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Viertes Kapitel

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Krafft hatte früher irgendein Amt bekleidet und war gleichzeitig dem verstorbenen Andronikow (gegen eine Entschädigung) bei der Führung gewisser Privatgeschäfte behilflich gewesen, mit denen sich dieser beständig neben seiner Amtstätigkeit abgab. Für mich war schon der Umstand von Wichtigkeit, daß Krafft infolge seines besonders nahen Verhältnisses zu Andronikow manches von dem wissen konnte, was mich interessierte. Aber ich wußte von Marja Iwanowna – der Frau jenes Nikolai Semjonowitsch, bei dem ich als Gymnasiast so viele Jahre lang gewohnt hatte –, welche eine Nichte, Pflegetochter und Favoritin Andronikows gewesen war, daß Krafft sogar den »Auftrag« erhalten hatte, mir etwas zu übergeben. Ich hatte auf ihn schon einen ganzen Monat gewartet.

Er hatte eine kleine, nur aus zwei Zimmern bestehende Wohnung, in der er vollständig allein wohnte, und in diesem Augenblick, wo er eben erst zurückgekehrt war, war er sogar ohne Bedienung. Seinen Koffer hatte er zwar schon geöffnet, den Inhalt aber noch nicht weggeräumt; die Sachen lagen auf den Stühlen umher, und auf dem Sofatisch lagen eine Reisetasche, ein Reisenecessaire, ein Revolver und mehr dergleichen.

Als wir eintraten, war Krafft tief in Gedanken versunken, als hätte er mich vollständig vergessen; vielleicht hatte er auch gar nicht bemerkt, daß ich unterwegs nicht mit ihm gesprochen hatte. Er begann sogleich etwas zu suchen, aber als er im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel warf, blieb er stehen und betrachtete eine ganze Minute lang unverwandt sein Gesicht. Ich bemerkte dieses sonderbare Benehmen zwar (später erinnerte ich mich an alles nur zu gut), aber ich war in trüber Stimmung und in großer Verwirrung. Ich war nicht imstande, meine Gedanken zu sammeln. Einen Augenblick lang wurde in mir plötzlich der Wunsch rege, ohne weiteres davonzugehen und diese ganze Sache nie wieder anzurühren. Und was war diese ganze Sache denn, wenn ich's recht besah? War sie nicht eine Sorge, die ich ohne Not auf mich genommen hatte? Es brachte mich in Verzweiflung, daß ich aus purer Sentimentalität eine Menge von Energie vielleicht für wertlose Kleinigkeiten verschwendete, während ich doch selbst eine Aufgabe vor mir hatte, zu der die höchste Energie erforderlich war. Und dabei hatte sich meine Unfähigkeit zu ernsten Geschäften durch die Vorgänge bei Dergatschew deutlich herausgestellt.

»Werden Sie denn noch einmal zu diesen Leuten hingehen, Krafft?« fragte ich ihn auf einmal. Er drehte sich langsam zu mir um, als hätte er mich nicht ordentlich verstanden. Ich setzte mich auf einen Stuhl.

»Verzeihen Sie ihnen!« sagte Krafft plötzlich.

Es schien mir natürlich zunächst, daß das Spott sei; aber als ich ihn aufmerksam anblickte, gewahrte ich in seinem Gesicht einen so merkwürdigen, geradezu staunenerregenden Ausdruck von Gutherzigkeit, daß ich selbst ganz erstaunt darüber war, wie er mich so ernsthaft hatte darum bitten können, ihnen zu »verzeihen«. Er rückte einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.

»Ich weiß selbst, daß ich vielleicht ein Mischmasch aller möglichen Selbstgefälligkeiten bin und weiter nichts«, begann ich, »aber um Verzeihung bitte ich nicht.«

»Es ist auch gar keiner da, den Sie um Verzeihung zu bitten hätten«, erwiderte er leise und ernsthaft. Er sprach die ganze Zeit leise und sehr langsam.

»Mag ich mich auch in meinen eigenen Augen schuldig gemacht haben ... Dieses Schuldbewußtsein ist mir angenehm ... Verzeihen Sie, Krafft, daß ich Ihnen gegenüber solches Zeug schwatze! Sagen Sie, gehören Sie wirklich ebenfalls diesem Kreis an? Danach hatte ich Sie fragen wollen.«

»Diese Leute sind nicht dümmer und nicht klüger als andere; sie sind eben geistesgestört wie alle.«

»Sind denn alle geistesgestört?« fragte ich mit unwillkürlichem Interesse.

»Die Besseren sind jetzt alle geistesgestört. Kräftigen Lebensgenuß leistet sich nur die Mittelmäßigkeit und die Unbegabtheit ... Übrigens, es lohnt nicht, von alledem zu reden.«

Während er sprach, blickte er in die Luft, begann Sätze und brach sie wieder ab. Besonders fiel mir der mutlose Ton seiner Stimme auf.

»Gehört denn auch Wassin zu ihnen? Wassin besitzt Verstand, Wassin hat eine sittliche Idee!« rief ich.

»Sittliche Ideen gibt es jetzt überhaupt nicht; es hat sich jetzt auf einmal herausgestellt, daß keine da ist, und, was die Hauptsache ist, es sieht so aus, als ob auch nie eine dagewesen sei.«

»Auch früher nie?«

»Lassen wir dieses Thema lieber!« sagte er; er war sichtlich ermüdet.

Seine ernste Traurigkeit rührte mich. Ich schämte mich meines Egoismus und begann auf seinen Ton einzugehen.

»Die jetzige Zeit«, begann er selbst wieder nach zwei Minuten Schweigen, immer noch irgendwohin in die Luft blickend, »die jetzige Zeit ist die Zeit der goldenen Mittelmäßigkeit und Unempfindlichkeit, der Abneigung gegen die Bildung, der Trägheit, der Unfähigkeit zur Arbeit; man möchte alles ohne eigene Bemühung fix und fertig vorfinden. Niemand denkt ordentlich nach; selten bildet sich jemand eine Idee ...«

Er brach wieder ab und schwieg ein Weilchen; ich wartete gespannt.

»Man fällt jetzt in Rußland die Wälder, erschöpft den Boden, verwandelt ihn in eine Steppe und bereitet ihn für die Kalmücken vor. Wenn sich jemand findet, der auf die Zukunft hofft und einen Baum pflanzt, so verlachen ihn alle: »Wirst du noch so lange leben, bis er Früchte trägt?« Andererseits reden diejenigen, die das Gute wünschen, von dem, was nach tausend Jahren sein wird. Kräftigende Ideen sind ganz verschwunden. Alle befinden sich gleichsam in einer Herberge und schicken sich an, Rußland morgen zu verlassen; alle leben in dem Gedanken: ›Wenn es nur für uns noch reicht!‹ ...«

»Erlauben Sie, Krafft, Sie sagten: ›Manche machen sich Sorgen um das, was nach tausend Jahren sein wird.‹ Nun aber, Ihre Verzweiflung ... über das Schicksal Rußlands ..., ist das denn nicht eine Sorge ähnlicher Art?«

»Das ... das ist die brennendste Frage, die es überhaupt gibt!« erwiderte er gereizt und stand schnell von seinem Platz auf.

»Ach ja! Das habe ich ganz vergessen!« sagte er auf einmal in ganz anderem Ton und sah mich überrascht an. »Ich habe Sie ja in einer besonderen Angelegenheit zu mir gebeten, und dabei ... Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«

Es war, als käme er plötzlich von einem Traum wieder zu sich, so verwirrt war er. Er nahm aus einer Brieftasche, die auf dem Tisch lag, einen Brief heraus und gab ihn mir.

»Hier! Das sollte ich Ihnen übergeben. Es ist das ein Schriftstück, das eine gewisse Wichtigkeit hat«, begann er, nunmehr mit gesammelter Aufmerksamkeit und durchaus geschäftsmäßiger Miene. Noch lange nachher hat mich bei der Erinnerung daran diese seine Fähigkeit (noch dazu in Stunden, die für ihn selbst von solcher Bedeutung waren!) beeindruckt, an einer fremden Angelegenheit so herzlichen Anteil zu nehmen und sie mit solcher Ruhe und Bestimmtheit auseinanderzusetzen.

»Es ist dies ein Brief eben jenes Herrn Stolbejew, nach dessen Tode wegen seines Testaments der Prozeß zwischen Wersilow und den Fürsten Sokolskij entstand. Dieser Prozeß steht jetzt vor der gerichtlichen Entscheidung und wird wahrscheinlich zu Wersilows Gunsten entschieden werden; das Gesetz ist auf seiner Seite. In diesem Brief jedoch, einem Privatbrief, der vor zwei Jahren geschrieben ist, setzt der Erblasser selbst seine wahre Willensmeinung oder, richtiger gesagt, seine Wünsche mehr zugunsten der Fürsten als zu Wersilows Gunsten auseinander. Wenigstens erhalten diejenigen Punkte, durch welche die Fürsten Sokolskij ihre Anfechtung des Testaments begründen, in diesem Brief eine starke Unterstützung. Wersilows Gegner würden viel für dieses Schriftstück geben, das übrigens keine ausschlaggebende juristische Bedeutung hat. Alexej Nikanofowitsch« (Andronikow), »der sich mit Wersilows Prozeß beschäftigte, bewahrte diesen Brief bei sich auf und händigte ihn mir nicht lange vor seinem Tode ein mit dem Auftrag, ihn ›in Verwahrung zu nehmen‹ – vielleicht ahnte er seinen baldigen Tod und fürchtete für die Sicherheit seiner Papiere. Ich möchte mir jetzt über Alexej Nikanorowitschs Absichten in dieser Sache kein Urteil erlauben, und ich muß gestehen, ich befand mich nach seinem Tod in einer etwas peinlichen Ungewißheit, was ich mit diesem Schriftstück machen solle, besonders im Hinblick auf die nahe bevorstehende Entscheidung dieses Prozesses vor Gericht. Aber Marja Iwanowna, der Alexej Nikanorowitsch, wie es scheint, zu seinen Lebzeiten sehr viel Vertrauen geschenkt hat, half mir aus meiner schwierigen Lage heraus: sie schrieb mir vor drei Wochen mit aller Entschiedenheit, ich solle das Schriftstück gerade Ihnen übergeben; es scheine (dies war ihr Ausdruck), daß dies auch mit Andronikows Absichten zusammenfallen werde. Also hier ist das Schriftstück, und ich freue mich sehr, daß ich es Ihnen endlich einhändigen kann.«

»Hören Sie mal«, sagte ich, durch eine so unerwartete Neuigkeit nicht wenig bestürzt, »was soll ich jetzt mit diesem Brief anfangen? Wie soll ich mich verhalten?«

»Das steht ganz in Ihrem Belieben.«

»Unmöglich, ich bin dabei in hohem Grade unfrei, das müssen Sie doch selbst sagen! Wersilow hat so auf diese Erbschaft gewartet ... und wissen Sie, er geht ohne diese Beihilfe zugrunde ... und nun existiert plötzlich ein solches Schriftstück!«

»Es existiert nur hier, in diesem Zimmer.«

»Wirklich?« fragte ich, indem ich ihn aufmerksam anblickte.

»Wenn Sie in diesem Falle nicht selbst wissen, wie Sie sich verhalten sollen, was kann ich Ihnen dann für einen Rat geben?«

»Aber dem Fürsten Sokolskij den Brief übergeben, das kann ich doch auch nicht: damit würde ich alle Hoffnungen Wersilows vernichten und außerdem an ihm zum Verräter werden ... Andrerseits, wenn ich den Brief Wersilow einhändige, bringe ich unschuldige Menschen an den Bettelstab und versetze dennoch Wersilow in eine verzweifelte Lage: er muß entweder auf die Erbschaft verzichten oder zum Dieb werden.«

»Sie übertreiben die Bedeutung, die die Sache hat.«

»Sagen Sie mir nur eines: hat dieses Schriftstück einen ausschlaggebenden, entscheidenden Charakter?«

»Nein, den hat es nicht. Ich bin kein großer Jurist. Der Advokat der Gegenpartei würde natürlich wissen, wie er sich dieses Schriftstücks zu bedienen hätte, und würde daraus soviel Vorteil ziehen wie nur möglich, aber Alexej Nikanorowitsch war entschieden der Ansicht, daß dieser Brief, wenn er präsentiert würde, keine große juristische Bedeutung haben würde, so daß Wersilow seinen Prozeß trotzdem gewinnen könne. Dieses Schriftstück stellt eher sozusagen eine Gewissenssache dar ...«

»Aber das ist ja gerade das allerwichtigste«, unterbrach ich ihn, »ebendeswegen wird sich Wersilow in einer verzweifelten Lage befinden.«

»Er kann aber doch das Schriftstück vernichten; damit befreit er sich von jeder Gefahr.«

»Haben Sie besonderen Grund, eine solche Handlungsweise von ihm zu erwarten, Krafft? Eben das möchte ich gern wissen: gerade darum bin ich bei Ihnen!«

»Ich glaube, daß jeder an seiner Stelle so verfahren würde.«

»Und würden Sie selbst so verfahren?«

»Ich mache keine Erbschaft, und darum weiß ich es von mir nicht.«

»Nun gut«, sagte ich, indem ich den Brief in die Tasche schob. »Wir wollen diese Sache vorläufig abgetan sein lassen. Hören Sie, Krafft: Marja Iwanowna, die, wie ich Ihnen versichern kann, mir vieles enthüllt hat, hat mir gesagt, daß Sie, und nur Sie, mir die Wahrheit über das mitteilen könnten, was vor anderthalb Jahren in Ems zwischen Wersilow und den Achmakows vorgefallen ist. Ich habe auf Sie gewartet wie auf die Sonne, die mir alles aufhellen soll. Sie kennen meine Lage nicht, Krafft. Ich bitte Sie inständig, mir die ganze Wahrheit zu sagen. Ich will nämlich wissen, was er für ein Mensch ist, und jetzt, gerade jetzt ist es mir wichtiger denn je, dies zu wissen.«

»Ich wundere mich, daß Marja Iwanowna Ihnen nicht alles selbst mitgeteilt hat; sie hatte die Möglichkeit, alles von dem verstorbenen Andronikow zu hören, und hat es selbstverständlich auch gehört und weiß vielleicht mehr als ich?«

»Andronikow ist, wie mir Marja Iwanowna ausdrücklich gesagt hat, selbst über diese Sache sehr im unklaren gewesen. Es scheint, daß niemand diese Sache zu entwirren imstande ist. Da wird kein Teufel draus klug! Ich weiß aber, daß Sie damals selbst in Ems waren ...«

»Ich habe nicht alles mit angesehen, aber was ich weiß, will ich Ihnen meinetwegen gern erzählen; es fragt sich nur, ob Sie mit meiner Darstellung zufrieden sein werden.«

Ich will seine Erzählung nicht wörtlich hersetzen, sondern nur in Kürze den Hauptinhalt angeben.

Vor anderthalb Jahren war Wersilow durch Vermittlung des alten Fürsten Sokolskij ein Freund der Familie Achmakow geworden (sie befanden sich damals alle im Ausland, in Ems) und hatte auf diese einen starken Eindruck gemacht, und zwar in erster Linie auf den General Achmakow selbst, der noch kein alter Mann war, aber die ganze reiche Mitgift seiner Frau Katerina Nikolajewna während der drei Jahre ihrer Ehe am Kartentisch verspielt und infolge seines ausschweifenden Lebenswandels schon einen Schlaganfall gehabt hatte. Von diesem erholte er sich im Ausland; in Ems aber hielt er sich wegen seiner Tochter aus erster Ehe auf. Dies war ein kränkliches Mädchen von siebzehn Jahren, brustleidend, sehr schön, wie man sagt, dabei aber auch sehr exzentrisch. Eine Mitgift hatte sie nicht; man hoffte in dieser Hinsicht, wie gewöhnlich, auf den alten Fürsten. Katerina Nikolajewna war, wie man sagt, eine gute Stiefmutter. Aber das junge Mädchen faßte aus irgendeinem Grund eine besondere Neigung zu Wersilow. Dieser predigte damals »etwas Fanatisches«, nach Kraffts Ausdruck, ein neues Leben, er hatte »fromme Anwandlungen erster Güte«, nach Andronikows sonderbarem, vielleicht spöttischem Ausdruck, der mir mitgeteilt wurde. Aber merkwürdig war, daß alle bald aufhörten, ihn gern zu haben. Der General fürchtete sich sogar vor ihm. Krafft bestritt durchaus nicht die Wahrheit des Gerüchts, daß Wersilow es fertiggebracht habe, dem kranken Mann den Gedanken in den Kopf zu setzen, daß Katerina Nikolajewna dem jungen Fürsten Sokolskij gegenüber nicht gleichgültig sei (dieser war damals von Ems weggereist und hatte sich nach Paris begeben). Er habe das nicht geradezu getan, sondern »nach seiner Gewohnheit« durch Andeutungen, Anspielungen und gewundene Redensarten, »denn darauf versteht er sich meisterhaft«, sagte Krafft. Überhaupt muß ich sagen, daß Krafft ihn eher für einen Betrüger und geborenen Intriganten hielt und halten wollte als für einen Menschen, der wirklich von etwas Höherem erfüllt oder auch nur originell war. Ich aber wußte schon aus anderer Quelle als von Krafft, daß, nachdem Wersilow zuerst einen außerordentlichen Einfluß auf Katerina Nikolajewna gehabt hatte, es allmählich zwischen ihnen zu einem völligen Bruch gekommen war. Wie dieses Spiel im einzelnen vorgegangen war, das konnte ich von Krafft nicht erfahren, aber von dem beiderseitigen Haß, der nach der ursprünglichen Freundschaft zwischen den beiden entstanden war, haben mir alle meine Gewährsmänner übereinstimmend berichtet. Dann aber geschah etwas Seltsames: Katerina Nikolajewnas kränkliche Stieftochter verliebte sich anscheinend in Wersilow: entweder es imponierte ihr etwas an ihm, oder seine Reden hatten bei ihr gezündet, oder was da sonst für ein Grund vorhanden sein mochte: jedenfalls steht fest, daß Wersilow eine Zeitlang fast alle Tage bei diesem jungen Mädchen verbrachte. Die Sache endete damit, daß das junge Mädchen auf einmal ihrem Vater erklärte, sie wolle Wersilow heiraten. Daß sie das tatsächlich erklärt hat, haben alle bestätigt: Krafft und Andronikow und Marja Iwanowna und sogar Tatjana Pawlowna, die sich einmal in meiner Gegenwart verplapperte. Es wurde sogar versichert, daß Wersilow die Ehe mit dem jungen Mädchen nicht nur selbst gewünscht, sondern auch sehr energisch darauf gedrängt habe, und daß das Einverständnis dieser beiden ungleichartigen Personen, des gealterten Mannes und des jungen Mädchens, ein beiderseitiges gewesen sei. Aber den Vater erschreckte dieser Gedanke; er hatte in demselben Maße, in dem er sich von der früher so geliebten Katerina Nikolajewna abwandte, angefangen, seine Tochter beinah zu vergöttern, namentlich nach dem Schlaganfall. Als die erbittertste Gegnerin dieser geplanten Ehe erwies sich jedoch Katerina Nikolajewna selbst. Es fanden sehr viele geheime, sehr unerquickliche Zusammenstöße in der Familie statt, Zank und Streit, kurz allerlei garstige Szenen. Der Vater begann schließlich angesichts der Hartnäckigkeit seiner verliebten und von Wersilow »fanatisierten« (ein Ausdruck Kraffts) Tochter nachzugeben. Aber Katerina Nikolajewna setzte ihren Widerstand mit unerbittlichem Haß fort. Und gerade hier beginnt nun ein Wirrwarr, aus dem niemand klug wird. Ich gebe im folgenden Kraffts auf Tatsachen gegründete Vermutung wieder; indes ist auch dies eben nur eine Vermutung.

Danach verstand es Wersilow in seiner feinen, unwiderstehlichen Art, dem jungen Mädchen die Meinung beizubringen, daß Katerina Nikolajewna mit der Ehe deswegen nicht einverstanden sei, weil sie sich selbst in ihn verliebt habe, ihn schon lange mit ihrer Eifersucht quäle, ihn verfolge, gegen ihn intrigiere, ihm bereits ihre Liebe erklärt habe und ihn jetzt am liebsten vergiften möchte, weil er eine andere liebe; kurz, so etwas Ähnliches sagte er. Das allergarstigste war aber, daß er darüber auch dem Vater, dem Mann der »treulosen« Gattin, Andeutungen machte, mit der Erklärung, die Sache mit dem Fürsten sei nur eine zeitweilige Zerstreuung gewesen. Natürlich wurde nun das Familienleben zur reinen Hölle. Nach einer Variante habe Katerina Nikolajewna ihre Stieftochter herzlich geliebt und sei nun in Verzweiflung darüber gewesen, daß sie dieser gegenüber in solcher Weise verleumdet worden sei, gar nicht zu reden von ihrem Verhältnis zu ihrem kranken Mann. Aber neben dieser Variante existiert noch eine andere, der zu meinem Leidwesen Krafft völligen Glauben schenkte und die – auch ich selbst für richtig hielt (von alledem hatte ich schon früher gehört). Es wurde nämlich behauptet (Andronikow soll es von Katerina Nikolajewna selbst gehört haben), es habe ganz im Gegenteil Wersilow schon früher, das heißt, ehe sich das junge Mädchen in ihn verliebte, Katerina Nikolajewna eine Liebeserklärung gemacht; von dieser, die früher seine Freundin, eine Zeitlang sogar seine schwärmerische Verehrerin gewesen sei, aber ihm doch nie so ganz getraut und ihm immer widerstrebt habe, sei Wersilows Liebeserklärung mit starkem Haß und giftigem Hohn aufgenommen worden. Sie habe ihn in aller Form hinausgeworfen, weil er ihr im Hinblick auf den bald zu erwartenden zweiten Schlaganfall ihres Mannes geradeheraus den Vorschlag gemacht habe, dann seine Frau zu werden. Auf diese Weise habe Katerina Nikolajewna einen besonderen Haß gegen Wersilow empfinden müssen, als sie nachher gesehen habe, daß er sich so offen um die Hand ihrer Stieftochter bemühte. Marja Iwanowna, die mir das alles in Moskau mitteilte, glaubte sowohl an die eine als auch an die andere Version, das heißt, sie glaubte alles zusammen: sie behauptete ausdrücklich, das habe sich alles zugleich zutragen können, das sei so etwas wie la haine dans l'amour, gekränkter Liebesstolz von beiden Seiten usw. usw., kurz eine Art von höchst subtiler romantischer Verwickelung, etwas, was jedes ernstdenkenden, vernünftigen Menschen unwürdig sei, noch dazu, wenn es sich mit Gemeinheit paare. Aber Marja Iwanowna hatte sich auch selbst von ihrer Kindheit an mit Romanen vollgestopft und las solche trotz ihres prächtigen Charakters Tag und Nacht. Als Resultat ergab sich, daß Wersilow sich der Gemeinheit, der Lüge, der Intrige, eines ganz schändlichen, abscheulichen Benehmens schuldig gemacht hatte, was um so schlimmer war, als die Sache tatsächlich einen tragischen Ausgang nahm: das arme, sinnlos verliebte junge Mädchen vergiftete sich, wie man sagt, mit Phosphorzündhölzern; indes weiß ich auch jetzt noch nicht, ob dieses letzte Gerücht wahr ist; jedenfalls suchte man es auf alle Weise zu unterdrücken. Das junge Mädchen war nur zwei Wochen lang krank und starb dann. Die Geschichte mit den Zündhölzern blieb infolgedessen zweifelhaft, aber Krafft glaubte auch daran fest. Dann starb bald darauf auch der Vater des jungen Mädchens, wie man sagt, aus Gram, der auch den zweiten Schlaganfall hervorgerufen haben soll; doch geschah das erst nach drei Monaten. Aber nach der Beerdigung des jungen Mädchens versetzte der junge Fürst Sokolskij, der aus Paris nach Ems zurückgekehrt war, Wersilow öffentlich im Kurgarten eine Ohrfeige, und dieser antwortete darauf nicht mit einer Herausforderung; vielmehr erschien er gleich am nächsten Tag auf der Promenade, als ob nichts vorgefallen wäre. Da nun zogen sich alle von ihm zurück, auch in Petersburg. Wersilow unterhielt zwar noch einigen Verkehr, aber in einem ganz anderen Kreis. Seine Bekannten aus der besseren Gesellschaft verurteilten ihn sämtlich, obgleich kaum jemand von allen Einzelheiten Kenntnis hatte; man wußte nur etwas von dem romanhaften Tod des jungen Mädchens und von der Ohrfeige. Eine vollständige Kenntnis, soweit das überhaupt möglich war, hatten nur zwei oder drei Personen; am meisten wußte der verstorbene Andronikow, der schon lange mit den Achmakows in geschäftlicher Beziehung gestanden und namentlich mit Katerina Nikolajewna in einer bestimmten Angelegenheit zu tun gehabt hatte. Aber er hielt alle diese Dinge sogar vor seiner Familie geheim und teilte nur Krafft und Marja Iwanowna etwas davon mit, und auch das nur, weil es notwendig war.

»Die Hauptsache ist jetzt ein Schriftstück«, schloß Krafft, »vor dem Frau Achmakowa große Furcht hat.«

Auch hierüber machte er mir Mitteilungen; hier sind sie:

Als Katerina Nikolajewnas Vater, der alte Fürst, sich im Ausland bereits von seinem Anfall zu erholen begann, beging sie die Unvorsichtigkeit, an Andronikow unter dem Siegel des Geheimnisses (Katerina Nikolajewna schenkte ihm volles Vertrauen) einen sehr kompromittierenden Brief zu schreiben. Es zeigte sich damals bei dem in der Rekonvaleszenz begriffenen Fürsten tatsächlich ein Hang, das Geld zu vergeuden und beinahe aus dem Fenster zu werfen: er fing an, im Ausland ganz unnütze, teure Sachen wie Gemälde und Vasen zu kaufen, größere Summen zu Gott weiß was für Zwecken zu verschenken und zu spenden, sogar zur Förderung von allerlei dortigen Instituten; einem vornehmen russischen Verschwender hätte er beinahe für ein gewaltiges Stück Geld hinter dem Rücken seiner Angehörigen ein heruntergekommenes, mit Prozessen behaftetes Gut abgekauft; und schließlich schien es, daß er faktisch an eine neue Ehe denke. Und da hatte nun in Anbetracht alles dessen Katerina Nikolajewna, die während der Krankheit ihres Vaters nicht von seiner Seite wich, an Andronikow als Juristen und »alten Freund« einen Brief geschrieben und darin gefragt, ob es gesetzlich möglich sei, den Fürsten unter Vormundschaft zu stellen oder ihm die Rechtsfähigkeit zu entziehen und wie sich das eventuell am besten machen lasse, so daß kein häßliches Aufsehen entstehe, niemand ihr einen Vorwurf machen könne und die Empfindungen des Vaters dabei geschont würden und so weiter und so weiter. Andronikow soll ihr gleich damals unter Anführung vernünftiger Gründe entschieden abgeraten haben: später aber, nachdem der Fürst vollständig wiederhergestellt war, war es unmöglich, auf diese Idee noch einmal zurückzukommen; aber der Brief war in Andronikows Händen geblieben. Und nun starb dieser; Katerina Nikolajewna erinnerte sich sogleich an den Brief; sie sagte sich, wenn er unter den Papieren des Verstorbenen zum Vorschein käme und in die Hände des alten Fürsten gelangte, so würde dieser sie unzweifelhaft für immer aus dem Hause jagen, sie enterben und ihr auch bei seinen Lebzeiten keine Kopeke mehr geben. Der Gedanke, daß die eigene Tochter an seinem Verstand gezweifelt und sogar beabsichtigt hatte, ihn für irrsinnig erklären zu lassen, hätte dieses Lamm in ein wildes Tier verwandelt. Sie aber war als Witwe dank der Spielsucht ihres Mannes völlig mittellos zurückgeblieben und konnte einzig und allein auf ihren Vater rechnen: sie hoffte fest, von ihm eine neue Mitgift, ebenso groß wie die erste, zu erhalten.

Krafft wußte über das Schicksal dieses Briefes nur sehr wenig, bemerkte aber, Andronikow habe »wichtige Papiere niemals vernichtet« und habe außerdem zwar einen weiten Blick, aber auch ein »weites Gewissen« gehabt. (Ich war ordentlich erstaunt darüber, daß Krafft bei aller Liebe und Hochachtung, die er gegen Andronikow empfunden hatte, doch so objektiv urteilte.) Aber Krafft war doch davon überzeugt, daß das kompromittierende Schriftstück infolge der nahen Beziehungen, in denen Wersilow zu der Witwe und den Töchtern Andronikows stand, in dessen Hände gekommen sei; es war bereits bekannt, daß diese weiblichen Personen alle von dem Verstorbenen hinterlassenen Papiere sogleich bereitwilligst Wersilow zur Verfügung gestellt hatten. Krafft wußte ferner, daß auch Katerina Nikolajewna bereits vermutete, der Brief sei in Wersilows Händen, daß sie ebendeswegen in Angst war, da sie glaubte, Wersilow werde mit dem Briefe sogleich zum alten Fürsten gehen; daß sie nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland bereits in Petersburg Nachforschungen nach dem Briefe angestellt hatte, bei Andronikows gewesen war und jetzt ihre Nachforschungen fortsetzte, da sie immer noch eine Spur von Hoffnung hatte, daß der Brief vielleicht doch nicht in Wersilows Besitz sei, und endlich, daß sie einzig und allein in dieser Absicht nach Moskau gereist war und dort Marja Iwanowna dringend gebeten hatte, in den Papieren, die sie bei sich aufbewahrte, nachzusuchen. Von Marja Iwanownas Existenz und ihren Beziehungen zu dem verstorbenen Andronikow hatte sie erst ganz vor kurzem erfahren, erst nachdem sie nach Petersburg zurückgekehrt war.

»Sie glauben, daß sie den Brief bei Marja Iwanowna nicht gefunden hat?« fragte ich und hatte dabei meine eigenen Gedanken.

»Wenn Marja Iwanowna nicht einmal Ihnen etwas darüber mitgeteilt hat, dann hat sie ihn vielleicht auch gar nicht.«

»Also nehmen Sie an, daß das Schriftstück sich in Wersilows Händen befindet?«

»Das ist allerdings das wahrscheinlichste. Indes, ich weiß es nicht, möglich ist alles«, sagte er. Es war ihm anzusehen, daß er sehr ermüdet war.

Ich richtete weiter keine Fragen an ihn, wozu auch? Die Hauptsache war mir jetzt klargeworden; trotz dieses ganzen schmählichen Wirrwarrs hatte alles, was ich befürchtete, seine Bestätigung gefunden.

»Das alles ist wie ein Traum, wie Fieberphantasien«, sagte ich tieftraurig und griff nach meinem Hut.

»Dieser Mensch ist Ihnen wohl sehr teuer?« fragte Krafft mit sichtlicher, großer Teilnahme, die ich in diesem Augenblick auf seinem Gesicht las.

»Ich hatte es mir schon vorher gedacht«, sagte ich, »daß ich auch von Ihnen nicht alles erfahren würde. Die einzige Hoffnung, die mir noch bleibt, ist Frau Achmakowa. Auf die hatte ich schon von vornherein gerechnet. Vielleicht gehe ich zu ihr, vielleicht auch nicht.«

Krafft sah mich einigermaßen erstaunt an.

»Leben Sie wohl, Krafft! Warum drängen Sie sich Leuten auf, die von Ihnen nichts wissen wollen? Ist es nicht das beste, den ganzen Verkehr abzubrechen, wie?«

»Und wo soll man dann hin?« fragte er, finster zur Erde blickend.

»Zu sich, zu sich! Den ganzen Verkehr abbrechen und zu sich gehen!«

»Nach Amerika?«

»Nach Amerika! Zu sich, nur zu sich! Darin besteht meine ganze Idee, Krafft!« sagte ich begeistert.

Er sah mich neugierig an.

»Haben Sie denn einen solchen Ort: ›zu sich‹?«

»Jawohl. Auf Wiedersehen, Krafft; ich danke Ihnen und bedaure, Ihnen soviel Mühe gemacht zu haben! Ich würde an Ihrer Stelle, wenn ich selbst ein solches Rußland im Kopfe hätte, alle diese Menschen zum Teufel jagen: macht, daß ihr wegkommt; intrigiert und beißt euch untereinander – was geht's mich an!«

»Bleiben Sie noch ein Weilchen!« sagte er auf einmal, als er mich schon bis zur Eingangstür begleitet hatte.

Ich wunderte mich ein bißchen, kehrte um und setzte mich wieder hin. Krafft setzte sich mir gegenüber. Wir lächelten uns gegenseitig an. Ich sehe das alles vor mir, als geschähe es jetzt. Ich erinnere mich deutlich, daß sich in mir ein Gefühl der Bewunderung für ihn regte.

»Es gefällt mir an Ihnen, daß Sie ein so höflicher Mensch sind«, sagte ich plötzlich.

»Ja?«

»Ich glaube, es gefällt mir darum, weil ich selbst es so selten verstehe, höflich zu sein, obwohl ich wünschen möchte, es zu verstehen ... Nun, aber vielleicht ist es ganz gut, wenn die Menschen einen beleidigen: wenigstens befreien sie einen so von dem Unglück, sie lieben zu müssen.«

»Welche Stunde des Tages lieben Sie am meisten?« fragte er. Er hatte offenbar gar nicht gehört, was ich gesagt hatte. »Welche Stunde? Das weiß ich nicht. Den Sonnenuntergang habe ich nicht gern.«

»Nein?« erwiderte er, anscheinend besonders interessiert, versank aber sogleich wieder in seine Gedanken.

»Sie wollen wieder verreisen?« fragte ich.

»Ja ... ich verreise.«

»Bald?«

»Ja.«

»Brauchen Sie denn wirklich, um nach Wilna zu fahren, einen Revolver?« fragte ich ohne den geringsten Hintergedanken und ohne überhaupt etwas dabei zu denken. Ich fragte nur, weil der Revolver blitzte und ich nicht recht wußte, wovon ich reden sollte.

Er wendete sich um und sah den Revolver starr an.

»Nein, ich tue es nur so aus Gewohnheit.«

»Wenn ich einen Revolver hätte, so würde ich ihn irgendwo verwahren und einschließen. Wissen Sie, so ein Ding hat wahrhaftig etwas Verführerisches! Ich glaube zwar nicht gerade an eine Selbstmordepidemie, aber wenn man so ein Ding immer vor Augen, hat – wirklich, es gibt Augenblicke, wo es einen verführen könnte.«

»Lassen Sie dieses Thema!« sagte er und stand plötzlich vom Stuhl auf.

»Ich rede dabei nicht von mir«, fügte ich, ebenfalls aufstehend, hinzu, »ich werde nie davon Gebrauch machen. Mir können Sie ein Leben von dreifacher Länge geben – es wird mir immer noch zu wenig sein.«

»Leben Sie recht lange!« entfuhr es ihm anscheinend unwillkürlich.

Er lächelte zerstreut und ging sonderbarerweise geradeswegs ins Vorzimmer, als wollte er mich hinausbegleiten, natürlich ohne zu bemerken, was er tat.

»Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen bei allem, was Sie vorhaben, Krafft«, sagte ich, als ich bereits auf die Treppe hinaustrat.

»Wollen's hoffen!« erwiderte er in festem Ton.

»Auf Wiedersehen!«

»Wollen auch das hoffen!«

Ich erinnere mich an den letzten Blick, den er auf mich richtete.

Also das war der Mensch, um den mein Herz so viele Jahre lang geklopft hatte? Und was hatte ich denn von Krafft erwartet? Was für neue Mitteilungen hatte ich mir von ihm versprochen?

Als ich von Krafft herauskam, verspürte ich starken Hunger; es war schon gegen Abend, und ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen. Ich ging, gleich dort auf der Petersburger Seite, auf dem Großen Prospekt in ein kleines Restaurant, um dort zwanzig oder höchstens fünfundzwanzig Kopeken auszugeben; eine größere Ausgabe hätte ich mir damals unter keinen Umständen gestattet. Ich ließ mir eine Suppe geben, und nachdem ich sie verzehrt hatte, setzte ich mich, wie ich mich erinnere, an ein Fenster und sah hinaus. Im Zimmer waren viele Menschen; es roch nach angebranntem Fett, Restaurationsservietten und Tabak. Es war widerlich. Über meinem Kopf pochte eine stimmlose Nachtigall trübsinnig und melancholisch mit dem Schnabel auf den Boden ihres Käfigs. In dem anstoßenden Billardzimmer wurde gelärmt; ich aber saß da und überließ mich meinen Gedanken. Der Sonnenuntergang (warum hatte sich Krafft nur darüber gewundert, daß ich den Sonnenuntergang nicht gern hatte?) erweckte in mir neue, unerwartete Empfindungen, die ganz und gar nicht zu dem Ort paßten. Mir schwebte immer der stille Blick meiner Mutter vor, ihre lieben Augen, die mich nun schon einen ganzen Monat lang so schüchtern ansahen. In der letzten Zeit war ich zu Hause recht grob gewesen, namentlich ihr gegenüber; eigentlich wollte ich zu Wersilow grob sein, aber da ich mich an ihn nicht herantraute, so peinigte ich nach meiner schlechten Gewohnheit meine Mutter. Ich hatte sie sogar ganz verängstigt; oft sah sie mich, wenn Andrej Petrowitsch eintrat, mit einem so flehenden Blick an, weil sie einen heftigen Ausbruch meinerseits befürchtete ... Sehr sonderbar war es, daß ich hier, im Restaurant, zum erstenmal darüber nachdachte, daß Wersilow zu mir du sagte, sie aber Sie. Gewundert hatte ich mich darüber auch schon früher, und zwar nicht in einem für sie günstigen Sinne; jetzt aber stellte ich darüber besondere Überlegungen an – und sehr sonderbare Gedanken zogen einer nach dem andern durch meinen Kopf. Ich blieb lange auf meinem Platz sitzen, bis zum Einbruch völliger Dunkelheit. Ich dachte auch an meine Schwester ...

Es war für mich ein entscheidender Augenblick. Ich mußte unter allen Umständen einen Entschluß fassen! War ich denn dazu wirklich unfähig? Was war denn so Schweres daran, alle Beziehungen abzubrechen, wenn diese Menschen zudem selbst nichts von mir wissen wollten? Meine Mutter und meine Schwester? Aber diese beiden wollte ich in keinem Fall verlassen – welche Wendung die Sache auch nehmen mochte.

Es ist wahr: das Auftreten dieses Menschen in meinem Leben, als ich noch in der ersten Kindheit war, hatte zwar nur einen Augenblick gedauert, mir aber doch jenen bedeutsamen Stoß gegeben, von dem mein Bewußtsein begann. Wäre ich damals nicht mit ihm zusammengetroffen, so würden mein Verstand, meine Denkart, mein Schicksal sich gewiß anders gestaltet haben, sogar trotz meines mir vom Schicksal vorherbestimmten Charakters, dem ich allerdings nicht hätte entgehen können.

Und nun stellte es sich heraus, daß dieser Mensch nur ein Phantasiegebilde von mir war, ein Phantasiegebilde aus meinen Kinderjahren. Ich selbst hatte ihn mir so ausgedacht, in Wirklichkeit aber war er ein ganz anderer und stand tief, tief unter dem Gebilde meiner Phantasie. Zu einem sittlich reinen Menschen war ich hergereist, nicht zu diesem. Und warum hatte ich ihn ein für allemal liebgewonnen in jenem kurzen Augenblick, als ich, noch ein kleines Kind, ihn damals erblickte? Dieses »ein für allemal« mußte nun verschwinden. Ich werde später einmal, wenn sich dazu Platz findet, diese unsere erste Begegnung erzählen: es war ein ganz unbedeutender Vorgang, auf den sich keine Folgerung bauen ließ. Aber ich baute eine ganze Pyramide von Folgerungen darauf auf. Ich begann diese Pyramide schon unter der Decke meines Kinderbettchens, wenn ich vor dem Einschlafen weinte und meinen Gedanken nachhing; worüber ich weinte und worüber ich nachdachte, das weiß ich selbst nicht. Darüber, daß ich so verlassen war? Darüber, daß ich gequält wurde? Aber gequält wurde ich nur wenig, nur zwei Jahre lang in der Touchardschen Pension, in die er mich brachte, worauf er für immer wegfuhr. Nachher hat mich niemand mehr gequält; vielmehr habe sogar ich selbst stolz auf meine Mitschüler hinabgeblickt. Und ich kann auch jene sich selbst bejammernden vaterlosen Kinder nicht ausstehen! Ich kenne nichts Ekelhafteres, als wenn diese illegitimen vaterlosen Kinder, alle diese Ausgestoßenen und überhaupt diese ganze Bagage, mit der ich nicht das geringste Mitleid habe, sich auf einmal feierlich vor dem Publikum erheben und kläglich, aber erbaulich losheulen: »Seht, wie man an uns gehandelt hat!« Am liebsten würde ich diese vaterlosen Kinder durchhauen. Niemand von dieser widerwärtigen Gesellschaft hat Verständnis dafür, daß es für ihn sehr viel anständiger ist, zu schweigen und nicht zu heulen und sich nicht zu Klagen herabzuwürdigen. Wenn du dich aber dazu herabwürdigst, du Sohn der Liebe, dann hast du dein Los verdient. So denke ich darüber!

Aber nicht das war lächerlich, daß ich früher »unter meinem Bettdeckchen« phantastischen Träumereien nachgehangen hatte, sondern daß ich nun gerade um seinetwillen hergereist war, wieder um dieses erdachten Menschen willen, und meine Hauptziele dabei fast vergessen hatte. Ich war hergefahren, um ihm im Kampf gegen die Verleumdung, bei der Überwindung seiner Feinde zu helfen. Jenes Schriftstück, von dem Krafft gesprochen hatte, jener Brief, den diese Frau an Andronikow geschrieben hatte und um den sie jetzt solche Angst ausstand, jener Brief, der ihr Lebensglück zertrümmern und sie an den Bettelstab bringen konnte und von dem sie annahm, daß er sich in Wersilows Händen befinde, – dieser Brief befand sich nicht in Wersilows Händen, sondern war in meiner Seitentasche eingenäht! Ich hatte ihn selbst eingenäht, und bisher wußte kein Mensch auf der ganzen Welt etwas davon. Daß Marja Iwanowna, die das Schriftstück »in Verwahrung« gehabt hatte, bei ihrer Vorliebe für alles Romanhafte für nötig befunden hatte, es mir zu übergeben und keinem andern, das hatte von ihrer Ansicht und ihrem freien Willen abgehangen, und ich bin nicht verpflichtet, es zu erklären; vielleicht erzähle ich die Geschichte einmal bei Gelegenheit; aber nachdem ich in so unerwarteter Weise eine Waffe in die Hand bekommen hatte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mich in Petersburg zu zeigen. Allerdings beabsichtigte ich diesem Menschen nur insgeheim zu helfen, ohne selbst hervorzutreten und ohne mich zu ereifern und ohne von ihm Belobigungen oder Umarmungen zu erwarten. Und niemals, niemals wollte ich mich dazu herabwürdigen, ihm irgendeinen Vorwurf zu machen! Was konnte er denn auch dafür, daß ich mich in ihn verliebt und mir aus ihm ein phantastisches Ideal zurechtgemacht hatte? Und vielleicht liebte ich ihn nicht einmal. Sein origineller Geist, sein interessanter Charakter, seine Intrigen und Abenteuer und der Umstand, daß meine Mutter bei ihm wohnte, all das hätte mich, wie ich glaubte, nicht mehr halten können; es genügte schon das eine, daß meine phantastische Puppe zerbrochen war und ich ihn vielleicht nicht mehr lieben konnte. Was war es denn also, was mich hielt und woran ich mich festklammerte? Das war die Frage. Und als Resultat ergab sich, daß nur ich der Dumme war und sonst niemand.

Aber wie ich von anderen Ehrlichkeit verlange, so werde ich auch selbst ehrlich sein: ich muß bekennen, daß das in meiner Tasche eingenähte Schriftstück in mir nicht nur den leidenschaftlichen Wunsch erregt hatte, Wersilow zu Hilfe zu eilen. Jetzt ist mir das alles vollständig klar, und auch schon damals brachte mich ein anderer Gedanke zum Erröten. Es hatte mir eine Frau vorgeschwebt, ein stolzes Wesen aus den höchsten Kreisen, der ich Auge in Auge gegenübertreten würde; sie würde mich verachten, über mich lachen wie über eine armselige Maus, ohne auch nur zu ahnen, daß ich der Herr ihres Schicksals bin. Dieser Gedanke hatte mich schon in Moskau berauscht und besonders im Eisenbahnwagen, als ich hierherfuhr; ich habe das schon weiter oben eingestanden. Ja, ich haßte diese Frau, aber ich liebte sie bereits als mein Opfer, und das alles ist die reine Wahrheit, so war das alles in Wirklichkeit. Aber dabei war das ein so kindisches Benehmen, wie ich es nicht einmal von einem solchen Menschen wie mir erwartet hätte. Ich schildere meine damaligen Empfindungen, das heißt das, was mir damals durch den Kopf ging, als ich in dem Restaurant unter der Nachtigall saß und den Entschluß faßte, noch an diesem Abend ein für allemal mit ihnen zu brechen. Der Gedanke an die kurz vorher erfolgte Begegnung mit dieser Frau trieb mir plötzlich die Schamröte ins Gesicht. Eine schmähliche Begegnung! Ein schmählicher, dummer Eindruck, der – und das war das Wichtigste – auf das deutlichste meine Unfähigkeit zu ernstem Handeln bewies. Es bewies nur – so dachte ich damals –, daß ich nicht einmal den dümmsten Verlockungen Widerstand zu leisten imstande sei, während ich doch selbst eben erst zu Krafft gesagt hatte, ich hätte »meinen Platz« und meine Aufgabe, und selbst ein Leben von dreifacher Länge würde mir noch zu wenig sein. Voll Stolz hatte ich das gesagt. Daß ich meine Idee beiseite geworfen und mich in Wersilows Angelegenheiten eingemischt hatte, dafür könnte man noch eine Entschuldigung vorbringen; aber daß ich wie ein überraschter Hase mich von einer Seite nach der andern warf und mich auf alle möglichen Lappalien einließ, daran war offenbar nichts anderes als meine Dummheit schuld. Hatte mich der Teufel reiten müssen, zu Dergatschew hinzugehen und dort mit meinen Dummheiten herauszuplatzen, obwohl ich doch schon längst wußte, daß ich es nicht verstehe, etwas verständig und vernünftig darzulegen, und am besten tue zu schweigen! Und so ein Wassin mußte mich dann durch den Hinweis darauf trösten, daß ich »noch fünfzig Lebensjahre vor mir hätte und somit kein Grund vorläge, mich zu grämen«. Dieser sein Gedanke ist schön, das gebe ich zu, und macht seinem unbestreitbaren Verstand alle Ehre; schön ist er schon dadurch, daß er ganz einfach ist, und das Einfachste begreift man immer erst zuletzt, wenn man schon alles, was wunderlicher und dümmer ist, durchprobiert hat; aber ich hatte diesen Gedanken schon selbst gekannt, noch ehe Wassin ihn aussprach; diesen Gedanken hatte ich schon seit mehr als drei Jahren gehabt; ja noch mehr: in ihm steckte zum Teil »meine Idee«. – Das war's, was mir damals in dem Restaurant durch den Kopf ging.

Mir war widerwärtig zumute, als ich, müde vom Gehen und von meinen Gedanken, am Abend zwischen sieben und acht Uhr nach dem Semjonowskij Polk wanderte. Es war schon ganz dunkel geworden, und das Wetter hatte sich geändert: es war trocken, aber ein unangenehmer Petersburger Wind, so recht schneidend und scharf, hatte sich erhoben, blies mir in den Rücken und wirbelte ringsumher Staub und Sand auf. Wie viele verdrießliche Gesichter bekam ich bei dem einfachen Volk zu sehen, das eilig von seiner Arbeit und von seinem Gewerbe nach den dürftigen Wohnungen zurückkehrte! Jedem stand seine eigene mürrische Sorge im Gesicht geschrieben, und es war in der ganzen Menge vielleicht kein einziger gemeinsamer, einigender Gedanke zu finden! Krafft hatte recht: ein jeder lebt nur für sich. Ich stieß auf einen kleinen Knaben, so klein, daß man sich wundern mußte, wie er um diese Tageszeit noch allein auf der Straße sein konnte; er schien sich verlaufen zu haben; eine Frau blieb einen Augenblick stehen, um ihn anzuhören, aber da sie ihn nicht verstand, breitete sie ratlos die Arme aus, ging weiter und ließ ihn im Dunkeln allein stehen. Ich trat zu ihm heran, aber er bekam auf einmal vor mir Angst und lief davon. Als ich mich unserer Wohnung näherte, nahm ich mir vor, nie zu Wassin zu gehen. Während ich die Treppe hinaufstieg, empfand ich den lebhaften Wunsch, die Meinigen allein zu Hause zu finden, ohne Wersilow, damit ich vor seiner Ankunft noch zu meiner Mutter oder zu meiner lieben Schwester ein freundliches Wort sagen könnte; mit der letzteren hatte ich einen ganzen Monat lang fast nie ein Wort gesprochen. Es traf sich wirklich so, daß er nicht zu Hause war...

Übrigens: da ich jetzt in meinen »Aufzeichnungen« diese neue Person auf die Bühne bringe (ich rede von Wersilow), so will ich in aller Kürze seinen Lebenslauf vorführen, der übrigens nichts Besonderes darbietet. Ich tue das, damit dem Leser alles noch besser verständlich wird und weil ich nicht vorherzusehen vermag, wo ich diese Biographie im weiteren Verlauf der Erzählung würde einschieben können.

Er studierte auf der Universität, trat dann aber in ein Gardeanariotowa und nahm den Abschied. Er reiste ins Ausland und führte nach seiner Rückkehr in Moskau ein vornehmes, vergnügtes Leben. Nach dem Tod seiner Frau begab er sich auf sein Gut; hier fand die Episode mit meiner Mutter statt. Dann lebte er lange Zeit irgendwo im Süden. Als der Krieg mit den westeuropäischen Mächten ausbrach, trat er wieder ins Militär ein, gelangte aber nicht nach der Krim und kam die ganze Zeit über in kein Gefecht. Nach Beendigung des Krieges nahm er wieder den Abschied und ging ins Ausland, wohin er sogar meine Mutter mitnahm, indes ließ er sie in Königsberg. Die Ärmste hat mir manchmal mit wahrem Entsetzen und mit Kopfschütteln erzählt, wie sie damals dort ein ganzes halbes Jahr mutterseelenallein mit ihrem kleinen Töchterchen gelebt habe, ohne Kenntnis der Sprache, wie verraten und verkauft, und wie ihr zuletzt auch noch das Geld ausgegangen sei. Da war Tatjana Pawlowna hingekommen, hatte sie zurückgeholt und nach irgendeinem Ort im Gouvernement Nischnij Nowgorod gebracht. Darauf übernahm Wersilow eine Stelle als Friedensrichter des ersten Aufgebots und soll sie vorzüglich ausgefüllt haben; aber er gab sie bald wieder auf und beschäftigte sich in Petersburg mit der Führung von allerlei Zivilprozessen. Andronikow stellte seine Fähigkeiten immer sehr hoch, schätzte ihn sehr und sagte nur, er werde aus seinem Charakter nicht klug. Dann gab Wersilow auch diese Tätigkeit auf und reiste wieder ins Ausland, diesmal für längere Zeit, auf mehrere Jahre. Danach bildeten sich besonders enge Beziehungen zwischen ihm und dem alten Fürsten Sokolskij heraus. Während dieser ganzen Zeit änderten sich seine Vermögensverhältnisse zwei- oder dreimal vollständig: bald versank er in größte Armut, bald wurde er auf einmal wieder reich und kam in die Höhe.

Übrigens will ich jetzt, wo ich meine Aufzeichnungen bis zu diesem Punkt geführt habe, mich dazu entschließen, auch »meine Idee« darzulegen. Es ist das erstemal seit ihrer Entstehung, daß ich sie in Worte kleide. Ich entschließe mich, sie sozusagen dem Leser zu enthüllen, und zwar ebenfalls zu besserer Verständlichkeit meiner weiteren Darlegungen. Denn nicht nur für den Leser, sondern auch für mich selbst, den Verfasser, ist es eine schwere Aufgabe, aus den von mir getanen Schritten klug zu werden, wenn nicht vorher erklärt worden ist, was mich zu ihnen geführt und gedrängt hat. Durch diese »Redefigur des Verschweigens« bin ich infolge meiner Ungeschicklichkeit wieder in jene »Finessen« der Romanschriftsteller hineingeraten, die ich oben selbst verspottet habe. Jetzt, wo ich in die Tür meines Petersburger Romans mit all meinen darin enthaltenen schmählichen Erlebnissen eintrete, finde ich eine solche Vorbemerkung unumgänglich notwendig. Aber nicht jene Finessen haben mich dazu verleitet, bisher über manche Punkte Stillschweigen zu bewahren, sondern das Wesen der Sache selbst, das heißt die Schwierigkeit, sie darzustellen; sogar jetzt, wo schon alles Vergangene vergangen ist; fühle ich die fast unüberwindliche Schwierigkeit einer Darlegung dieser »Idee«. Überdies muß ich sie ohne Zweifel in ihrer damaligen Form darstellen, das heißt so, wie sie sich in meinem Kopf gestaltet hatte und mir damals vor dem geistigen Auge stand, nicht so, wie sie jetzt aussieht, – und das ist wieder eine neue Schwierigkeit. Manche Dinge auseinanderzusetzen, ist beinahe unmöglich. Gerade diejenigen Ideen, die am allereinfachsten und am allerklarsten sind, gerade die sind besonders schwer zu begreifen. Hätte Kolumbus vor der Entdeckung Amerikas es unternommen, anderen seine Idee darzulegen, so bin ich überzeugt, daß sie ihn sehr, sehr lange nicht verstanden hätten. Und sie haben ihn auch wirklich nicht verstanden. Wenn ich das sage, beabsichtige ich ganz und gar nicht, mich mit Kolumbus auf eine Stufe zu stellen, und wenn jemand das aus meinen Worten folgern sollte, dann mag er sich schämen; weiter sage ich nichts.

Der Jüngling

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