Читать книгу Milten & Percy - Der Tod des Florian C. Booktian - Florian C. Booktian - Страница 8

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Das Surren des Rasierapparats schreckte Milten aus dem Schlaf. Percy saß auf seiner Brust, in der Pfote ein elektrischer Rasierer und er stutzte Miltens Rübezahlbart. Auf seiner Brust hatte er fein säuberlich ein Handtuch ausgebreitet, damit er auch ja keine Sauerei anrichtete. Immerhin war es seine Couch, auf der er Milten zurechtschnitt.

„Percy? Was zum ...?“

„So, fertig“, sagte Percy und schaltete den Rasierer aus. „Jetzt kann man sich wieder mit dir zeigen.“ Das Erdmännchen rutschte von seiner Brust auf den Boden und nahm eine Tasse Kaffee vom Wohnzimmertisch. Milten tastete sein frisch rasiertes Gesicht ab.

„Oh“, machte Percy und hob den Finger. Dann griff er hinter sich, nahm eine Flasche mit der Aufschrift: Teakholz der Ewigkeit – Herrenduft, goss sich zwei Tropfen auf die Pfote und rieb sie aneinander. Das Aftershave verbreitete einen hölzernen Duft.

Behutsam tupfte Percy seinem Freund den Duft ins Gesicht.

„Jetzt bist du perfekt. Du hättest dich wahrscheinlich schon selber rasiert, aber ich konnte nicht warten. Ich war vor dir wach und die Versuchung war einfach zu groß, diesen scheußlichen Bart selbst zu scheren. Ist gut geworden“, sagte Percy und betrachtete sein Werk. Er hatte Milten nur hier und da ein klein wenig geschnitten. Mit einem elektrischen Rasierapparat war das zwar nur schwer möglich, aber scheinbar war Miltens Haut genauso empfindlich wie der Rest von ihm. „Mir ist, als ob ich dich selbst in die Zivilisation zurückgezogen hätte.“

Milten lächelte. Er war froh, dass der Bart jetzt auf dem Handtuch unter ihm lag. Irgendwann war seine Gesichtsbehaarung derart außer Kontrolle geraten, dass sich seine Kopf- und Barthaare in eine abstruse Kombination vermischt hatten. Sie hatten sich miteinander verflochten und waren an anderen Stellen verwachsen. Er musste ausgesehen haben wie ein Höhlenmensch ohne Keule.

„Weißt du was, Percy, ich kann auf die Sekunde genau sagen, wann ich wieder zu mir gekommen bin.“

„Erzähl“, forderte Percy und nippte an seinem Kaffee.

„Als der Beamte mit mir gesprochen hat, nachdem ich die Frau auf dem Dach erschossen habe. Er war bei mir, nur weil er den sachlichen Verlauf festhalten musste, um sicherzustellen, dass ich nicht ohne Recht Gebrauch von meiner Dienstwaffe gemacht habe. Und dann war er wieder weg. Er hat seinen Zweck erfüllt und ist wieder gegangen, denn mehr hatte er mit mir nicht zu tun. Plötzlich habe ich gespürt, wie sich meine Prioritäten wieder neu geordnet haben, einige sind an ihren alten Platz gerückt, andere haben sich neu manifestiert. Da hab ich mir gedacht, es liegt ganz alleine an mir, wie lange Menschen bei mir bleiben und wann sie auf mich zukommen. Jeder erfüllt einen Zweck. Es muss dort draußen also noch jemanden geben, der auf mich zukommt, einzig und allein wegen ... mir. Verstehst du? Jemand Neues. Jemand Aufregendes. Verstehst du mich Percy?“ Milten setzte sich auf.

Nein, das Erdmännchen verstand ihn nicht. Er konnte nicht glauben, dass eine Belanglosigkeit wie das Gespräch mit einem Beamten von der Abteilung für Interne Ermittlungen Milten wachgerüttelt hatte. Percy verstand nicht, aber das war egal. Seinem Freund ging es besser und was immer er sich dafür in seinem Kopf aneinanderreihen und als Logik verkaufen musste, war ihm recht.

„Natürlich verstehe ich, Milten. Du gibst der Welt noch mal eine Chance!“

„Genau!“, sagte Milten und stand auf. Er klopfte sich die Falten aus der Hose und steckte sein Hemd richtig rein, denn wie in vielen vorangegangenen Nächten hatte er in genau den Klamotten geschlafen, in denen er auch den ganzen Tag über unterwegs gewesen war. Und so langsam konnte Milten sich selbst riechen. „Jetzt muss ich mich umziehen und frisch machen. Und dann ziehen wir wieder los, um ein wenig Gerechtigkeit auf den Straßen zu verteilen!“ Milten glättete seine ausgebleichte Krawatte. „Bitte entschuldige mich.“

Percy schüttelte den Kopf und schlürfte den Rest seines Kaffees. Er hatte ihm gefehlt, der optimistische Milten mit seiner überschüssigen Energie. Und jetzt war er endlich wieder da. Nachdem er den Bart losgeworden war, musste er nur noch den Rest von Milten woanders einquartieren. Aber alles zu seiner Zeit. Milten musste sich im Bad noch fertig machen.

In Miltens Fall war es mehr eine Restaurationskammer.

Percy hatte ihn nachts manchmal mit einem Spray eingesprüht, das unangenehme Gerüche beseitigen sollte. So ganz hatte es nicht funktioniert und manchmal verdrehten die Leute die Augen, wenn die zwei Detectives auftauchten. Der eine mit Sonnenbrille, der andere mit einem Bart, der wie ein wilder Efeu um seinen ganzen Kopf gewachsen war und der noch dazu aggressiv nach Lavendel und Zitrone roch.

Aber das sollte jetzt der Vergangenheit angehören.

Milten trat aus dem Badezimmer und sah aus, als hätte er gerade ein paar Runden in der Waschmaschine gedreht. Er hatte geduscht, die Kleidung gewechselt und sich die Haare sauber nach hinten gegelt. Die Schuhe gewienert, die Fingernägel gestutzt und ein schickes Lächeln aufgesetzt.

Sie machten sich auf den Weg zur Arbeit.

Unten im Wagen staunte Milten Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, wie Percy wohnte. Das Erdmännchen war ein guter Detective mit einem anständigen Gehalt und einem Ruf als unnachgiebiger Ermittler. Seit Milten zu ihm gestoßen war, hatte sich dieser Ruf noch weiter verfestigt. Wenn es um einen Fall ging, der hart zu knacken war, dann landete er bei Milten und Percy. Und obwohl sich Percy locker eine schicke Wohnung im gehobenen Teil der Stadt leisten konnte, da wo der Supermarkt nahe gelegen und die Nachbarn um zehn im Bett waren, bevorzugte er es, sich in einem heruntergekommenen Viertel niederzulassen, in dem es von Menschen und Daseinsformen aus Gnaa nur so wimmelte, die allesamt irgendwie, irgendwo zwielichtig waren.

Sobald sie einen Fuß aus der Haustür gesetzt hatten, beendeten zwei Nachbarn gegenüber ein Gespräch, warfen den beiden Polizisten bissige Blicke zu und gingen ihrer Wege. Im Treppenhaus lungerte ein Junge herum, der rauchte. Percy nahm ihm die Zigarette ab, zog einmal daran und gab sie zu Miltens Entsetzen dem Jungen zurück. Der strahlte. Was Milten nicht mehr mitbekam, war, dass Percy die Zigarette ganz heruntergezogen hatte und für den Jungen nichts mehr übrig blieb. Als sie weiter das Treppenhaus hinabgingen, hatte das Erdmännchen ihm den Raucher als Pablo vorgestellt. Einem Jungen, der zwischen dem falschen und richtigen Grad schwankte. Jeder noch so kleine Windstoß konnte ihn in die falsche Richtung kippen und deshalb bevorzugte es Percy, abzuwarten und erst dann einzugreifen, wenn er ihn um Hilfe bat oder in ernsten Schwierigkeiten war. Wer nie ins Feuer fasste, so Percy, der lernte auch nie, dass es heiß war.

Milten hatte an dieser Strategie so seine Zweifel. Pablo war höchstens fünfzehn. Percy hätte Pablo die Zigaretten abnehmen und ihm erklären sollen, dass Rauchen schädlich sei. Aber wenn er ihn darauf hingewiesen hätte, würde Percy ihn nur wieder ermahnen, dass man mit einer derart spießigen Art hier nicht weit komme. Das bekam Milten relativ oft zu hören. Im Erdgeschoss wurde Percy von mehreren gegrüßt. Mal mit einem Winken, mal mit Zurufen seines Namens. Das Erdmännchen war bekannt unter den Einwohnern und mit Sicherheit auch beliebt. Vor allem bei den weiblichen. Vor dem Ausgang des maroden Gebäudes stand eine Frau, die versuchte, ihr Alter mit zu viel Make-up und zu kurzer Kleidung zu kaschieren. Percy küsste sie, sagte „Guten Morgen“ und drückte sie kurz. Schon am ersten Tag hatte er ihm erklärt: „Das ist Trixi, die sieht zwar aus, als würde sie sich für Geld auf den Rücken legen, aber eigentlich ist sie eine Bibliothekarin, die zu Tode gelangweilt ist.“ Milten fand, dass die Frau ganz und gar nicht gelangweilt aussah, sondern verrucht und unsittlich.

Welche sich selbst respektierende Frau betonte schon gleichzeitig Brust, Lippen und Beine. Irgendwie musste er in seinen Gedanken ein Mittelding zwischen seiner spießigen Art und einem Milten finden, dem alles egal war. Sozusagen einen Middelton. Er musste einen lockeren, geduldigen Milten ins Leben rufen, der auch mal einfach Ja sagte, ohne sich allzu viele Gedanken zu machen.

Percy startete den Motor. „Du hast wieder darüber nachgedacht, dass Trixi zu freizügig rumläuft, stimmts?“

„Woher weißt du das?“

„Weil du es mir jedes Mal erzählst, wenn wir sie sehen, und weil ich dich gut kenne, Milten Greenbutton. Stell dich nicht so an, werd ein bisschen locker.“

Und da war der Spruch auch schon, wie bestellt.

„Wahre Schönheit kann auch bedeckt bleiben.“

„Verdeckt, Milten. Das richtige Wort ist verdeckt. Bedeckt sind nur Frauen, die sich von oben bis unten mit Stoff überziehen, als erwartete sie, demnächst in der Antarktis ausgesetzt zu werden, um mit den Pinguinen um den Fisch zu rangeln.“

Percy startete den Motor.

Er hat doch recht, dachte Milten. Ich muss einfach lockerer werden. Vielleicht finde ich dann jemand Neues. Vielleicht nimmt mich dann sogar Melody zurück, wenn ich ihr zeige, was für ein toller lockerer Typ ich geworden bin. Er schaute zu Percy hinüber und bemerkte, dass sein Partner ihn mit gestutzten Augenbrauen und einem finsteren Blick anschaute.

„Was ist denn?“

„Du denkst drüber nach, dich zu ändern und dann Melody zurückzuerobern. Stimmts?“

„Woher ...?“

„Gestehe!“, rief das Erdmännchen und zeigte auf Milten.

„Ja, schon gut“, sagte Milten und schüttelte den Kopf. Die beiden verbrachten wirklich fast jede wache Minute miteinander, das war wohl das Ergebnis davon: erlerntes gegenseitiges Gedanken- und Vermutungsdeuten.

„Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, vielleicht ...“

„Milten, Freund, Partner, Mitbewohner, der seit Monaten auf meiner Couch pennt und mich nachts mit seinem Duft und gelegentlich mit seinem Geheul aufweckt: LASS ES BLEIBEN!“

„Aber warum denn?“

„Damit du weißt, dass du es kannst.“ Percy lenkte den Wagen auf die Straße. Milten machte schon den Mund auf, um drauflos zu reden, aber nachdem Percys Worte durch seinen Gehirnkasten gewandert waren, trafen sie auf die Loyalität, die er Melody gegenüber pflegte. Percys Worte stellten seiner unerschütterlichen Treue Melody gegenüber einige unangenehme Fragen und sie löste sich vor Verzweiflung in Luft auf. Percy hatte recht. Er musste sich selbst beweisen, dass er noch die Kontrolle hatte.

Das Funkgerät rauschte und knackte, dann ertönte eine Stimme: „Wagen 25, bitte kommen.“

Milten nahm auf Autopilot den Funkspruch entgegen. „Hier Wagen 25, hören“, antwortete Milten und ließ die Sprecher-Taste los.

„Eure Unterstützung wird erbeten. 27th Mountain Drive. Ein 140er. Keglin und Mook haben um eure Anwesenheit gebeten.“

„Wir machen uns auf den Weg“, gab Milten durch und hängte das Funkgerät wieder auf.

„Na klasse“, sagte Percy, „eine Leiche zum Frühstück. Was die beiden wohl mit uns wollen?“

„Wer waren noch mal Keglin und Mook?“

„Die zwei in die Jahre gekommenen Detectives, in den in die Jahre gekommenen Anzügen in ihrem in die Jahre gekommenen Auto, die gerne darüber reden, wie viele Tage sie noch davon entfernt sind, endlich in den Ruhestand zu gehen.“

„Ach die!“, sagte Milten und lachte kurz auf. „Die beiden sind doch ganz lustig. Waren wir nicht bei der Geburtstagsfeier von Keglins Frau? Ja doch, jetzt erinnere ich mich. Du hast dich geweigert, mitzukommen, und auf der Heimfahrt hast du mir dann erzählt, wie sehr es dir doch gefallen hat, und dass du gerne öfters weggehen würdest.“

„Beim großen Papper, behalt das bitte für dich, ja? Mein Bedarf an sozialem Umgang ist gering. Und die Geburtstagsfeier hat ihn nicht nur gedeckt, sondern geradezu vollgestopft.“ Percy seufzte. „Aber es war ein netter Abend. Und ich hab noch immer die Nummer von Mooks Nichte, vielleicht sollte ich da endlich mal durchklingeln. Jetzt wo ich bald einen neuen Mitbewohner brauche.“

„Ziehe ich etwa aus?“, fragte Milten verdattert.

„Früher oder später, Milten, früher oder später.“

In der 27th Mountain Drive stand ein alter Ford und dagegen lehnten zwei alte Beamte. Der eine in einem braunen, der andere in einem blauen Anzug. Zwischen den beiden war nicht der geringste Hauch von farblichem Gleichgewicht zu spüren. Der eine, Keglin, war ein Mensch, der andre, Mook, ein Moschusochse. Unter seinem Anzug steckte ein üppiges Fell und seine Hufe in zwei spezial angefertigten Schuhen.

Keglin hatte lange weiße Haare und einen dicken Bauch, auf dem er locker eine Tasse abstellen konnte.

Mook hingegen war fast schon ungesund schlank und sein schwarzes Fell war von grauen Strähnen durchzogen. Percy fuhr bis zu den beiden vor und deutete Milten an, das Fenster herunterzukurbeln. „Guten Morgen. Wir sind auf der Suche nach zwei kompetenten Kollegen, die um unsere verehrte Anwesenheit gebeten haben. Sind diese zwei Kollegen etwa Sie?“

Mook beugte sich langsam zum Fenster herunter. Sein Mund bewegte sich von einer Seite zur anderen, er kaute einen Kaugummi und seine Augen starrten mit halb geschlossenen Lidern in den Mustang. „Morgen, Percy“, sagte er und nickte ihm zu. „Milten“, sagte er und nickte dem Erfinder zu.

„Morgen, Mook, wie geht es dir?“

Der Moschusochse ignorierte die Frage und kam gleich zum Punkt. „Parken. Aussteigen. Herkommen.“

„Natürlich, Schatz“, sagte Percy, rollte langsam davon. Mook ging kopfschüttelnd zu seinem Partner zurück. Keglin goss etwas Kaffee in den Deckel seiner Thermoskanne und bot dem Moschusochsen einen Schluck an.

„Weißt du, Milten, Mook ist eine rare Gattung.“

„Ich weiß, es gibt nicht mehr so viele Moschusochsen, die Anzüge tragen.“

„Das meine ich gar nicht. Es wird so viel unnötiger Mist geredet. Aber Mook hier, den hab ich noch nie ein unnötiges Wort reden hören. Du vielleicht?“

„Jetzt, wo du es sagst ...“

Percy parkte den Wagen sauber vor dem alten Ford und setzte so weit zurück, dass es ihren Kollegen unmöglich war, ohne umständliches Vor- und Zurückgekurbel auszuparken. Die beiden Detectives stiegen aus und liefen zu ihren Kollegen.

Keglin trank seinen Kaffee, Mook kaute seinen Kaugummi. Hinter den beiden befand sich eines der Wohnhäuser, in dem zu viele Familien auf zu wenig Platz untergebracht waren. Der Betonklotz ragte weit in den Himmel, und es war nicht das erste Mal, das hier die Polizei vor dem Haus stand. Das Dach des Gebäudes war in der ganzen Stadt beliebt, wenn es darum ging, ein schnelles Ende zu finden.

In der Regel waren es die Polizisten aus der Akademie, die dann aufräumen durften. Milten hielt Ausschau, aber er konnte keinen jungen Polizisten entdecken, der eine zerfetzte Leiche auf eine Trage sortierte. Er wollte schon entspannt seufzen, da kam ein junger Beamter aus dem Gebäude. Seine Uniform war aufwendig gepresst und prahlte mit jeder Bügelfalte. Miltens Augen suchten sofort wieder den Boden ab.

„Wie geht es dir, Mook?“, fragte Percy.

„Gut.“

„Und deiner Frau?“

„Gut.“

„Und was macht der Ruhestand?“

„Noch 438 Tage.“ Der Moschusochse lächelte, wodurch seine gelben Zähne unter der Oberlippe hervorrutschten. Sein Atem roch nach Grünzeug und Pfefferminz.

„Und dann ist Schichtende, und zwar für immer“, fügte Keglin hinzu.

„Was wollt ihr zwei überhaupt den ganzen Tag machen, wenn ihr Rentner seid? Wo steht ihr dann in der Gegend herum und tragt eure alten Anzüge auf und vor allem, was soll aus eurem Ford werden?“, fragte Percy und zeigte auf das mokkabraune Gefährt mit den braunen Roststellen, die über die ganze Karosserie verteilt waren wie ein Ausschlag.

„Eigentlich gehört der Cortina ja der Stadt, aber sie werden ihn an mich abtreten. Für so gut wie nichts.“

So gut wie nichts?, dachte Percy. Wie alt ist der Karren? 30 Jahre?

„Ist das nicht schon ein Oldtimer?“, fragte Milten.

„Natürlich, der ist jetzt schon fast vierzig Jahre alt, ist aber auch ein feines Wägelchen. Und wenn wir in den Ruhestand gehen, also dafür haben wir uns auf jeden Fall schon etwas überlegt. Ich zumindest.“

„Und du, Mook, was willst du machen?“

„Habe eine Bell UH-1gekauft. Bin am Renovieren. Fast fertig.“

Der junge Polizist, der bis grade eben der Unterhaltung geduldig beigewohnt hatte, ergriff das Wort. „Meine Herren, dürfte ich Ihnen den Tatort zeigen?“

Milten wandte sich nicht an den Uniformierten mit der Bügelfalte, sondern an Keglin: „Warum habt ihr uns eigentlich hergerufen?“

„Da unten sitzt eine alte Bekannte von euch. Ich glaube, die solltet ihr euch mal ansehen. Jemand hat ihr ... Er wird euch die Details nennen“, sagte Keglin und zeigte auf den jungen Polizisten. „Wir gehen jetzt erst mal frühstücken.“

Milten warf einen Blick auf seine Taschenuhr. „Es ist gerade mal halb sieben morgens, da geht ihr schon frühstücken?“

„Klar“, sagte Mook und öffnete die Beifahrertür des Ford Cortina.

„Wir sehen uns auf der Wache ihr beiden, bis später“, verabschiedete sich Keglin.

„Wenn Sie mir bitte folgen würden“, sagte der junge Uniformierte, der sich als Dan Rivierie vorstellte. „Die Leiche wurde vom Hausmeister gefunden“, sagte er und führte sie in den Keller. „Es handelt sich um eine Frau, die ich auf Mitte dreißig schätzen würde. Sie trägt einen pinken Hosenanzug, jedenfalls war er mal pink.“

Bei der Erwähnung des pinken Hosenanzugs klingelten in den Köpfen der beiden Detectives die Alarmglocken. Milten und Percy tauschten einen Blick aus.

„Die Haut der Leiche weist Blasen auf und der gesamte Körper ist geschwollen. Auf dem Boden ist eine widerliche Pfütze aus Flüssigkeiten, machen Sie sich also auf den Geruch gefasst. Ich würde sagen, dass die Frau seit mindestens drei Tagen tot ist, der Gerichtsmediziner wird uns Genaueres sagen können, sobald er eingetroffen ist. Der Hausmeister hat sie gefunden, als sie anfing zu stinken. Bitte, hier entlang.“ Dan Rivierie öffnete eine Türe und schaltete das Licht im Gang ein. Kleine Stellräume mit Holzgittern davor reihten sich aneinander, dahinter befand sich Gerümpel, das unter dem eigentlichen Wohnraum der Mieter gelandet war. Kisten mit Büchern, Kühlschränke, die vor sich hin brummten, und Kartons mit Dingen, die nie jemand vermissen würde, wenn sie von jetzt auf nachher verschwinden würden. In der Luft lag ein Geruch und während sich Dan Rivierie die Nase mit einem Tuch verdeckte, folgten ihm Milten und Percy, als könnten sie überhaupt nichts riechen. Der Gestank des Todes machte ihnen nichts aus, lediglich der Anblick war selbst für den abgebrühtesten jedes Mal aufs Neue ein Schock.

„Sie ist dort hinten, kommen Sie“, sagte Rivierie und ging voran. Die drei erreichten einen der Stellräume, vor dem ein Mann stand, der den Eindruck machte, als wäre er jetzt am liebsten ganz weit weg. In seinen Händen hielt er eine schwarze Seemannsmütze, die er sich vor die Latzhose hielt. Wohl aus Respekt vor der Toten. Sein Gesicht war kerbig, die Haut an seinen Armen von vielen Jahren auf hoher See rau und furchig.

„Das ist Herr Faison, er ist der Hausmeister des Gebäudes.“

Der Hausmeister nickte und zeigte auf die Leiche. „Hab sie so gefunden. Hing da wie ein Stück Fleisch zum Trocknen. Jemand hat sie schlimm zugerichtet, ganz schlimm.“ Er trat unruhig auf der Stelle hin und her.

Milten war klar, dass er sich nicht allzu wohl fühlte und mit einem Blick auf die Leiche wurde ihm auch klar, was Percy und er schon vermutet hatten.

Die Tote war Vanessa May. Die Bürgermeisterin von Sharpytown, die ihnen bei ihrem ersten gemeinsamen Fall begegnet war.

Ihr Körper war in den Keller gespannt wie ein groteskes Kunstwerk. Die Arme waren an den Gitterstäben befestigt und hingen in der Luft. Die Beine, jedenfalls das eine, das noch dran war, zeigte mit den Zehen nach hinten. Das Gelenk musste um 180 Grad gedreht worden sein, und zwar mit enormem Kraftaufwand. Der gesamte Körper war übersät von Stichwunden und ihr pinkes Oberteil hatte man abgeschnitten. Ihre Brüste waren in Blut getränkt worden. Die Haare mit getrocknetem Blut nach hinten gekämmt. Jemand hatte sich Mühe gegeben, sie genau so herzurichten. Aber das Schlimmste war der Ausdruck in ihrem Gesicht. Ihr Mund stand offen, irgendetwas steckte darin fest und ihre Augen starrten Milten und Percy an. Ihr Blick winselte noch immer um einen schnellen Tod, den sie wohl nicht erhalten hatte.

In ihrer Brust steckte ein Messer. Und hinter ihr, in großen Buchstaben, hatte jemand den Namen „Booktian“ an die Wand geschmiert. Das Blut der Schrift war an der Wand heruntergelaufen und getrocknet.

„Herr ...“, setzte Percy an, doch der Anblick der toten Vanessa schaltete sein Kurzzeitgedächtnis aus.

„Faison, Nelson Faison.“

„Herr Faison, wem gehört dieser Keller?“

„Sonia Kealy, hab sie schon ’ne ganze Weile nicht mehr gesehen. Ist viel unterwegs. Sie arbeitet als Taxifahrerin.“

„Sonia Kealy?“, wiederholte Milten. „Das ist doch die Frau, die ich gestern Abend erschossen habe.“

„Na, das wäre dann ja mal schnell geklärt“, sagte Percy. „Wir warten auf die Fingerabdrücke aus dem Labor. Wenn alles übereinstimmt, können wir diesen Fall wohl gleich ins große Archiv des Servers schicken.“

„Was steckt in ihrem Mund?“, fragte Milten und löste das Polizeiabsperrband vor dem Kellereingang. Das Band wurde grundsätzlich angebracht, um Neugierige vom Tatort fernzuhalten, die sonst wichtige Spuren verwischen würden.

Milten zog ein paar Plastikhandschuhe aus seiner Weste, streifte sie über und drückte Vanessa Mays Mund nach unten. Dabei achtete er darauf, nicht in die Lache aus Körperflüssigkeiten zu treten, die sich unter ihr angesammelt hatte.

„Kennt ihr die etwa?“, fragte der junge Polizist.

„Das ist Vanessa May. Sie war Bürgermeisterin in einer sehr angenehmen Stadt namens Sharpytown. Ich wusste, dass man sie aus der Stadt vertrieben hat, das war auch kein Wunder. Sie hat so einiges verdient, aber das hier“, sagte Percy und zeigte auf den Leichnam, „das hier ganz bestimmt nicht. Sie muss schreckliche Qualen gelitten haben.“

„Vanessa hat etwas im Mund, das aussieht wie eine Zeitschrift“, bemerkte Milten. „Man hat es zusammengerollt und ihr bis in den Hals gestopft.“

„Zieh es raus, ich glaube nicht, dass wir hier allzu großes Rätselraten betreiben müssen.“

Milten fasste das eine Ende des Magazins, das nicht von Blut und Speichel aufgelöst war und zog es aus dem Rachen. Dann entrollte er das Magazin, das sich als Buch entpuppte.

„Es ist ein Softcover-Buch.“

„Wie lautet der Titel?“

„Der kleine Schnitzelbär – Was sind Träume?“

„Was?“, sagte Percy entgeistert. „Das kann nicht sein.“

„Doch. Von Florian C. Booktian. Tz, der Typ hat seine Bücher wirklich überall rumliegen.“

„Er ist recht berühmt“, sagte Rivierie. „Ich lese gerade selbst eines, der erste Teil seiner zweiten Farbenwochen-Heptalogie. Die Bücher sind gut, sie handeln von ...“

„Danke, das wäre alles“, würgte Percy den jungen Polizisten ab. „Bitte gehen Sie wieder nach oben und halten Sie nach der Spurensicherung Ausschau.“

„Natürlich“, sagte Rivierie und ging davon.

Milten blätterte das Buch durch. Auf jeder Seite waren farbige Bilder und dazwischen etwas Text. „Ein Bilderbuch“, sagte Milten, „wieso würde eine erwachsene Frau so etwas lesen?“

„Wer kann schon sagen, was in den Köpfen der Leute vorgeht. Aber das Buch kenne ich, das hat mir schon meine Mama immer vorgelesen. Es handelt von zwei Bären, die herausfinden wollen, was Träume sind.“

Milten überlegte. „Meinst du, das ist so eine Sache, wo irgendein Fan, der die Schwelle zwischen Realität und Fantasie nicht mehr unterscheiden kann, durchgedreht ist und irgendeine Mordserie aus einem Buch nachahmt? Sein Name steht groß an der Wand. Möglich, dass er in Gefahr schwebt, das nächste Opfer zu werden.“

„Wenn es Sonia war, hast du sie auf jeden Fall schon aus dem Weg geschafft. Wäre das dann überhaupt noch so wichtig?“

Milten war es wichtig, denn das Warum war für ihn genauso wichtig wie das Wie. Er wollte wissen, was die Verbrecher antrieb, denen sie auf der Spur waren. Seiner Erfahrung nach konnte man jeden missratenen Trieb, jede Neigung zur Gewalt auf irgendetwas im Täter zurückführen, der die Straftat begangen hatte. Und die Ursache zu bekämpfen war wichtig. Auch wenn es oft unmöglich war. Aber dann konnte er zumindest einen ausführlichen Bericht schreiben und der würde vielleicht irgendwann helfen vorzubeugen und andere Ermittlungen zu beschleunigen.

„Ich glaub, ich spinne, spielst du da etwa an meinem Arbeitsplatz rum?“, rief ein Mann, der in einem weißen Ganzkörperoverall steckte. Mit schnellen Schritten kam er auf seinen gelben Gummistiefeln näher.

„Will Fleisher“, sagte Percy und steckte die Hände in die Hosentasche, „wie geht es dir, du alter Ganove?“

„Gleich besser, wenn du deinem schicken Partner sagst, er soll seine Hände von meinem Tatort lassen.“

Percy drehte sich zu Milten. „Partner, du sollst deine Hände von seinem schicken Tatort lassen.“

Der Erfinder stieg vorsichtig aus dem Keller, das Bilderbuch noch immer in der Hand und verpackte es in einen Plastikbeutel.

„Was hast du denn da?“, fragte Will. „Klaust du wieder Beweismittel?“ Er verrenkte sich den Kopf, um den Titel des Buches lesen zu können.

„Ja leck mich doch! Der Schnitzelbär, och das Buch ist aber süß. Ist das deine persönliche Ausgabe? Hast du dich gleich mal auf andere Gedanken bringen müssen, als du die böse tote Frau gesehen hast, Milty?“ Will lästerte gerne und ausgiebig und Milten stand dabei im Mittelpunkt.

„Das ist ein Beweisstück, hier“, sagte er und reichte Will Fleisher das Buch.

„Danke, Milty, ich hab jetzt leider keinen Lutscher dabei, du musst mir also versprechen, dass du nicht anfängst zu heulen, weil der Onkel Will dein Spielzeug mitnimmt, versprichst du das, Milty, ja? Versprichst du es?“

„Kann ich gehen?“, fragte der Hausmeister hinter ihnen.

„Aber natürlich“, sagte Milten und geleitete den Mann davon, die perfekte Gelegenheit, sich aus der Situation zu stehlen.

„Was musst du immer so an ihm herumpicken“, sagte Percy. „Er ist emotional instabil, da brauch ich nicht auch noch deinen Schwabbelhintern, der ihm Mist ins Ohr flüstert.“

„Oho, Entschuldigung, Detective Erdmännchen“, sagte Will und salutierte.

„Mach dich an die Arbeit.“

Will nickte und stellte seinen Koffer neben dem Keller ab. Er war zwar gelegentlich nervig, aber angesichts seiner Arbeit konnte Percy das auch verstehen. Will Fleisher rannte von einem Toten zum nächsten und da waren schon manchmal die übelsten Sachen dabei. Irgendwie musste er sich davon abhalten, irgendwann schreiend gegen eine Wand zu rennen, bis er selber zum Tatort wurde. Percy seufzte und rückte seine Sonnenbrille zurecht. Bis die Ergebnisse aus dem Labor zurück waren, gab es keine Sicherheit. Aber große Zweifel zu haben, lohnte sich hier nicht. Es war der Keller von Sonia Kealy und Milten hatte sie mit drei Schüssen über die Kante des Daches geschickt. Würde man sie vor Gericht stellen, käme zu schwerem Diebstahl auch noch Mord. Aber in diesem Fall blieb nichts außer einer Bürgermeisterin, die einen grausamen Tod gestorben, und einem Täter, der viel zu schnell abgetreten war. Arme Vanessa May, er musste unbedingt in Sharpytown anrufen und die Leute in Kenntnis setzen.

Vor dem Gebäude unterhielt sich Milten noch immer mit dem Hausmeister, der von seinen Abenteuern auf hoher See berichtete. Nelson Faison war jahrelang beim Fischfang zur See gefahren, bis seine Gesundheit ihn davon abgehalten hatte. Der erste Herzinfarkt hatte ihn über Bord stürzen lassen und er wär beinahe ertrunken. Beim zweiten landete er, während er Fische sortierte, kopfüber im Bottich. Und damit war er seinen Job los und wie er es nannte, auf das Festland verbannt worden.

Milten und Percy bedankten sich bei Faison, hinterließen eine Visitenkarte und nahmen ihm das obligatorische Versprechen ab, sich zu melden, sollte ihm noch irgendetwas einfallen.

Milten & Percy - Der Tod des Florian C. Booktian

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