Читать книгу Milten & Percy - Der Tod des Florian C. Booktian - Florian C. Booktian - Страница 6

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Einige Zeit später

Percy starrte Milten an. Der saß am Steuer seines heruntergekommenen 1973 Ford Galaxie 500 und hatte in der letzten halben Stunde kein einziges Wort gesagt. Milten war seit Wochen in einer schlechten Laune versunken. Und ganz egal, wie sehr sich Percy auch anstrengte, sein Freund wollte einfach nicht daraus auftauchen. „Sei nicht zu hart mit dir selbst“, fuhr Percy fort. „Sechs Monate sind vergangen, seitdem du offiziell deine Dienstmarke erhalten hast. Inzwischen bist du mehr Detective, als ich es bin. Oder? Lass uns mal aufzählen“, das Erdmännchen begann an einer Hand abzuzählen. „Du schläfst auf meiner Couch, hast aufgehört dich zu rasieren, du bist erfolgreich geschieden und deine Ex will nichts von dir wissen. Ach und heute Morgen habe ich dich erwischt, wie du dir im Bad den Mund mit, ich glaube es war Gunex, ausgespült hast. Damit putze ich normalerweise meinen Revolver.“

Percy sah Milten eine Zeit lang an. Der Erfinder und frisch gemachte Detective behielt seinen Blick auf der Straße. Percy war besorgt, Milten hatte in den letzten Monaten gelitten. Auch wenn er nie wirklich viel Körpermasse besaß, hatte er mindestens die Hälfte davon verloren. Von seinem Gesicht hing ein Vollbart, der als Dreitagebart angefangen hatte und jetzt noch immer wucherte wie Unkraut. Miltens Kleidung zeigte massive Abnutzungen. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal mehr, wie lange er schon in derselben Weste mit Cordhose steckte.

Milten schaltete einen Gang herunter und lenkte den Wagen links in eine Straße.

„Ich meine, was ist mit dir? Wir reden kaum noch. Wenn wir nicht arbeiten, verbringst du den ganzen Tag vor der Glotze und siehst zu, wie die Löcher in deinen Socken größer werden. Rede mit mir, Großer! Du machst mir langsam Angst.“

„Es besteht kein Grund zur Sorge“, nuschelte Milten unter seinem Bart hervor.

Percy warf die Vorderpfoten in die Luft. „Halleluja. Er kann noch reden. Milten, ein bisschen Melancholie ist in Ordnung, du weißt, dass ich selbst nicht das fröhlichste Erdmännchen auf diesem zwangsgepaarten Planeten bin“, Percy zeigte auf sich. „Aber wenn ich mir Sorgen machen muss, ob ich mich im Alltag auf dich verlassen kann, dann ... dann ...“

Der Ford Galaxie 500 rollte eine beleuchtete Straße hinunter. Die Lichtkegel der Straßenlaternen wanderten über Miltens Gesicht. Für einen kurzen Moment war sein Gesicht dann gut zu sehen. „Es besteht kein Grund zur Sorge“, wiederholte Milten im gleichen ausdruckslosen Tonfall.

Percy schnallte sich los und rutschte auf seinem Sitz herum. „Milten?“

Sein Partner starrte weiter ausdruckslos nach vorne, während das Licht über sein Gesicht hinwegstrich.

„Milten, schau mich an!“

Milten lenkte den Wagen weiter geradeaus, drehte den Kopf und blickte Percy für eine unnatürlich lange Zeit in die Augen, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Percy hatte sogar das Gefühl, er würde beschleunigen.

Das Erdmännchen holte aus und verpasste Milten eine saftige Ohrfeige.

„Du riechst wie eine Mülltonne! Schlimmer noch, du siehst aus wie ein Hippie, der nicht weiß, wogegen er sich auflehnen soll, also hat er, du, dich selbst zur Demonstration erklärt. Du protestierst gegen dein eigenes Ich! Und wenn sich deine Haltung zumindest mir gegenüber nicht bald bessert, such ich mir jemand anderen als Partner.“

Milten parkte den Wagen, verschränkte die Hände über dem Lenkrad und legte seinen Kopf auf die Finger.

„Was jetzt?“, fragte Percy. „Demonstration vorbei? Hast du aufgegeben?“

Percy wartete auf eine Antwort, aber Milten hing einfach nur da wie eine falsche Bestellung, die niemand haben wollte.

„Wir fahren hier nicht nur zum Spaß in der Gegend herum, Herr Milten Greenbutton. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl und drei Haftbefehle, denen wir nachgehen müssen. Reiß dich zusammen verdammt.“

„Ich weiß“, sagte Milten und seufzte. „Ich weiß ...“

„Aber?“

„Es ist nur ... wofür das Ganze?“

Er sah Percy mit rot unterlaufenen Augen an. Die Augen einer Person, die ein klein wenig aufgegeben hatte. Nicht ganz, aber genug, um sich selber ernsthaft zu schaden.

„Oh Mann“, sagte Percy und rutschte auf dem Sitz so weit nach hinten, wie es nur irgendwie ging. „Dir gehen Dinge durch den Kopf, die du besser vergessen solltest. Hör zu, reiß dich zusammen, wir ziehen das jetzt noch durch und dann setzen wir uns hin und sprechen uns aus, o. k.?“

Milten nickte, kaum merklich und langsam, aber er nickte.

„Gut“, sagte Percy, „vergiss nicht, du bist mein Freund und ich ...“ Percy gestikulierte ein Herz, damit er ein bestimmtes Wort nicht aussprechen musste. „Ich hab dich ...“, sagte er und zeigte mit dem Herzchen auf Milten, „dich. Verstehst du?“

Milten nickte. Diesmal lächelte er sogar ein klein wenig.

Percy seufzte erleichtert. „Ich habs dir gesagt, gleich am ersten Tag hab ich's dir gesagt, diese Braut, Melody? Deine traute Exfrau?“, Percy lehnte sich vor und machte große Augen. „Die war krank im Kopf.“ Percy nickte auf und ab, als wollte er sich selbst recht geben.

„Sie war eben was Besonderes.“

„Besonderes? Milten, was Melody war, ist sonderbar. Wer geht eine Beziehung ein und schlägt gleich am Anfang Polygamie vor?“

„Ich fand das gar nicht so merkwürdig.“

„Ach wirklich? Es ist nichts komisch daran, als verheirateter Mann sein Bett mit anderen Typen zu teilen?“

„Na ja ...“

„Nix na ja. Willst du mir ehrlich sagen, dass dir das nie zu denken gegeben hat?“

„Vielleicht ...“

„Das nehme ich in deiner Verfassung als ein: verdammt noch mal Ja. Komm, vergiss die Braut, die war einfach nur schlecht für dich.“

Milten nickte.

„Was hältst du davon, wenn wir jetzt auf ein paar Verbrecher schießen, um dich ein wenig aufzumuntern?“

Milten lächelte. „Okay, wenn es denn sein muss.“

„Na also“, sagte Percy und zog seinen Colt Detective Special hervor. Milten tat das Gleiche und beide überprüften die Trommeln ihrer Revolver.

„Weißt du, Großer, ich hab nie verstanden, warum du dir dieselbe Dienstwaffe geholt hast wie ich. Ich hab das Ding hier, weil es für meine Körpermasse ideal ist. Weder der Durchschlag noch der Rückstoß sind sonderlich groß. Genau wie bei mir“, Percy kicherte, Milten musste lachen. Die Stimmung war endlich wieder lockerer.

„Mir gefällt die Waffe, du hast mir mit so einer das Schießen beigebracht. Ich bin sie gewohnt.“

„So groß wie du bist, könnten wir dir eine Flugabwehrkanone auf den Rücken binden, ich kann keine Magnum abfeuern, du schon. Wie wäre es, wenn zumindest einer von uns eine etwas stärkere Waffe mit sich führte? Falls wir mal durch Wände schießen müssen oder so.“

„Davon halte ich nichts, wir sind auch nicht da, um Leute zu erschießen, sondern um sie aufzuhalten. Wie viele hast du bisher erschossen?“

„Sechs“, sagte Percy flott.

„Und ich gar niemanden. Hoffentlich bleibt es auch so.“

„Du hast einem Einbrecher in die Wade geschossen.“

„Ja, und heute geht es ihm wieder gut. Die Wunde ist verheilt und er sitzt hinter Gittern.“

Percy seufzte. „Na gut, komm, auf geht’s. Laut unserem Informanten sollen sich im Gebäude drei Personen aufhalten. Es könnten aber auch mehr sein.“

„Für einen Job wie diesen sollten wir eigentlich kugelsichere Westen haben.“

„Milten, eigentlich sollten wir eine Menge haben. Komm, bringen wir's hinter uns.“

Percy stieg aus.

Milten stand neben ihm auf dem Bürgersteig mit leicht glasigen Augen und Fusseln im Bart.

„Komm mal her“, sagte Percy und deutete Milten an, sich zu ihm herunterzubücken. Der ehemalige Erfinder und frisch gebackene Detective ging auf einem Knie vor Percy nieder. Dann zupfte ihm das Erdmännchen die Fussel aus dem Bart. „Ich glaube, was du brauchst, ist das hier.“ Percy nahm Milten in den Arm. Der wusste gar nicht, wie ihm geschah, seine Arme standen von ihm ab, während sich Percy an ihn drückte. Dann legte er dem Erdmännchen eine Hand auf den Rücken.

„Danke dir, Partner“, sagte Milten.

„Wir besorgen dir eine eigene Wohnung, Milten, das wird dich aufmuntern.“

„Das ist nicht nötig, wirklich.“

„Doch das ist es.“ Percy klopfte Milten auf den Rücken „Ich will meine Couch zurück.“ Milten musste wieder lachen, Percy löste die Umarmung auf. „Bist du bereit, ein paar Bösewichte in Angst und Schrecken zu versetzen?“

„Ja das bin ich“, sagte Milten.

„Es wird Zeit, dass du deine eigene Bleibe findest. Das wird dir helfen, ein eigenes Leben aufzubauen, dann kommt wieder etwas Bodenständigkeit auf. Und wir müssen dich dringend rasieren.“ Detective Percy Meercat zog seinen Revolver aus dem Holster. „Zieh deine Waffe, Milten, ich glaube nicht, dass die da drin allzu erfreut sein werden, uns zu sehen.“

Milten zog seinen eigenen Colt. Im Gegensatz zu Percy hatte er vier Schnelllader. Er trug immer zwei extra bei sich, nur für den Fall der Fälle. Und der kam manchmal schneller, als erhofft.

„Ich gehe voraus, du folgst mir. Verstanden?“

Milten nickte. „Das Gebäude steht schon seit einer Weile leer. Wir müssen vorsichtig sein.“

„Niemand würde hier zufällig einsteigen. Was für eine Bruchbude. Aber irgendwie scheint jemand von den Büchern Wind bekommen zu haben.“

„Kannst du glauben, dass wir nur wegen ein paar Büchern hier sind?“

„Bücher, Drogen, Fernseher. Ist doch völlig egal. Solange man es zu Geld machen kann, werden die Leute es klauen. Und die Booktian-Bücher laufen gerade gut. Also los, rein da. Quatschen können wir später auch noch.“

Die beiden Detectives liefen zur Drehtür des Bürogebäudes. Die Kette, die die Tür davon abhielt, sich zu drehen, war geknackt worden und lag auf dem Boden. Im Foyer war alles verstaubt, lediglich eine Spur aus Fußabdrücken führte von der Drehtür durch den Staub zum Aufzug. Hier hatte man die Kisten mit Büchern hochgeschleppt und im sechsten Stockwerk verstaut. Mehr als hundert Kisten mit mehr als tausend Exemplaren. Das waren aber auch schon alle Informationen, die man Milten und Percy zugespielt hatte. Es war kaum mehr als ein flüchtiger Anruf gewesen.

„Schon ungeheuerlich, oder?“

„Was meinst du?“, fragte Percy.

„Booktians Auflagen sind inzwischen so hoch, dass der Verlag leer stehende Gebäude anmietet, nur um die Bücher irgendwo zwischenparken zu können.“

Milten hatte recht, das war ungeheuerlich. Entweder das oder ein klarer Fall von Selbstüberschätzung. Verkauften sich wirklich alle diese Bücher? Wenn das Buch zu früh in den Umlauf geriet, drohten TailStripe Ltd., der Verlag, der die meisten Booktian-Bücher vertrieb, desaströse Umsatzeinbußen. Es brauchte nur einen Langfinger, der das Buch digitalisierte, und sogar die loyalsten Leser würden sich nicht mehr zurückhalten können, wenn das Buch vor der Veröffentlichung online ging. Ganz zu schweigen von den Kritikern, die das Buch schon vorzeitig durch ihren literarischen Darm treiben konnten. Die Bücher von Booktian waren beliebt, und dank seiner Angewohnheit, viel zu schreiben und zu publizieren, war er der erfolgreichste Autor der letzten fünf Jahrzehnte.

Milten hatte noch nie eines seiner Bücher gelesen.

Percy war mit ihnen aufgewachsen.

Mit gezogenem Revolver drückte das Erdmännchen den Knopf für den Aufzug. Der Pfeil, der nach unten zeigte, leuchtete auf und die Zahl der Stockwerke blinkte in absteigender Reihenfolge.

„Der Strom ist an, sehr gut.“

Der Aufzug öffnete sich, in der Ecke stand eine einzige Kiste. „Und die Idioten laden gerade die Bücher in den Aufzug, sogar noch besser.“ Percy drückte jedes einzelne Stockwerk und lief wieder heraus. „Komm mit, wir müssen uns beeilen. Wenn das Ding anhält und die Aufmerksamkeit der Diebe auf sich zieht, springen wir aus dem Treppenhaus und überraschen die Bande.“

„Clever“, merkte Milten an und folgte Percy ins Treppenhaus. „Du bist nicht auf die Schnauze gefallen, was?“

„Danke. Und doch, ich bin schon oft auf die Schnauze gefallen, aber ich bin jedes Mal mit einem neuen Trick in meinem Repertoire wieder aufgestanden.“ Vorsichtig kontrollierte Percy jede Wendung der Treppe. Nach und nach überprüften die beiden jedes Stockwerk des hohen Gebäudes. Sicher war sicher. Milten begann zu flüstern. „Ich hab mich mal etwas umgehört. Den Kritikern passt er so gar nicht, man verschreit Booktian als Möchtegern-Literat, der die Finger nicht von der Tastatur lassen kann. Er sei eine Modeerscheinung der Gegenwartsliteratur, die ihre besten Jahrzehnte in den Toplisten hinter sich hätte.“

„Woher hast du diesen gefachsimpelten Blödsinn?“

„Internet.“

Percy legte die Pfote gegen die Tür zur sechsten Etage. Überall konnte sich jemand verstecken und sie wussten noch immer nicht, wie viele sich eigentlich im Gebäude befanden. Das Erdmännchen presste sein Ohr gegen die Tür und lauschte. Mit einem Bing öffnete sich der Aufzug. Waffen wurden entsichert und mindestens zehn Schüsse auf den wehrlosen Aufzug abgegeben.

„Wer bringt Schusswaffen zu einem Bücherdiebstahl? Womit rechnen die denn?“

„Mit uns, Milten, sie rechnen mit uns.“

„Oh, ja, das macht Sinn.“

Percy hob seinen Revolver. „Bereit?“

„Bereit!“

Percy zog an der Tür, aber die ging nicht auf. „Mist. Abgeschlossen!“, fluchte er.

Aber das Rütteln an der Türklinke blieb nicht unbemerkt.

„Sie sind im Treppenhaus!“, rief eine Frauenstimme.

Milten zog Percy hinter die Betonwand. Keine Sekunde später knallten die ersten Kugeln gegen die Metalltür. Dann eine Ladung Schrot gefolgt von zwei Kugeln, die durch die Tür zischten.

„Mindestens drei Schützen“, sagte Percy.

Der Bleihagel hatte aufgehört. „Haben wir sie erwischt?“, fragte ein Mann.

„Tad, geh und sieh nach“, forderte die Frau ihn auf.

Ein junger Mann kam mit einer Schrotflinte im Anschlag auf die Metalltür zu. Er trat sie nach außen auf, inzwischen war das Schloss reichlich lädiert. Milten schaute zu Percy, der nickte. Blitzschnell hob Milten die Hände, als wollte er sich ergeben. Das würde die Aufmerksamkeit des Schützen auf sich ziehen.

Percy legte sich mit gezogener Waffe auf den Boden zwischen seine Beine.

Die Schrotflinte kam um die Ecke und zeigte auf Milten. Bevor Tad Percy bemerkte, hatte der ihn schon von unten ins Visier genommen.

„Lass deinen Prügel sinken und heb die Hände. Mein Partner macht es dir vor.“

Milten wackelte freundlich mit den Händen und grinste.

Tad riss die Schrotflinte auf Percy herab. Der drückte ab.

Ein Schrei hallte durch das Treppenhaus und Percy rutschte ein Stück nach hinten. Tad war vor ihm zu Boden gegangen, in seinem Schienbein steckte die Kugel. Blitzschnell nahm Milten die Schrotflinte an sich und zog ihn ins Treppenhaus, damit Tad nicht in die Schusslinie seiner Kollegen geriet.

„Hier spricht Detective Percy Meercat“, rief Percy durch die offene Tür. „Bei mir ist mein Partner, unten vor dem Haus stehen drei weitere Streifenwagen. Über dem Dach kreist ein Hubschrauber in Stellung. Es gibt keinen Ausweg, ergeben Sie sich!“

Milten senkte den Kopf und flüsterte: „Was? Aber wir sind doch ganz alleine.“

Percy gestikulierte ihm, die Klappe zu halten. „Das wissen die doch nicht.“

Für einen Moment sagte niemand etwas. Die anderen Diebe schienen über sein Angebot nachzudenken.

„Warum fordern wir eigentlich so selten Verstärkung an?“, fragte Milten weiter.

„Für ein paar Bücherdiebe? Wir schießen den anderen beiden noch ins Bein und setzen sie unten vors Gebäude. Dann rufen wir Verstärkung.“ Percy wandte sich wieder an die Schützen. „Also wie sieht's aus? Handschellen oder Plastiktüten?“

Als Antwort donnerten ein paar Kugeln ins Treppenhaus. Die beiden hörten, wie sich die Türen des Aufzugs schlossen.

„Wo gehen sie hin?“, fragte Milten.

„Na, sie versuchen abzuhauen, was sonst.“

Percy überprüfte die Wunde des blutenden Schrotflinten-Schützen und legte ihm Handschellen an. „Wir lassen ihn hier. Er blutet, aber nicht sonderlich stark. Milten, wir teilen uns auf, ich sehe oben nach und du unten. Entweder sie wollen über das Dach abhauen oder über den Haupteingang im Erdgeschoss. Wir dürfen sie nicht verlieren, verstanden?“

Milten nickte und rannte die Treppe hinunter.

Percy eilte nach oben Richtung Dach.

Milten hastete die Treppe nach unten. Mal nahm er zwei Stufen auf einmal, dann sogar drei. Schweiß trat ihm auf die Stirn und als er unten angekommen war, schoss er mit erhobener Waffe durch die Tür.

Unvorsichtig, aber voller Tatendrang.

Doch da war niemand. Das Foyer war leer und abgesehen von seinem Auto vor dem Eingang war weit und breit keine Spur von den Dieben. Sie waren also Richtung Dach geflüchtet. Und Percy war alleine da oben. Sofort machte Milten wieder kehrt, steckte seinen Revolver im Rennen in das Holster und sprintete so schnell er konnte die Treppe empor. Zwischen dem siebten und neunten Stock hörte er Schüsse. Percy rief etwas Unverständliches, dann wurde es still.

Als er das Dach erreicht hatte, atmete er schwer. Milten zog seinen Revolver und versuchte, die Kontrolle über seine Atmung wiederzubekommen. Wenn er gleich den Abzug drückte, kam es auf eine stille Hand an.

Milten atmete langsam ein und wieder aus. Ein und wieder aus. Dann spannte er den Hahn seines Revolvers und schritt die letzten Treppenstufen langsam empor. Die Tür stand halb offen. Vorsichtig, um auch ja keinen unnötigen Lärm zu verursachen, machte er die Tür vollends auf. Jegliches Knarzen konnte ihn verraten und das Feuer womöglich in seine Richtung lenken.

Die Tür gab die Sicht frei. Milten wurde bereits erwartet. Eine Frau hielt Percy ihre Waffe an den Kopf, bereit, ihn sofort zu erschießen. Sie hatte kringelförmige Ohren und von ihrem Bauch starrte Milten eine kleine Kreatur entgegen. Hinter ihr warf ihr Kollege die Kisten mit den Büchern auf ein benachbartes Dach. Die Frau drückte ihre Waffe fester an Percys Kopf. „Lass die Knarre fallen oder das Erdmännchen hat gleich ein Loch im Kopf.“

„Percy?“, rief Milten und zielte durchs Visier. Er wartete auf die Schussfreigabe.

„Nur wenn du dir sicher bist, dass du ...“

Der Abzug wurde betätigt, der Bolzen vollführte den Hammerschlag und die Kugel explodierte aus dem Lauf und setzte sich im Fleisch fest.

Percy konnte sich befreien. Die Angeschossene griff sich unter Schmerzen an ihren Bauch, die Pistole hing schlaff in ihrer Hand. Blut quoll aus dem Kopf der kleinen Kreatur hervor.

Percy sammelte seinen Revolver wieder auf und richtete ihn augenblicklich auf seine Angreiferin. „Ich meinte eigentlich, drück nur ab, wenn du sie auch wirklich erwischst.“

„Hab ich doch“, sagte Milten und zielte auf den anderen Bücherdieb, der die Hände sofort anhob. Eine schwere Kiste Bücher fiel ihm auf die Füße.

„Du hast ihr in den Bauch geschossen. Was, wenn sie aus Schreck abgedrückt hätte?“

„Hat sie aber nicht. Beruhige dich!“

Percy ließ seine Waffe sinken und drehte sich zu Milten um, der sofort seinen Revolver zwischen der Frau und dem Mann hin und her schwenkte.

„Ich soll mich beruhigen? Milten Greenbutton“, sagte er in ernstem Ton und stemmte die Vorderpfoten in die Hüfte. „Das ist genau das, was ich gemeint habe. Und ich bin's leid, wie dein gesetzlicher Vormund zu klingen, scheiße noch eins!“

Die Frau schrie vor Schmerz und riss ihre Pistole nach oben.

Ein Abzug wurde dreimal gedrückt und weitere Kugeln sausten über Percys Kopf hinweg in die Brust der Frau. Die taumelte rückwärts, und kippte über den Rand des Dachs in die Tiefe.

Milten zielte wieder auf den Mann, der immer noch mit erhobenen Händen da stand. Fassungslos sah er seiner Kollegin hinterher.

„Großartig, Milten“, sagte Percy, „einfach großartig.“ Das Erdmännchen warf die Vorderpfoten in die Luft. Dann verstaute er seinen Revolver.

„Sie hätte dich erschossen“, verteidigte sich Milten.

„Und deine beste Lösung dafür war, einfach draufzuhalten? Was wurde aus anschießen, aber nicht erschießen? Wir haben abgemacht, niemand einfach nur über den Haufen zu knallen.“

„Ich ... sie hätte“, stammelte Milten.

Percy gestikulierte ihm, sich zu entspannen. „Lass gut sein. Du hast ja recht. Trotzdem, jetzt ist sie für ein paar Bücher draufgegangen. Hey, Holzkopf“, sagte Percy zu dem Mann mit den erhobenen Händen, „hat es sich gelohnt?“

Er schüttelte wie wild den Kopf.

„Na, das will ich wohl meinen“, sagte Percy. „Leg ihm Handschellen an. Ich melde alles der Zentrale. Wir brauchen einen Krankenwagen und jemand mit einem großen Spachtel, der die Frau mit den runden Ohren von der Straße kratzt.“

„Was war sie, Percy?“

„Sah aus wie ein Autorus Fantasticus, ein Vielschreiberling. Die meisten von der Art verdienen ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Büchern und nicht mit dem Diebstahl solcher. Sehr merkwürdig. Hey, Kollege, wie hieß sie?“

„Sonia, Officer. Ihr Name war Sonia.“

„Arme Sonia“, sagte Percy und verließ das Dach, „das alles für ein paar Bücher, die sowieso bald im Laden stehen. Manche sind doch zu dumm.“

Nachdem Percy über Funk alles weitergegeben hatte, versammelten sich zahlreiche Blaulicht-Fahrzeuge vor dem Gebäude. Der angeschossene Dieb wurde vom Notarzt versorgt. Sein Komplize saß schon mit den Händen hinter dem Rücken im Streifenwagen. Milten wurde wegen des Gebrauchs seiner Dienstwaffe befragt und Percy betrachtete aus sicherer Distanz, wie Sonia von der Straße gehoben und in einen schwarzen Plastiksack gepackt wurde. In seiner Hand hielt er einen kleinen Pappbecher mit schwarzem Kaffee.

Die Nacht war lauwarm und bald vorüber. Genau wie dieser Fall.

„Alles in Ordnung?“, fragte eine tiefe Stimme von hinten.

Percy drehte sich um und erkannte Captain Joe Thursday, der Chef der Abteilung, der er und Milten unterstellt waren.

Sein Schnauzer war umgeben von einem stoppeligen Gesicht. Die Augen sprachen Bände über den Schlaf, den er bald nachzuholen hatte. Es war das Gesicht eines überpflichtbewussten Vorgesetzten, der um sieben ein- und um sechzehn Uhr ausstempelte, dann aber doch noch bis zehn Uhr in seinem Büro saß.

„Captain, was machen Sie hier?“

„Ich war zur Abwechslung mal auf dem Weg nach Hause, als ich über Funk erfahren habe, was hier vorgefallen ist. Als durchgegeben wurde, dass man dich als Geisel genommen hatte, wollte ich schnell vorbeisehen.“ Joe Thursday blickte sich um. Es war ihm wohl ein klein wenig unangenehm, in väterlicher Pflicht nach dem Wohlbefinden seiner Angestellten zu sehen, trotzdem kam er wohl einfach nicht drumherum. „Ich musste kurz herkommen, sonst finde ich die ganze Nacht keinen Schlaf.“

Percy lächelte matt und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Lieb von Ihnen, Captain, aber ich bin in Ordnung. Das war nicht das erste Mal, dass mir jemand eine Waffe an den Kopf gehalten hat.“ Percy seufzte. „Und es wird wohl auch leider nicht das letzte Mal gewesen sein.“

Der Plastiksack wurde in den Leichenwagen verladen, und ein zweiter Mann schloss die Türen hinter der Verstorbenen. Percy hatte schon viele Bestatter gesehen, die im Auftrag der Stadt unterwegs waren, aber diese beiden kannte er nicht.

„Eine Schande“, sagte der Captain.

„Das stimmt, aber er hatte keine Wahl.“

„Wusstest du, dass sie geschrieben hat?“

„Tun das nicht alle Vielschreiberlinge?“

„Wohl schon, aber die hier war eine ganz Besondere. Ich kenne ihren Namen. Sie hat in jüngeren Jahren Spaßkarten verfasst. Sie wissen schon, diese Dinger mit den lustigen Sprüchen, die man sich an den Kühlschrank hängt. Meine Frau und ich haben eine mit einem Hund, die sagt: „Wuffs going on?“ Der Captain lachte kurz auf. „Irgendwann gab es keine neuen Karten mehr, sie hatte einfach aufgehört. Wir haben immer mal wieder in dem kleinen Laden nachgefragt, der ihre Karten führte. Ihr Name hat mich sofort hellhörig werden lassen. Was sie wohl dazu bewegt hat, an so einem krummen Ding teilzunehmen?“

„Wir werden es herausfinden, Captain, zwei von dreien sind noch am Leben. Und bevor diese Nacht rum ist, werden wir sie ausquetschen.“

Joe schaute hinüber zu Milten, der sein Statement abgegeben hatte. Der Mann von der Internen Abteilung klopfte dem Detective auf die Schulter, klappte sein Notizbuch zusammen und ließ ihn alleine stehen. Milten schien nicht bemerkt zu haben, dass der Blick des Captains auf ihm haftete. Er lehnte sich auf eine Autohaube und legte sich die Hand über die Stirn, als wolle er sagen, ich habe genug für heute.

„Geht es ihm gut?“

„Um ehrlich zu sein, nein. Er hat ganz schön viel durchgemacht in den letzten Monaten. Hat zum ersten Mal Tote gesehen, war in einer Beziehung, die mit 100 Sachen gegen die Wand gefahren ist.“

„War es das erste Mal, dass er auf jemanden geschossen hat?“

„Das erste Mal mit Todesfolge.“

„Verdammt.“

„Der wird schon wieder, Milten ist ein zäher Kerl. Der verdaut das und steht morgen wieder da wie neu.“ Percy wusste, dass das gelogen war. Milten war weder zäh noch sonderlich gut darin, Dinge schnell zu verarbeiten. Die Trennung schleppte er seit Monaten mit sich herum. Sein Frust und seine Lustlosigkeit hatten sich in seinem vernachlässigten Äußeren manifestiert. Aber er würde bestimmt nicht den eigenen Partner schlecht aussehen lassen, erst recht nicht, wenn es sich dabei um einen Freund handelte. Percy schaute zu Milten hinüber. „Ich werde mich um ihn kümmern, Captain, machen Sie sich keine Sorgen.“

„Wenn du das sagst, Percy. Ich erwarte morgen einen ausführlichen Bericht.“

Percy ließ den Captain stehen und ging hinüber zu seinem Partner. Die ersten Streifenwagen fuhren schon wieder davon. Die Spurensicherung war abgeschlossen und die Bücher sichergestellt. Milten bemerkte das Erdmännchen, das ihm seinen Kaffee anbot. Er lehnte ab. „Percy, meinst du, dass ich morgen aufwachen kann und wieder glücklich bin? Ich fühle mich schon so lange ... unvollständig. Es ist, als ob mir nichts mehr Spaß macht. Kein Schluck, kein Schlaf, keine Berührung, nichts hilft. Ich bin andauernd unzufrieden.“

„Seh es mal positiv, absolute Zufriedenheit ist weitaus unangenehmer.“

„Wie meinst du das?“

„Was jedem zu spät bewusst wird, ist, dass das eigentlich Schöne das Verlangen ist, nicht die Befriedigung des Verlangens. Verstehst du, was ich meine?“

„Nicht wirklich.“

„O. k., pass auf. Sagen wir, du willst unbedingt deine Exfrau zurück, richtig?“

„Richtig!“

„Und genau darin liegt das Problem. Tief in deinem Inneren weißt du, dass es einen Grund gibt, warum ihr euch getrennt habt. Auf irgendeiner Ebene seid ihr nicht miteinander kompatibel. Und deshalb seid ihr nicht mehr zusammen. Wenn du sie wiederbekommst, wirst du, oder sie, irgendwann unglücklich und alles geht wieder erneut in die Brüche. Du verlierst also Zeit deines Lebens, in der du nach deinem eigentlichen Glück suchen könntest.“

Miltens Blick zeigte Einsicht.

„Glaub mir, Milten, überleg dir im Leben gut, was du willst. Zu viele wollen Geld und haben keine Ahnung, was sie damit eigentlich kaufen wollen. Andere suchen nach der perfekten Liebe, brauchen aber lediglich etwas Gesellschaft. Der ein oder andere wäre mit einem Hund oder einer Katze gut bedient. Körperliche Verlangen sind ... einfach zu stillen. Die wenigsten wissen, worin ihr Glück eigentlich besteht. Deshalb wissen sie gar nicht, wonach sie überhaupt suchen.“

Milten starrte auf den Boden. Percy erkannte, dass er zwar einiges erklärt, ihn dabei aber kein bisschen aufgemuntert hatte. „Was hältst du davon: Wir verhören jetzt die zwei, die du nicht erschossen hast, anschließend holen wir uns einen Burger?“

„Du bist gemein“, sagte Milten und lächelte.

„Na komm“, sagte Percy und winkte ihn zu sich. „Wir können uns die Hamburger auch gleich besorgen. Immerhin haben wir beide nichts zu Abend gegessen.“

„Was glaubst du, was hinter dem Diebstahl steckt?“

„Das Gleiche wie immer. Verzweiflung, Geldsorgen, Aussichtslosigkeit.“

Milten & Percy - Der Tod des Florian C. Booktian

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