Читать книгу Gummifisch zum Frühstück - Freddie Torhaus - Страница 3

Prolog

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Es brennt. Es brennt höllisch. Schweiß in den Augen ist an sich schon eine Tortur. Schweiß in Verbindung mit Salzwasser ist ein Fall für Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ein Mix aus Schweiß, Salzwasser, Restbeständen an Sonnenmilch, Fischblut und Leberwurst in die Augen gerieben, noch dazu selbst verursacht, ist indes der Inbegriff an Eigenverstümmelung und gehört mit Psychoanalyse nicht unter sieben Jahren bestraft. Ich Idiot hatte nichts besseres zu tun, als mit meinen kontaminierten Fingern in den Augen rumzureiben, Augen, die jetzt brennen, die jetzt schmerzen, die jetzt tränen. Um meinen Therapiebedarf muss ich mich jedoch ein andermal kümmern. Was bleibt mir auch anderes übrig? Seit Stunden bin ich auf dem Wasser, sitze im Boot, um mich herum die Zeichen von Kampf und Tod. Statt es mir im Warmen bei einer Tasse Tee gut gehen zu lassen, friere ich mir hier draußen den Arsch ab. Wieso bin ich noch hier? Was erwarte ich eigentlich noch? Was hat das alles noch mit Leidenschaft zu tun? Heute morgen, ja, da zeigte sich das Wetter noch gnädig. Eine leichte Bewölkung umgarnt von einer milden Brise sorgten für beste Bedingungen. Voller Vorfreude machten wir uns auf den Weg. Wir, weil ich den ersten Teil des Tages in Begleitung von Thorben und Steffen war. Später fraß die Sonne eine Wolke nach der anderen auf, von da an brannte sie uns gnadenlos auf die Köpfe. Anfangs, als uns die Sonne schien, waren wir noch fit. Und wir waren zuversichtlich. Selbst an Sonnenmilch war gedacht. Die Schirmmützen tief ins Gesicht gezogen saßen wir im Boot und angelten, angelten, bis uns erfolgreich die Arme abfielen. Genauer: Thorben und Steffen waren erfolgreich, mir fielen die Arme ab. Denn wie sich zeigte, hatte ich die berühmte Seuche am Knüppel. Zwei kleine Seelachse hatte Neptun für mich übrig. Pfannengröße. Es soll ja diese kleinen Pfannen geben, in denen Erdnüsse angebraten werden. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass es meine Kumpels nach Stunden zurück in die Hütte zog, ihre Kisten waren schließlich gut gefüllt. Ich hingegen wollte, ja musste was tun, ich war noch heiß, wollte mein Angelfieber weiter abangeln. Etwas mehr als Erdnusspfannenseelachse musste heute doch noch drin sein. Kaum war ich allein machte die Sonne Feierabend. Typisch war, dass das Wetter erneut ins andere Extrem umschlug, mir sein hässliches Gesicht zeigen musste. In diesem Land werden keine halben Sachen gemacht. Diese Erkenntnis blieb mir nicht erspart. Von Stund an war es diesig und klamm. Die Temperatur fiel um gefühlte zwanzig Grad, feiner Nieselregen benetzte mich, das Boot, alles, was mich umgab, alles und jeden, der dämlich genug ist, sich bei solch einem Wetter draußen rumzutreiben. Noch dazu auf dem Wasser, noch dazu in Norwegen. Um den inneren Ofen ein wenig anzufeuern erinnerte ich mich eines zur Geburt des Tages geschmierten Wurstbrotes. So aß ich, lecker Leberwurst, mit leichtem Fischaroma. Schließlich der Blackout, der mich dazu trieb, die juckenden Augen mit meinen besudelten Fingern zu reiben. Jetzt sitze ich da. Habe einen der Erdnussfische an eine selbstgeknüpfte Montage getackert, wenigstens als Köderfisch soll er heute noch gut sein. Tief unter mir flattert er in der Dunkelheit vor sich hin, mir bleibt die Hoffnung, dass sich doch noch einer der großen Räuber seiner und letztlich meiner erbarmt. Habe die Rute vor mich auf den Bootsrand abgelegt, mich eingerollt in meinen Anzug, sitze da wie ein Rollmobs. Regenwasser tropft vom Rand meiner Kapuze auf die Multirolle, die stumm auf ihre Arbeit wartet. Überlege, was ich mit meinen ehemals juckenden, nun brennenden und tränenden Augen machen kann. Um mich herum ist alles verschwommen. Schließlich versuchen meine Augen, einen halben Supermarkt aus sich rauszuspülen. Und dann sollte es beginnen. Für Dinge, die wir uns nicht erklären können, haben wir eine Menge mehr oder weniger intelligente, anschauliche, nachvollziehbare, aber auch vollkommen sinnfreie Erklärungen zurecht gelegt. Instinkt, Intuition oder Eiweißmangel sind nur einige davon. Ob mich eine jener Kräfte befähigte, ausgerechnet in diesem erbaulichen Moment als durchweichte, bibbernde Heulsuse das leichte Nicken der Rutenspitze wahrzunehmen, wird sich mir nie erschließen. Dem ersten Nicken folgte ein zweites. Sofort war sie wieder da, die innere Erregung, die so gar nicht zu dem übrigen müden Körper passte. Ich knickte beide Hände nach vorne ab und wischte mir mit den Handballen ein weiteres Mal über meine malträtierten Sinnesorgane. Ich musste was sehen können, richtig sehen können, irgendwie. Und ich sah. Da war wirklich ein Nicken, ein Zupfen, deutlich, da, und noch eins. Schließlich geschah, wovon ein jeder Meeresangler träumt: die Rutenspitze verneigte sich langsam nach unten. Ich hielt es für angebracht, den Anschlag zu setzen. Ich umklammere meine Rute, spüre den von Nässe und Kälte durchdrungenen Griff, den Schmerz, der sich durch meine klammen Finger bahnt. Erst die Augen, jetzt die Finger, im Grunde genommen tut mir alles nur noch weh. Aber darauf nehme ich keine Rücksicht. Dazu bin ich nicht hier, um jetzt aufzugeben. Ich muss ihn überwinden, diesen Schmerz, der danach ruft, die geschundenen Hände in die wärmenden Taschen zu stecken, die Glieder zu massieren. Ich muss ihn überwinden, diesen Wunsch nach der Tasse mit heißem Tee. Nein, um ihn muss ich die Hände legen, um diesen kalten starren Kohlefaserstock. Er wird zu meinem kalten, müden Arm, ihn reiße ich mit einem kräftigen Ruck nach oben. Rrrrumms....der sitzt! Nur den Bruchteil einer Sekunde später verneigt sich der Blank meiner Bootsrute endgültig Richtung Boden, nur, das dort kein Boden war. Fürs erste zumindest nicht, dazu muss erst ein Weg von zweihundertachtzig Meter Meereswasser durchkreuzt werden. Zweihundertachtzig Meter tiefer war jemand gar nicht darüber erfreut, diesen Weg in die genau umgekehrte Richtung antreten zu müssen. Rrrummmms, da wieder, ein Schlag in der Rute, noch fester greife ich zu, der Kreuzschlitz am Rutenende steckt sicher im Gimbal. Eine wunderbare Erfindung um einem das Angeln auf dem Nordmeer etwas zu erleichtern, etwas den Rücken zu schonen. Aber wo ist da noch der Unterschied, nach sechs Stunden auf der See, nach sechs Stunden kurbeln und pumpen, sitzend auf einem Kunststoffbrett. Das ehemals der Bequemlichkeit dienende Kissen längst von diversen organischen Materialien durchtränkt in der Fischkiste wähnend. Ich lehne mich langsam an die Bordwand, um meinem neuen Freund etwas Widerstand zu bieten. Vorsichtig, nicht zu weit, jetzt das Gleichgewicht zu verlieren wäre fatal. Ich bin allein auf dem Boot, habe mich entgegen aller Vernunft noch einmal auf den Fjord begeben, wollte es wissen, es musste unbedingt sein. Ich hatte noch nicht genug und das Schicksal hatte noch eine Karte für mich im Ärmel. Eine gewaltige Karte. Dieser Karte, dieser Fisch zieht und zerrt und ich stemme mich dem gewaltigen Zug entgegen, allein, von Wind und Wellen und Regen umgeben. Allein, allein mit ihm.

Ein Rrrrumms in der Angelrute darf man sich natürlich nicht im phonetischen Sinn vorstellen. Wer aber jemals eine Angelrute in der Hand hielt, als ein Monster von Fisch den Köder nahm, sich die Hakenspitze in sein Fleisch bohrte und er im selben Moment alle Sinne seines Wesens nur darauf ausrichtet, sich dieses lästigen, schmerzhaften Etwas zu entledigen, wer das einmal erlebt hat – die Rute in der Hand, nicht den Haken! – der weiß, dass man diesen Augenblick nur mit einem lautmalerischen Rrrrummms beschreiben kann.

Jetzt heißt es, einen einigermaßen klaren Kopf zu bewahren. Der Fisch versucht, wie verrückt Schnur von der Rolle zu ziehen. Das zu gestatten wäre fatal. Ich habe eine Ahnung, mit wem ich es hier zu tun habe, und sollte ich richtig liegen, wird dieser Kamerad alles daran setzen, sich in einer der unzähligen Felsspalten festzusetzen. Ist die Bremse meiner Multirolle richtig eingestellt? Hätte ich vergessen, sie zu lösen, wäre mir längst die Schnur, wenn nicht gar die ganze Rute um die Ohren geflogen. Kurzer Prozess, kurzes Knack. Die Bremse darf aber auch nicht zu weich eingestellt sein. Soll es ihm doch Arbeit bereiten, mit dem Schlepptau seine Bahn zu ziehen. Ich fingere kurz an dem Rädchen, eine kurze Umdrehung nach vorne stellt sie fester, nein, war es eine kurze Umdrehung zu mir? Ich starre ungläubig, erregt – von wegen klarer Kopf – schwitzend und bangend auf die Spule. Er kämpft und windet sich mit schier unbändiger Kraft in dem Wunsch, auf das die Rolle Meter für Meter Schnur von sich wirft, auf die Reise schickt, hinab in die Tiefe, hinab zu ihm.

Als Angler fängt man in seinem Leben Fische. Dies sollte man zumindest annehmen dürfen. Vielfach besteht die Realität am Wasser daraus, die Kopfrute anzuheben um ein handlanges Rotauge in die handlange Hand gleiten zu lassen. Doch irgendwann wird der Fisch dabei sein, von dem man schon immer träumte, auf den man mehr oder weniger geduldig wartete. Nur wenige dürfen ihn erleben. Wer in seinen Genuss kommt, in seinen Bann genommen wird, muss erfahren, dass dieser Fisch seine eigenen Gesetze entwickelt. Diese Gesetze wollen gekannt, wollen erkannt, wollen erfühlt werden. Fatalerweise hat man kaum die Möglichkeit, sich auf dieses, meist vollkommen unerwartete Ereignis vorzubereiten. Seelisch kaum, moralisch, vergiss es, technisch vielleicht – kurz, wenn der beschuppte D-Zug erst mal in Fahrt ist, ist alles zu spät. Dann heißt es nur noch genießen. Und sich kräftig in die Hose scheißen. Ist es doch ein Fisch, dessen Konterfei auf Hochglanzpapier im Vierfarbdruck verewigt im Spind gleich neben dem der drallen Susie aus Oberstdorf hängen wird. Und man erlebt diese Auseinandersetzung, diesen Kampf, diesen ultimativen Drill. Eine anglerische Klimax, vielleicht einmalig im Leben eines Anglers und schon gar nicht beliebig reproduzierbar. Kein Replay, keine Fernbedienung.

Langsam wird der Schmerz in den Fingern unerträglich, die Muskeln im Oberarm pochen, lehnen sich auf gegen diesen letzten Akt aus Kraft und Lust und Wut.

Eines dieser besonderen Gesetze ist das Erleben der Zeit. Echtzeit fünfzehn Minuten, gefühlte Zeit drei Stunden. Ein anderes Gesetz ist das der Panikattacke. Sie springt einen Angler mitunter wie ein hospitalisierter Zirkuspuma von hinten an. Kommt genauso plötzlich, wie zwanzig, dreißig, zweihundertachtzig Meter entfernt am Ende der Angelschnur der Tanz der Tänze beginnt. Hat man den Panikpuma erst einmal im Genick, ist es meist zu spät. Er hat sich längst im Nacken festgekrallt, reingebissen in den Hinterkopf, sitzt mit seinem fetten Hinterteil auf den schmerzenden Schultern und sabbert einen mit seinem Panikspeichel voll. Es ist verflucht schwer, ihn wieder los zu werden, während sein Gesabber langsam aber sicher das eigene Denken infiltriert: »Habe ich auch die Knoten überprüft?!«, »Habe ich die richtige Schnurstärke gewählt?«, »Habe ich heute morgen die Kaffeemaschine ausgeschaltet?!«

Der Wind hat ein wenig zugenommen, ich schätze sechs, sieben Meter pro Sekunde. Hätte mir noch gefehlt, ich bin hier mit meinem Freund beschäftigt, während mal eben das Wetter umschlägt. Wind, Sturm, Monsterwellen. Noch gelingt es mir, mich zu beruhigen. Ich befinde mich mitten auf dem Fjord, besser, im Fjord. Inshore, wie es unter den Experten heißt. Von mir aus sind es noch gute drei, vier Seemeilen bis zur Fjordmündung, der offenen See mit dem davor gelagerten Schärengürtel.

Die Schärengürtel Norwegens. Dutzende kleine Inseln, hinter denen man sich als Angler samt Boot bei aufkommenden Wind verstecken kann. Kleine Buchten aufsuchend, um vielleicht doch noch den ein oder anderen Seelachs zu überlisten. Von hier aus erstreckt sich die weite, freie See. Die See, das Meer, »la mer.« Spätestens seit der Titanic ist es eine weit verbreitete Erkenntnis, das mit der See im allgemeinen nicht zu spaßen ist. Dazu muss man sich aber nicht auf halben Weg nach Amerika befinden. Schon die See, wie sie sich in küstennahen Gebieten darstellt, hat durchaus ihre Tücken. Das ist umso bedauerlicher, wird man doch angesichts des nahen Ufers nur allzu schnell in mitunter tödliche Sicherheit gewogen. Dies trifft auch für die Küstengewässer Norwegens zu. Hier sind es die aus den Fjorden heraustretenden Wassermassen, welche abhängig von Wind und Tide angesichts der an eine Mondlandschaft erinnernde Bodenbeschaffenheit sowie den ihnen im Weg stehenden Inseln immer wieder umgelenkt werden und somit für manch nasse Turbulenz sorgen. Verstärkt wird dieser Effekt durch die für den gemeinen Bootsangler unangenehme Eigenschaft der Fjorde, dass ihr Grund sehr schnell aus mehreren hundert Metern Tiefe bis auf wenige Meter ansteigt. Diese Strömungen treffen nun mit der See von der Felsenküste zusammen. Die auf der Wasseroberfläche erzeugten Wellenbilder stoßen wie der Bangkoker Feierabendverkehr mit voller Wucht aufeinander. Es entstehen sogenannte Kreuzseen, die jedem Seebär den Angstschweiß in den Rollkragen laufen lassen. Diese Kreuzseen sind tückisch, sie sind gefährlich. Innerhalb kürzester Zeit können ihre Wellen Höhen von bis zu drei, vier Metern aufweisen. So erzeugen beispielsweise die Strömungsverhältnisse im Skagerak schon bei mittleren Windstärken im Handumdrehen Wellen, die einem vom rauhwassergeeigneten Kutter aus betrachtet ein müdes Grinsen ins Gesicht zaubern. Befindet man sich zu diesem Zeitpunkt allerdings in der kleinen Schwester vom Kutter, vergeht einem das Grinsen ganz schnell. Kreuzseen verlaufen extrem unregelmäßig, was ein sicheres in die Welle stellen der kleinen Schwester fast unmöglich macht. In ihrer Gier nahm die See schon allzu oft kleine, meist von unerfahrenen oder allzu risikofreudigen Angeltouristen besetzte, untermotorisierte Boote als Appetithappen in sich auf. Das eigene Boot wäre nicht das erste, das nach Tagen hoffnungsvollem Wartens einer Nussschale gleich auf die Felsen aufschlägt, bisweilen sogar bis an die dänische Küste gespült würde. Selbst im scheinbar sicheren Fjord ist Vorsicht geboten. Immer wieder werden Angler beobachtet, die ohne Schwimmweste bekleidet auf einem vierzehn Fuß langen Böotchen stehend mit 700g schweren Pilkern um sich schleudern. Schlägt jetzt innerhalb von Minuten das Wetter um, kann sich auch hier eine biestige Welle aufbauen, in deren Folge es allzu häufig zu bösen, nassen und im Extremfall tödlichen Überraschungen kommen kann. Wie der Angelausflug in einer solchen Situation ausgeht, hängt nicht selten vom jeweiligen Angstpegel der Protagonisten ab. Ist man, während sich über einen dunkle unheilverkündende Wolkenberge auftürmen, gerade mit dem Drill eines kapitalen Fisches beschäftigt, reicht es bei niedrigem Pegel meist aus, die Ruhe zu bewahren. Ist der Pegel indes hoch, bietet es sich an, seinem Angelkumpel die Rute in die Hand zu drücken, sich auf dem Boden des Bootes zusammenzukauern und drei »Ave Maria« zu beten. Gerne wird hierbei auch Daumenlutschen zur Hilfe genommen. Eine ganz feine Erfahrung ist es auch, macht die Reißleine des Außenborders ihrem Namen auf unvorteilhafte Art alle Ehre, noch dazu in der Stunde eines Wetterumschwungs. Dann hat auch der Unerschrockenste guten Grund, nervös zu werden. Gesteigert kann der Blutdruck eigentlich nur noch durch die anhängige Erkenntnis, dass man zu alledem auch noch die Ruder am Steg hat liegen lassen. Dann hilft oft nur der Griff zum Handy. Vorausgesetzt, diese kleine Errungenschaft leistet nicht den Rudern auf dem Steg Gesellschaft. Ist dem so haben sich Beten und Daumenlutschen bewährt. Am fatalsten kann sich aber auswirken, kam es, während sich der Wind noch vor Grönland rumtrieb, zur schlimmsten Todsünde auf dem Meer. Stichwort: Hoch die Tassen. Prosit. Skol. Alkohol an Bord ist Mord. Mord an sich und Mord an anderen. Ein Mord auf Raten. Häufig geht es gut, aber oft genug spielt auch das Wetter mit. Dann befinden wir uns in der Kategorie Dummheit. Dreht jedoch der Wind auf, rutscht man genauso schnell in die Kategorie Sünde, in deren Folge man beduselt zwischen leergesoffenen Bierdosen auf dem Boot umherstolpert um noch schnell den Driftanker einzuholen. Da zischen Pilker wie Mörsergranaten durch die Luft, wird sich beim entwaiden gleich noch der Zeigefinger abgehackt, landen Drillinge statt im Wasser in der Unterlippe. Wie im Straßenverkehr sind es auch beim Bootsangeln oft genug die Nüchternen, die auf diese Weise unfreiwillig zu Schaden kommen. Richtig gruselig wird es auf Booten, auf denen es niemanden mehr gibt, der sich guten Gewissens nüchtern nennen dürfte. Ihren Witwen kann man zum Trost höchstens mitgeben, dass ihre Mannen im Fall der Fälle mit einem lustig´ Lied auf den Lippen abgesoffen sind. Vorausgesetzt, der Drilling ließ das singen zu.

Allein im Jahr 2000 sind vor der dänischen Insel Ærö zehn Angler tot aus dem Wasser des Kleinen Belt gezogen worden. Acht von ihnen hatten Alkohol im Blut, von diesen acht hatten sieben einen offenen Hosenschlitz...

Ich versuche, die Gedanken an Wind, Wellengang und die Kraft der Tide wegzuschieben und will mich wieder auf die unter mir tobende fischige Naturgewalt konzentrieren. Wenn ich es zuließe hätte er mir mittlerweile einhundert Meter Schnur von der Spule gezogen. In diesem Fall wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als dem gleichmäßigem Surren der arbeitenden Mechanik zu lauschen. Diesen Triumph darf ich ihm nicht gönnen, hier ist gegenhalten angesagt. Die Bremse der Rolle gibt kaum Schnur frei und so stemme ich mich nach wie vor dem Druck entgegen, und er übt Druck aus, oh ja. Ich versuche, die Rute aufrecht zu halten, während sich der Blank ehrfurchtsvoll gen Wasser neigt. Dadurch bleibt die Schnur straff, was in diesen Sekunden, Minuten, Stunden entscheidend für den Ausgang des Schauspiels ist. Hängt die Schnur durch, reicht ein Köpfschütteln meines Kontrahenten und zurück bleiben ein mit dem Schrecken davon gekommenes Wirbeltier und ein dem Herzinfarkt sehr nah kommender Wirbelmensch.

Täusche ich mich? Nein, der Zug wird schwächer, ja, jetzt ist es ganz deutlich zu spüren, seine Reise beginnt. Viel hätte er auch nicht mehr an Schnur, Rute und Mensch zerren und ruckeln dürfen. Eine einzige Schwachstelle würde ausreichen um dem Spiel ein Ende zu bereiten. Ich müsste mit Entsetzen auf die verstummende Rolle starren, während er für den Rest seines Lebens mit dem längsten Stück Zahnseide der Welt von dannen schwimmt. Noch aber hält das Material. Im Gegenteil. Der schwächer werdende Zug zeigt mir, dass der Zeitpunkt gekommen ist, wieder Schnur aufzunehmen. Schließlich gilt es ihm zu beweisen, an wessen Rute er hängt. Einfach mit meiner Schnur abhauen wollen. Dir werd ich es zeigen! Meine rechte Hand fühlt sich an, als sei sie schon am Rutenblank festgefroren. Ich verstärke nochmals den Druck. Ich befürchte, dass es wehtun wird, aber der erwartete Schmerz bleibt diesmal aus. Die Befeuerung bleibt in meinem neuronalen System auf halben Weg stecken, die große Murmel hat sich um Wichtigeres zu kümmern!

Nein, für Schmerzempfinden scheint nicht der richtige Zeitpunkt, jetzt muss gekurbelt werden, gezogen, gestemmt, gehalten. Sollen mir die Finger doch abfallen. Pah, zur Not beiße ich in die Rute, halt sie mit den Zähnen fest, und wenn es das letzte wäre, was sie zu tun bekämen. Dich gebe ich nicht mehr her, nicht weil so ein paar lächerliche Finger nach »Aufhören, aufhören« rufen. Eiswürfel pinkeln kann jeder, der lange genug die Klöten in den Wind hält, aber dich zu bändigen, dich zu kriegen, das ist eine ganz andere Geschichte! Der Griff der Rollenkurbel liegt gut in der Hand, der linken, die auch nach Aufhören schreit, unerhört schreit. Langsam senke ich die Rute und kurbele die dabei frei werdende Schnur auf, Stück für Stück, Zentimeter um Zentimeter. Noch eine Umdrehung, so ist es gut. Schon durchschneidet die Rutenspitze die ersten Wellen. Nun kommt es darauf an. Wird er den kommenden Zug spüren? Ich hebe die Rute, sachte, gleichmäßig. Ich rede mit mir, bleib cool, das machst du gut. Ich halte die Rute fest, erwarte jeden Moment eine erneute Explosion. Doch er bleibt ruhig. Schließlich senke ich die Rute und kurble dabei die ersten Zentimeter Schnur auf. So geht es weiter, Meter für Meter. Hoch die Rute, runter die Rute, Schnur aufkurbeln, hoch die Rute, runter die Rute, Schnur aufkurbeln. Die Rolle läuft rund, das ist ein gutes Zeichen. In meinem Kopf herrscht nur noch gefühlte Zeit. Ich spiele in meinem eigenen Film mit. Ein Film, komplett gedreht in Zeitlupe, abgespielt in Zeitlupe. Ich werde zur Zeitlupe. Ich spüre die Schwere, die sich langsam, unendlich langsam zu mir erhebt, ein Meter, zwei, drei, zehn. Da plötzlich ein Schlagen, die Rute erzittert, meine Hand verkrampft, hat sich in diesen Knüppel gekrallt. Ich halte inne, warte ab. Er versucht, den Haken abzuschütteln, hat er neue Kraft getankt? Ihn zieht es wieder nach unten, hinab, zurück in die sichere Tiefe. Doch dieser zweite Fluchversuch ist nicht mehr so vehement wie sein erster. Kann ein Fisch Verzweiflung spüren? Dort unten, in der alles umschließenden Dunkelheit? Wenn ja, wird er dieser sehr nahe sein. Er kämpft und ruckelt, aber die Muskeln lassen ihn langsam im Stich. Der Haken sitzt tief und er sitzt sicher. Wieder steige ich in den Rhythmus ein - hoch die Rute, runter die Rute und kurbeln - so gleichmäßig wie möglich, wie es meine Anspannung nur irgendwie zulässt. Ich fange an zu singen. »Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste, johooho, und die Buddel voll Rum....«. Ich sitze da, versuche diesen ungeheuren Fisch zu mir zu ziehen – hoch die Rute, runter die Rute und kurbeln - bin verschwitzt, von beiden Schläfen fließt mir in feinen Rinnsälen erneut Körperwasser in die Augen, entfachen das Brennen zu neuer Stärke. Diese Marter nehme ich auch noch hin. Ich bin am zittern, ziehe und kurble und singe einen alten Chanty aus Kindertagen. Aber das singen hilft. Hilft, meine Gedanken zu sammeln, hilft, mich langsam in einen tranceähnlichen Zustand zu versetzen– hoch die Rute, runter die Rute und kurbeln. Ich weiß, dass es noch nicht geschafft ist, dass noch viel passieren kann. Wir sind noch nicht am Ziel. Ich schätze, dass ich an die dreißig Meter Schnur zurückgeholt habe auf meine Rolle. Bald beginnt für uns ein neues Kapitel.

Aufgrund der sich stetig verändernden Druckverhältnisse fangen bei einem Fisch, der aus großer Tiefe hochgeholt wird, die Eingeweide an, verrückt zu spielen. In Fachkreisen spricht man von der sogenannten Trommelsucht. In diesem Fall breitet sich die Schwimmblase derart aus, dass sie dabei den Magensack von seinem angestammten Platz verdrängt. Da der gute alte Magen aber irgendwo hinmuss, sucht er sich den Weg des geringsten Widerstandes. Das ist in diesem Fall der Weg durch den Schlund. Der Magen quillt förmlich aus ihm raus. Dies hat zur Folge, dass der Fisch nicht mehr nach unten schwimmen kann, selbst wenn er dafür seine gesamte Fischbrut hergeben würde. Fairer Weise sei anzumerken, dass letztere Vorgehensweise eine doch eher dem Menschen inhärente ist. Zurück zur Physik. Schwimmblase und Magen bewirken sehr zum Leidwesen des betroffenen Fisches den Effekt eines Heißluftballons. Er steigt. Für den Angler bedeutet dieser Moment, dass er darauf zu achten hat, die Schnur stetig straff zu halten. Treibt der Fisch weiter gen Wasseroberfläche, löst sich die Spannung der Schnur. Wird diese nicht eingekurbelt, reicht dem Fisch schlimmstenfalls ein Nicken mit dem Kopf und der Haken fällt aus der weichen Maulpartie förmlich heraus. Es gibt Fälle, in denen solche, von der Trommelsucht befallenen, Fische hilflos auf der Wasseroberfläche treiben, nachdem sie sich doch noch im letzten Moment vom Haken befreien konnten. Dort werden sie dann praktisch nur noch eingesammelt. Was mit dem eigentlichen Reiz des Angelns ungefähr soviel zu tun hat wie ein Sieg im Fußball gegen eine Blindenauswahl.

Der Widerstand lässt nach, ich spüre, wie der Fisch scheinbar schwerelos zu treiben beginnt. Spannung halten, Spannung halten! Die Worte schießen einem wildgewordenen Squashball gleich zwischen meiner Schädeldecke hin und her. Neunzig Meter. »...und die Buddel voll Rum...« – hoch die Rute, runter die Rute und kurbeln – es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Ich bin hin und hergerissen, könnte in diesem Augenblick tagelang so weiter machen. Andererseits sehne ich das Ende herbei, möchte ihn sehen, ihn halten. Dann wieder die Angst. Die Angst, er könne auf den letzten Metern doch noch den entscheidenden Kopfstoß ansetzen, der ihn vom Haken befreit. Verdränge die Angst. Spüre meinen Blutdruck, angesiedelt zwischen Hypertonie und Scheintod. Glieder, die abfallen möchten und doch noch einmal alles geben. Aber da müssen wir durch, reiß mich zusammen, die Gedanken noch einmal zurück auf Start. Ich schaue mich um. Irgendwo muss das Gaff liegen. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich den finalen Akt dieser Auseinandersetzung angehen werde. Die Rute in der Rechten haltend, das Gaff in der Linken, um mit einem gezielt Ruck den gebogen Haken des Gaff in sein Fleisch zu treiben. Ihn endgültig an den Menschen zu binden, den er so verabscheuen würde, wenn er denn könnte. Irgendwo muss das Gaff doch sein, vorhin hatten wir es doch noch da – hoch die Rute, runter die Rute und kurbeln - »Wo liegt nur das verdammte...?.« Ich verstumme. Schlagartig. Kein Selbstgespräch. Kein »Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste« mehr. In dieser Sekunde, als die Erkenntnis zum Schock mutierte, war ich jeglicher Gesichtsmuskulatur beraubt. Mein Unterkiefer klappte runter. Ich war ein angelnder Nussknackersoldat. Das Gaff! Es ist nicht mehr da. Mir schießt ein Bild durch den Kopf. Ein weiterer Squashball. Als meine Kumpels das Boot verließen, ließen sie als erstes ihre gut gefüllten Fischkisten auf das nasse Holz des Anlegers plumpsen, während ich meine leere Kiste schamerfüllt zurechtrückte und mit frischen Wasser füllte. Eine reine Übersprungshandlung. Fußballspieler ziehen sich die runtergerutschten Stutzen hoch, nachdem sie den Ball am leeren Tor vorbeigedroschen haben. Ich fülle frisches Wasser in meine Fischkiste. Schließlich plumpsten auch Thorben und Steffen auf die Planken des Bootsanliegers, froh, die Knochen wieder ausstrecken zu können. Das Gaff muss bei alledem in einer ihrer Fischkisten gelegen haben. Saudumm nur, dass es dort immer noch liegt.

»Hast du alles?«

»Ja, klar, wird schon, Danke«.

»Na dann, Petri, übertreib es nicht«.

Übertreib es nicht! Ha, und wie ich übertreiben werde. Den Motor werde ich mir um den Hals binden und mich samt Tohatsu-Zweitakter im Fjord versenken, wenn ich diesen Fisch nicht landen kann. Nicht landen kann weil wir, weil ich Dösel das Gaff übersah. Poch, poch. Massensquash. Bleib ruhig, bleib ruhig verdammt noch mal. Fünfzig Meter noch. Okay, das Gaff ist nicht da – hoch die Rute, runter die Rute und kurbeln – es wird irgendwie gehen, es muss gehen.

Fische ab einer bestimmten Größe können nicht mehr einfach an Land gezogen werden. Es sei denn, man steht wie beim sogenannten Brandungsangeln direkt am Strand und zieht sie relativ entspannt über den Sand zu sich vor die Füße. Befindet sich der Angler jedoch auf einem Boot oder Kutter, steht er auf einer Kaimauer oder Spundwand, so muss der Fisch zwischen seinem Lebenselement und dem des Anglers eine gewisse Distanz zurückzulegen. Das verkompliziert die Angelegenheit enorm. Als eines der eindrucksvollsten Spektakel in Landungsangelegenheiten dürfte die von Anglern angewandte Lösung in Sagres, einem kleinen Ort Portugals gelten. Sagres, westlich der Algarve gelegen, ist gleichzeitig der südlichste Punkt auf dem europäischen Festland, worauf die Portugiesen stolz hinweisen. Sagres verfügt weiterhin über eine Steilküste, die als Pate für die Namensgebung jener Küstenabschnitte gelten könnte. Über einhundert Meter erstreckt sich der schroffe Fels in die Höhe, an dessen Fuße wild der Atlantik tost. Was die portugiesischen Fischer dazu bewegt, ausgerechnet von dort oben aus zu angeln? Abenteuerlust? Todessehnsucht? Darüber ließe sich trefflich spekulieren. Auf alle Fälle ist das Spektakel billiger als Bungee-Springen und Fisch kommt dabei auch noch in den Topf. Abgesehen davon erwecken die einheimischen Fischer nicht gerade den Eindruck, als könnten sie sich überhaupt vorstellen, dass jemand Geld für einen Sprung aus 50 Meter Höhe bezahlt. Fakt ist, dass es sich in Sagres um eine nicht ungefährliche Variante der Fischpirsch handelt. Was dem stillen Beobachter im übrigen nicht nur die eigene Magengrube mitteilt. Auskunftsfreudige Portugiesen vor Ort bestätigen gerne, dass regelmäßig Fischer abstürzen und ihr Leben lassen. Anglerlatein der besonderen Sorte. Andererseits, selbst wenn nur die Hälfte dessen stimmt, muss es in diesem Küstenstreifen eine Menge Witwen geben. Worin besteht nun aber die Angel- und Landetechnik? Geangelt wird mit um die fünfzehn Fuß langen, kräftigen Ruten, ähnlich wie man sie von der Brandungsangelei kennt. Die großspuligen Rollen sind mit monofiler Schnur bespult, deren Durchmesser mindestens einen halben Millimeter Dicke beträgt. Entscheidend ist natürlich, das sich ein entsprechender Schnurvorrat auf der Spule befindet, da es allein schon hundert Meter braucht, bis die Garnele am Haken überhaupt den ersten Wasserkontakt hat. Beißt nun ein Fisch, kommt die Stunde des Bruders, Neffen, Sohnes oder Großvaters jenen Anglers. Dieser Gehilfe beobachtet bis dato kettenrauchend die Szenerie und beeindruckt beistehende Touristen mit absturzbedingten Todesstatistiken. Nun aber greift er sich einen Korb, der an einem Seil gut verknotet, flugs die Reise zum tief unten zappelnden Fisch antritt. Es ist genau dieser Landungsvorgang, der den Eindruck des eigentlich gefährlichen Parts erweckt. Muss doch der Korbführer schwindelerregend nah an den Rand der Felsen vortreten, um den Korb passgenau unter den Fisch zu bugsieren. Ist diese Prozedur erfolgreich, braucht der Korb nur noch heraufgezogen werden und alle sind glücklich. Der Angler über den Fisch, der Helfer darüber, dass er noch oben steht und die beistehenden Touristen über beide Umstände. Was in Portugal abenteuerlich anmutet kann sich indes schon unter sehr viel harmloseren Umständen zum wahren Belastungstest für Freundschaften und Kumpaneien auswirken. Fische ab einer bestimmten Größe sollten der Rutenspitze zuliebe nicht einfach aus dem Wasser gehoben werden. Die Landung solcher Fische erfordert mitunter auch am heimischen Karpfenteich ein wenig Übung. Vor allem aber auch eines griffbereiten Utensils, gemeinhin Unterfangkescher genannt. Unterfangkescher gibt es in allen möglichen Formen, Größen und Preisklassen, angefangen vom kleinen Stichlingsnetz, dass man vorzugsweise zwischen Tauchermasken und Badelatschen am Strandkiosk erwerben kann bis hin zum Großfischkescher, Bügellänge 1,20 Meter. Da passt dann auch ein richtiges Wasserschwein rein. Speziell auf Booten und Kuttern geht es ein wenig martialischer zu. Hier wird gerne zum Gaff gegriffen. Ein Gaff ist nichts anderes als ein rundgebogener, an seinem Ende spitzer und scharfer Rundstahl, dessen Handteil entweder in schnödem Kunststoff oder für die, die es gerne ein wenig exklusiv mögen, auch schon mal in einem Stück Teakholz steckt. Der Einsatz eines Gaff verbietet sich natürlich in dem Moment, in dem nicht für den Kochtopf genagelt wird, sondern das >Catch&Release< Gebot zur Anwendung kommt. Dicken Fisch rausholen, Foto machen, dicken Fisch wieder freilassen. Unabhängig davon, für welches Landungsgerät man sich im Vorfeld entscheidet, es zu benutzen, während der Fisch Flanke zeigt gehört für viele Freunde der wohlfeilen Fischwaid zur eigentlichen Prüfung. Glücklich kann sich schätzen, wer einen Helfer zur Seite hat, der einem bei diesen letzten Akt des Fischfangs beisteht. Was aber, wenn ein kurzsichtiger Sonntagsradler stolpernd zur Hilfe eilt, während der dicke Karpfen gerade zum zweiten Mal das Seerosenfeld anvisiert? Oder es hängt nach zwei Stunden ermüdenden Kutterangelns endlich der erste vernünftige Dorsch an der Leine? Der Smutje des Kutters, sonst für die Landung zuständig, ist aber in der Kombüse mit der Erbsensuppe zugange. Dann kann es einem passieren, dass der quasselnde Nachbar, bis dato eher mit seinem Flachmann statt mit der Angel beschäftigt, zur Stange greift. Bitterböse kann das enden. Da wird mit dem Gaff losgedroschen, als gelte es, einen Pottwal tot zu schlagen. Statt aber den Fisch aufzuspießen, wird sich mitunter derart in der Schnur verwickelt, dass es im Handumdrehen zum Schnurbruch kommen kann. Wunderbar anzusehen auch das adrenalingeschwängerte herumstochern mit Keschern aller Art. Dann ist der Fisch der Glückliche, der Angler der Dumme und der >Helfer< der Gewürgte. Würde man jeden einzelnen Fisch ins Schwarze Meer packen, der statt mit dem Kescher herausgehoben genau durch diesen vom Haken abgeschlagen wurde, wäre es das fischreichste Gewässer im Universum.

Ich schaffe es, einigermaßen meine Sinne zusammenzuhalten. Man könnte direkt meinen, wir sind mittlerweile ein gutes Team. Er kommt zu mir, treibt hoch, lässt sich ziehen. Ich kurble fleißig, immer darauf bedacht, nicht zuviel Druck auszuüben aber auch schön die Leine klingen zu lassen. Nach weiteren zwanzig Metern lege ich einen Stopp ein.

»Viertes OG, Meersfischabteilung, Tintenfischhappen, Flossenkämme, Bartelgel«.

Ich selbst muss Kraft tanken, doch ich weiß um das immense Risiko, dass ich in diesem Moment eingehe. Ich halte daher nur kurz inne, pausiere für einen Wimpernschlag in der Geschichte der Fischerei mit dem Einholen der Schnur. Ich versuche weiterhin, konzentriert zu bleiben und weiß nicht, was letztlich anstrengender ist. Im Grunde fühle auch ich mich, als würde mir jeden Moment der Magen mit einem »Plopp« aus dem Mund quellen. Das wäre doch mal was neues. Mein Mageninhalt hat sich ja schon des öfteren diesen Ausgang suchen müssen. Aber gleich der ganze Magen? Ich muss kurz lachen. Das Lachen tut gut. Für einen kurzen Moment ist meine Anspannung gewichen.

»Bleib locker, verkrampfe nicht, du kriegst ihn, du hast ihn doch schon, du musst ihn nur noch hier reinbekommen, irgendwie, irgendwie....«.

Wenn niemand da ist, musst du dir halt selber Mut machen. Ich gehe sogar noch weiter. Versuchte mir zu vergegenwärtigen, dass es gilt, diese Minuten zu genießen. Jeden einzelnen Moment. Schließlich habe ich genau davon immer geträumt. Bin den anderen auf die Nerven gegangen. Rausfahren wollte ich, immer wieder. Selbst Dauerregen konnte mich nicht davon abbringen, gen Wasser zu ziehen.

»Hier muss irgendwo ein Großer schwimmen, ich weiß es, ich spüre es, glaubt mir, der ist irgendwann mal fällig!«

»Komm, lass´ uns weiterfahren, hier gibt es ja doch keine...«.

»Hey, warte, nur noch einmal runterlassen, die sind da, die sind da....«.

Ein weiterer Beitrag zum Thema Beziehungstestung zwischen Angelkameraden vor Ort. Die Frage nach der Ausdauer. Nach dem Durchhaltevermögen, der inneren Konsistenz, die zwischen aufgeben und weitermachen entscheidet. Manchmal aber auch zwischen Babyfisch und dessen Urgroßmutter.

In den Augen der meisten Angler handelt es sich jedoch um ein vollkommen nachvollziehbares Gebaren. Fiebert doch ein jeder Angler monatelang dem nächsten Trip in gelobte Angelgefilde entgegen. Dabei ist es ohne jeden Belang, ob es sich hierbei um Norwegen, Irland, Alaska, die Karibik oder die Unstrut handelt. Allen Fieberbefallenden ist gleich, dass sie, selbst noch etliche Wochen, ja Monate von ihrem Ziel entfernt, in ihrer Phantasie schon längst dort sind. Es werden Kataloge gewälzt, alte Fotos rausgekramt und immer wieder entsprechende Anglerpostillen durchgeblättert. Schließlich hat man sich zum hundersten Mal den Artikel »Erfolgreich auf Heilbutt« durchgelesen. Und es geht noch weiter. Sieben, acht Kalenderblätter vor dem ersehnten Reisebeginn werden Montagen geknüpft, Haken geschliffen, Fliegen gebunden, Rollen geschmiert, GPS-Positionen in das Handgerät getippt. Die Ehefrau beginnt eine Affäre, die Kinder fangen an zu kiffen, der Kater ist längst verhungert aber Hauptsache, das Echolot ist zeitig genug vom Reparaturservice zurück. Ist es dann endlich soweit und man hat ihn dran, dann sollte dieses Kapitel genossen werden, als könnte es das letzte sein.

Zehn Meter. Ich schaue angestrengt aufs Wasser, er muss doch langsam zu sehen sein? Treibt er vielleicht nur unweit vom Boot entfernt, irgendwo da draußen, an der Oberfläche? Nein, das kann eigentlich nicht sein. Die Schnur schneidet sich immer noch in einem sehr spitzen Winkel ins Wasser, was bedeutet, dass der Fisch unmittelbar unter oder direkt neben dem Boot an die Oberfläche kommen müsste.

Hoch die Rute, runter die Rute und kurbeln – Da! Wie aus dem Nichts kommend, und da kommt er im Grunde genommen ja auch her, zeichnet sich etwas helles im graublauen Wasser ab. Oh, mein Gott, was für ein Riese. Mit jedem »hoch die Rute, runter die Rute und kurbeln« zeichnen sich seine Konturen klarer ab, kommt er näher. Ich taxiere ihn, meine Blicke kleben auf ihm, ähnlich wie kleine Putzerfische am Maul eines Walhais. Ein Leng, oh mein Gott, es ist ein Leng! Nur noch drei, vier Meter – hoch die Rute, runter die Rute und kurbeln – da kommt er, kommt sein riesiger Leib. Ein Fisch wie ein U-Boot. Ruhig, bleib ruhig. Die letzten Sekunden, die letzten Handgriffe können so entscheidend sein. Ich verlagere mein Gewicht leicht nach vorn. Nicht zuviel, sonst bekämen die Möwen heute richtig was zu fressen. Aber ich muss näher ran, muss mich leicht über die Bootswand beugen können. Er ist jetzt ganz nah, sein Magen hat sich wie von mir vermutet aus seinem riesigen Maul gedrückt. Er scheint erschöpft zu sein, ohne Kraft, ohne Willen. Nur, er ist noch im Wasser und das ist der kleine, der bedeutende Unterschied. Die Mundschnur hat sich um seinen Kopf geschlungen. Der zweite Haken hat sich in seinen Unterkiefer gebohrt. Schlecht für ihn, gut für mich. Er hat sich bei seinen Versuchen, sich zu befreien, zusätzlich gefesselt. Vor allem hat er mir aber ein Geschenk gemacht. Beide Haken sitzen fest. So kann ich zupacken und muss nicht befürchten, mir selber den Stahl ins Fleisch zu jagen. Wobei es darauf auch nicht mehr ankäme. Einen ganzen Drilling würde ich schlucken um ihn endlich in den Armen zu halten. Die Rute halte ich weit weg von mir, die Schnur ist wieder zu Hause. Zweihundertachtzig Meter sind zurück auf der Spule. Ich warte kurz ab, will nicht ins Leere greifen, nicht das Gleichgewicht verlieren. Für einen kurzen Moment liegen Boot mit Mensch und Fisch friedlich nebeneinander auf dem Wasser. Dann ist es soweit. Kurz nachdem die Millionste Welle des Tages Boot und Fisch hochhob und sich beide im Wellental befanden greife ich zu. Ich greife nach dem Fisch, fasse in seine Kiemen, nach der Schnur, nach diesem lebenden Paket und hebe ihn mit einen Ruck auf die Bootswand. Genauso schnell lasse ich die Rute ins Boot fallen. Nun hatte ich die zweite Hand frei, greife mit ihr nach dem zuckenden Leib, rutsche ab, greife erneut zu, kriege ihn zu packen und hieve die restlichen anderthalb Meter Fisch ins Boot. Da liegt er nun vor mir, in all seiner Pracht, seinen mächtigen Leib auf den nassen Bootsplanken windend, verzweifelt den Weg zurück in sein Reich suchend.

Der Leng, lat. Molva Molva, gehört zur zoologischen Familie der Dorsche. Sein charakteristisches Aussehen verdankt er seinem zylindrisch gestreckten, fast aalförmigen Körper. Der Farbton seiner Haut variiert von grün über braun marmoriert bis zu einem bläulich metallischen Schimmern beim Blauleng, einer Unterart des Leng. Typisch für einen Fisch der Dorschartigen ist die Bartel am Unterkiefer seines leicht unterständigen Maules. Das Verbreitungsgebiet des Leng erstreckt sich über den gesamten Nordatlantik, Hauptfanggebiete sind jedoch Norwegen und die Gewässer rund um die Britischen Inseln. Der Leng ist kein Fisch für die Angelei im sogenannten Mittelwasser. Um ihn zu überlisten muss die Nähe des Grundes aufgesucht werden. Je nach Angeltiefe, Drift und Strömungsverhältnissen können hier Gewichte von bis zu eintausendzweihundert Gramm und mehr von Nöten sein, unabhängig davon, ob man dem Leng mit Pilkern nachjagt oder es mit der Naturködermethode versucht, bei der ein mit allerlei Gummioktopussen, Leuchtstäbchen - sogenannten Knicklichtern - und vor allem einem mit Frischfleisch – Hering, Makrele, Seelachs – garnierten Haken am treibenden Boot über den Grund gezogen wird. Viele Angler haben ihre Muskeln also nicht unbedingt vom Fische stemmen. Werden zwar auch immer wieder kleinere Exemplare beim Grundangeln in Tiefen um die 80 Meter gefangen, so muss man für den Fang eines kapitalen Leng seinen Köder auf die mitunter unendlich scheinende Reise in die Tiefe des Meeres und der Fjorde schicken. Dort, zwei- bis vierhundert Meter von der Wasseroberfläche entfernt, haben die großen Alten ihr bevorzugtes Jagdrevier und stellen so ziemlich allem nach, das dem schier unvorstellbaren Druck des Wassers standhalten kann. So wurden in den Mägen von Lengfischen schon Krebse, Seesterne, Heringe, Dorsche, Plattfische und ziemlich mitgenommene Cola-Dosen gefunden.

Molva Molva, diesen Namen haben wir dir gegeben, Molva Molva, Leng, Länga, Mnik morsky. Entrissen den eisigen Tiefen des Nordmeeres, entrissen der ewigen Dunkelheit der See, entrissen durch mich, ja, durch mich. Ich war es, ich, der immer im Tor stehen musste, der sich beim Schneiden der Fußnägel die Schere in die Zehen rammt, ich. Ich habe es geschafft. Ich habe dich geschafft, nein, ich gehe sogar weiter. Ich habe dich geschaffen!

Einhundertfünfundfünfzig Zentimeter geballte Kraft, achtundsechzig Pfund festes, helles Fleisch. Zwei Hand voll Eingeweide, Gräten, Haut. Ein zugegebener Maßen eher klein geratenes Gehirn dafür aber Trilliarden bis ins kleinste Quarks trainierte Zellen. Ein in seiner natürlichen Umgebung seit Jahrtausenden angepasster, spezialisierter, durchtrainierter Organismus.

Jappsend, keuchend, zuckend, hochgerissen, rausgerissen aus seinem Element. Mit großen, aus dem Kopf heraustretenden Augen starrt er in das erste Tageslicht seines Lebens. Es wird gleichzeitig sein letztes sein. Ich wische mir mit dem Unterärmel meiner Jacke über das verschwitzte Gesicht. Schleim und Blut bleiben mir im Haar hängen, das unter der hochgerollten Wollmütze hervorquillt. Ich bin fasziniert von diesem Fisch. Spüre, wie Müdigkeit, Erleichterung, Freude, ja Ekstase angesichts des hinter uns gelassenen Kampfes in einem wilden Strudel in mir emporsteigen. Während ich langsam die Rute auf die mittlere Sitzbank des Bootes lege suche ich nach dem Schlagholz. Dieses Schlagholz hatte heute schon gute Arbeit geleistet. Jetzt wird es zu einem letzten Mal zum Einsatz kommen. Ich trotze der Erschöpfung, die sich durchgesetzt hat, sich langsam einen Weg bis in den letzten Winkel meines Körpers bahnt. Trotze der Mattigkeit, die danach schreit, sofort in einen zehnstündigen Schlaf zu fallen. Mir ist bewusst, dass ich nun zum letzten, zum finalen Akt schreiten muss.

Der Mensch machte sich die Erde untertan. Schwang sich empor in nie für möglich gehaltene Höhen um im selben Moment auf brutale Weise wieder abzustürzen. Die immer wiederkehrende Frage, wer hier wen im Würgegriff hat reduziert sich in solch einem Moment auf den Griff nach dem Schlagholz. Man hat den Fisch zu sich gerufen, hat ihn bezirzt und hat ihn getäuscht. Hat den Kampf mit ihm, den Kampf um ihn aufgenommen. Hat letztlich den Bann, hat ihn gebrochen. Dann liegt er einem zu Füßen. Dieses wunderbare Geschöpf dieser Erde, der so stark ist in seinem Element, uns in so vielem voraus. Aber der Magen ist hungrig, die Seele ist hungrig. So sind wir nun mal, etwas aus der Spur geraten. So wie dieser Fisch selbst noch vor Stunden dem kleinen Bruder Seelachs nachstellte, den Panzer eines Taschenkrebses gierig in sich hinein saugte, so hat ihn nun die Ewigkeit eingeladen, zu sich, zu uns.

Ich greife nach dem Schlagholz, sehe ihn ein letztes Mal in seine matten Augen, Augen, die nicht verstanden. Ein letztes Mal sammele ich das wenige mir gebliebener Kraft. Ein guter, ein schneller Schlag muss es sein, das zumindest bin ich dir schuldig. Die kalte Luft zieht durch meine Nasenflügel. Ich hebe den Arm, halt kurz inne und lasse das Holz auf seinen Schädel niedersausen.

Bis vor wenigen Minuten war es noch ein ganz normaler Fisch. Ein Fisch unter vielen. Unter nicht mehr ganz so vielen. Jedenfalls waren es, als seine Urgroßväter aus dem Ei schlüpften noch wesentlich mehr. Mittlerweile will aber jeder Mensch, der eine Tiefkühltruhe besitzt, diese neben Schweinehälften vor allem auch mit Dorschfilets aus dem Nordatlantik, Barschen aus dem Victoriasee und Tintenfischringen aus der Fabrik gefüllt wissen. Manchmal auch mit dem Kopf der Ehefrau. Was in unserer Welt zwangsläufig dazu führt, dass sich die fischigen Urgroßväter wundern würden, wie viel Platz ihre Enkel zum schwimmen haben.

Und doch, Zeit seines Lebens war er ein ganz normaler Fisch unter ganz normalen Fischen. Einer unter nicht mehr ganz so vielen ganz normalen Fischen. Niemand kannte ihn, er wurde nie gesehen. Nun aber ereilte ihn das Schicksal in Form eines mehrfach gehärteten und ziemlich scharfen Haken der japanischen Firma Gamakatsu. Dieser Haken, bestückt mit einem Seelachsfilet, serviert ihm den kleinen Bruder auf dem Tablett des Todes. Nun liegt er da und ist kein normaler Fisch mehr. Die Geschichte seines Unterganges wird zur Geschichte seines Aufstiegs. Sein Bild wird um die Welt reisen, in nicht enden wollenden Erzählrunden zur Legende werden. Man wird unseren langen, glänzenden Freund bestaunen und ehren, Heerscharen von Anglern, Männer, Frauen und Kinder, schnalzen bei seinem Anblick anerkennend mit der Zunge. Sie werden denken, »Wow, was für ein Kerl!«, um sich eine Stunde später im Geschäft eine Packung Gamakatsu-Haken zu kaufen.

Er wird ein Star, denn er ist ein Star!

Und ich, ich habe ihn gefangen! Ich, Freddie Torhaus!

Angeln kann so schön sein.

Gummifisch zum Frühstück

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