“

Der Satz Rosemarie Aichers saß. Stille trat ein und Albert Beauchamp hielt sich instinktiv am Tisch fest.

„Noch eine Runde?“

Nasik, die Bedienung, sah etwas verwundert auf die stumme Versammlung.

„Jetzt brauchen wir alle einen Cognac, oder?“, rief Hans-Peter Schmitz und nickte Nasik zu.

Es ist raus, sagte sich Rosemarie erleichtert. Die Campingfreunde fanden allmählich wieder Worte und debattierten, wie man ihn wohl empfangen solle. Man könne ihn wie Martin Luther begrüßen und ihn als Reformator anerkennen, meinten die einen. Andere schlugen vor, ihn in seiner neuen Identität auf den Arm zu nehmen, bis er selbst über sich lachen müsse. Dann platze der Knoten und er sei wieder der alte Wolle. Von Seiten des Ehepaars Schmitz aus dem Rheinland kam der Vorschlag, Ablassbriefe auszustellen.

„Wir bieten einen Sündenerlass gegen Zahlung an, wie vor 500 Jahren“, begeisterten sich die Rheinländer, „die Briefe bieten wir dann dem Wolle an. Das reizt den als Martin Luther dann so dermaßen, dass er austickt. Der bricht zusammen, emotional und so. Und dann findet er aus seiner Rolle heraus!“

Rosemarie zweifelte an solchen hobbypsychologischen Überlegungen. Auf der anderen Seite freute sie sich, mit ihrem Problem nicht allein zu sein. Auf die Camper-Freunde war wenigstens Verlass. Die Ärzte und Psychologen der Reha-Klinik hatten mehr oder weniger resigniert. Sogar die Hoffnung, die Erinnerung an das Akkordeon sei ein erster Schritt auf dem Weg ins alte Leben, hatten sie ihr zerstört: Die Musiktherapeutin hatte, wie man ihr mitteilte, Wolle auf das Akkordeon hingewiesen. So wie er weiterhin wusste, wie man eine Gabel und ein Messer benutzte, so fand er sich auf dem Akkordeon zurecht. Nur dass er statt dem Schneewalzer und den lustigen Holzhackerbuam jetzt Neubearbeitungen des Dies irae, dies illa spielte.

Nasik brachte die Runde Cognac. Das gemeinsame Gespräch löste sich auf. Renate Omlor setzte sich direkt neben Rosemarie und flüsterte geheimnisvoll. Sie lenkte das Gespräch gezielt auf ein anderes Thema, nachdem sie bemerkt hatte, wie Wolles Verwandlung am Nervenkostüm der Campingplatzbetreiberin zehrte.

„Kennsch du e Liesel aus Leuna? So e Gelifdedie und Blondierdie?“

Sie habe diese Frau im Verdacht, ihren Mann, den Richard, zu bezirzen, führte Renate aus und rollte die Augen, sie glaube, diese Liesel sei mannstoll. Und ihr Richard, der sei ihr in gewisser Weise hörig. Schämen solle sich diese Frau, verheiratete Männer anzumachen. Die Männer interessierten sie eigentlich gar nicht. Der Reiz für diese Liesel sei es, andere Frauen zu demütigen. Sie wolle nur zerstören. Das verschaffe ihr ein Triumphgefühl.

„Abba lang loss ich mir das nimie gefalle“, wechselte sie in einen drohenden Ton, „ich hann e Plan, wie ich die ferdisch mach!“

„Ach Renate“, entgegnete Rosemarie und atmete tief durch, „ich wäre froh, ich hätte nur solche Sorgen.“

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