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Baff

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Didi, Didi. Freddie überlegte. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Sollte das etwa? Nein, das kann doch nicht wahr sein. Das war doch nicht etwa...? »Ja, ist ja nun schon eine Weile her, ich, ja ich glaube, ich wäre im ersten Moment auch ziemlich baff, wenn ich dich so mir nichts dir nichts am Telefon hätte.«

Baff. Das kann man wohl sagen. Didi. Dietmar Tischmann. Einer seiner alten Schulkameraden. >Schulkamerad<. Den Begriff benutzt heutzutage kein Mensch mehr. Freddie musste unwillkürlich an sein Spiegelbild aus dem Schlafzimmer denken. Nicht ganz zufällig korrespondierte das sich einschleichende Gefühl in der Magengegend trefflich mit seinem graumelierten Stoppelbart. Freddie kratzte sich am Hinterkopf. Seit er mit fünfzehn Jahren während eines Fußballturniers dank einer fulminanten Torwartparade nicht nur den ersten Schuss parierte, der dem von ihm gehüteten Tor galt, sondern bei der Gelegenheit auch noch per Einsatzes seines Kopfes den –zugegebener Maßen – recht morschen Pfosten seines Tores zertrümmerte, besitzt er ein sich immer wieder durch empfindlichen Juckreiz auf sich aufmerksam machendes Andenken. War der Torpfosten unrettbar dem Tode durch öffentliches Verfeuern anlässlich der nachfolgenden Osterfeiertage geweiht, konnte Freddies Kopf mit zwölf versierten Stichen genäht werden. Übrig blieb eine schöne, sechs Zentimeter lange Narbe am Hinterkopf. In den folgenden Jahren sollte Freddie die Angewohnheit entwickeln, sich an genau dieser Narbe zu kratzen. Wenn er verwirrt war, wenn er aufgeregt war, wenn er verlegen war. Als habe man ihm einen subkutanen Ideenschrittmacher implantiert, auszulösen durch kräftiges Gerubbel. Dabei bedient er sich immer derselben Rubbel- oder besser Kratztechnik. Die rechte – es ist immer die rechte – Hand ist zur Faust geschlossen, lediglich der Zeigefinger zeigt steif und abgespreizt nach vorne. So stand er also da und kratzte sich an seiner alten Torwartnarbe.

»Mensch, ich glaube es nicht, Didi, alter Schwede, das ist, na, warte mal, wann haben wir uns das letzte mal gesprochen, das ist doch eine Ewigkeit her?«

Freddie klemmte sich das Telefon zwischen seiner linken hochgezogenen Schulter und der linken runtergedrückten Wange ein. In dieser für seine Nackenpartie außerordentlich ungünstigen Körperhaltung ging er rüber in die Küche. Dort angekommen stand er vor der Spüle und wusste nicht so recht, was er hier eigentlich wollte. Er spürte nur, wie sich langsam eine gewisse Form der Aufregung in ihm ausbreitete, gepaart mit etwas, das sich recht bekannt anfühlte. Und wieder alt. Sehr alt.

»Tja, sind jetzt bald 25 Jahre, große Güte, 25, mir ist selbst ganz schwindelig geworden, als ich nachgerechnet habe.«

Freddie beschloss, sich erst mal hinzusetzen. Er hätte jetzt eine rauchen können, nur das er noch nichts im Magen hatte und trotz seiner nunmehr zwanzigjährigen Raucherlaufbahn das Rauchen auf nüchternen Magen nach wie vor ekelhaft findet. Abgesehen davon verspürte er keine große Lust, extra auf die Terrasse zu gehen, Freddies selbst auferlegten Raucherdomizil.

»Mann, Didi, wie kommt´ s denn, ich meine, ist ja klasse.« Mehr an geistreicher Konversation war gerade nicht drin.

»Na, du wirst lachen, vor kurzem hat mich ein Anflug von Sentimentalität erwischt. Liegt vielleicht am Alter. Da habe ich mir gedacht, bedien dich doch des World-Wide-Web, zu irgendwas muss es ja gut sein. Und siehe da, hat nicht lange gedauert und Herrn Zuckerberg sei Dank landete ich irgendwann auf Deinem facebook-Account. Mensch, Freddie, Du als selbständiger Taxifahrer, nicht schlecht! Hätten wir nach all den Jahren auf der guten, alten Goethepark auch nicht gedacht. Die haben ja mittlerweile auch eine eigene Homepage, sind sogar alte Fotos von uns mit drauf, in der Hinsicht waren die direkt mal up to date.«

Die Goetheparkpark-Schule. Ihre alte Schule. Von Freddie besucht von 1975 bis 1979, nie sitzen geblieben, ein Tadel wegen eines Schneeballs, der sich von 400 potentiellen Zielköpfen ausgerechnet den des Vize-Rektors aussuchen musste. Jahre später Abgang mit einem Realschulabschluss von 2,3. Alles Fakten, die doch so absolut gar nichts über diesen recht speziellen Lebensabschnitt des nunmehr gestandenen Familienvaters und selbstständigen Taxiunternehmers aussagen.

»Mein Gott, wie lange habe ich schon nicht mehr an die olle Penne gedacht! « ging es Freddie durch den Kopf, während Didi am anderen Ende der Leitung deutlich hörbar Luft holte.

»Na, und was soll ich dir sagen, wie ich da in Erinnerung schwelgte dachte ich mir, es müsste doch möglich sein, die Kumpels von früher aufzuscheuchen. Und so kam es dann, euch zu kontaktieren.«

Euch. Freddies Magen knüllte sich kurz zusammen. War das Hunger oder eine Reaktion auf das Euch? Denn Euch bedeutet Freddie und...ihn.

»Schön, Mensch«, antwortet Freddie knapp. Nach einem kurzen Räuspern fuhr er fort. »Erzähl doch mal, bist du immer noch mit deinem Sezier-Set unterwegs?« Am anderen Ende erklang leichtes Lachen. »Na ja so ähnlich, Freddie, ich darf mich mittlerweile Doktor, ähm, also der Biologie nennen, aber wehe, du sprichst mich jetzt mit Doc oder so an.«

Der Didi. Doktor in Biologie. Unmengen an Bildern schossen Freddie durch den Kopf. Didi ging früher ab und zu zum angeln mit, hielt auch schon mal eine Rute in der Hand. Ansonsten interessierte den alten Streber eher der biologische Hintergrund des ganzen Geschehen. Wenn es daran ging, Fische auszunehmen, stand er Gewehr bei Fuß mit Stift, Papier, Skalpell und Kleinbildkamera bewaffnet an Freddies Seite und wich von selbiger erst ab, nachdem die entleerten Fische verpackt und verknotet im Jutebeutel lagen und ihr ehemaliger Inhalt durch unzählige Schnappschüsse für die Ewigkeit festgehalten war. Als wolle Didi Freddie aus seinen Gedanken holen, setzte er zur nächsten Frage an.

»Und bei dir? Taxiunternehmer ist ja das eine. War das gerade deine Tochter am Telefon?«

»Ja, das war Leonie. Die dazu gehörende Mutter gibt es auch noch, die treibt sich am Wochenende aus beruflichen Gründen in Hamburg rum«

»Stark, der Freddie, richtig solide geworden, so mit Familie und allem drum und dran. Glückwunsch«

»Ja, eh, danke, ich erschrecke mich auch immer wieder, wenn die beiden Weibsen in meinem Bad stehen«.

»Bist du denn immer noch der Angler vor dem Herrn?«

Treffer! Freddie musste schmunzeln. Das hat sich wohl für immer ins Gedächtnis gefressen. Davon abgesehen war die Frage nicht unberechtigt.

»Jo, immer noch. Das heißt, hat sich natürlich ein bisschen verändert. Denke manchmal, ich bräuchte eine 9-Tage-Woche um alles unter einen Hut zu bekommen, aber ich komme schon noch ans Wasser.« Das mit der 9-Tage-Woche entsprach der Wahrheit. Trotzdem überkam Freddie ein schlechtes Gewissen. War er doch derjenige, der, wenn es darum ging, sich an der frischen Luft aufzuhalten, in erster Linie darüber sinnierte, ob sich zu diesem Unterfangen eine seiner Angeln mitnehmen ließe. Freddie beurteilte den Erholungsgrad eines Urlaubs- oder Naherholungsgebietes eindeutig nach Gewässerdichte und Fischvorkommen. Allein das Babs in dieser Hinsicht ein eher unkompliziertes Naturell an den Tag legt, sie mit einem ausreichenden Vorrat an Urlaubslektüre sowie einer schönen Aussicht in die Natur befriedigt ist und Tochter Leonie noch nicht viel Mitspracherecht eingeräumt wurde, kamen ihm in den letzten Jahren sehr entgegen. So ließen sich Freddies Angelei und Babs Hang nach Frischluft in der Regel gut unter einen Hut bringen. Schließlich war Babs es auch, die vor kurzem erst den Vorschlag machte, im Sommer nach Norwegen zu fahren. Dummerweise erwähnte sie im Zuge ihrer Überlegungen die Region »Hedmark«, neben der Region Oppland eine der Provinzen Norwegens, die keinen, aber auch gar keinen Zugang zum Meer oder zu den mächtigen Fjorden dieses Nordlandes besitzt. Aber daran ließe sich ja vielleicht noch arbeiten. Freddie könnte in den Gesprächen einfach »Hed« durch »Finn« ersetzen, was zwar bezüglich der Entfernung einen Unterschied von gut und gerne 3000 Kilometern ausmacht, aber einen Versuch wäre es allemal wert.

»...meinst du nicht auch?«

Freddie erschrak. »Was, äh, sorry, Didi, ich war kurz, äh, woanders

»Ich meinte nur, dass wir uns unbedingt demnächst mal treffen sollten, wie heißt es an diesen Stellen doch immer, um der guten Zeiten Willen. Ich muss beruflich öfter zu euch runter, meine Firma hat ihren Hauptsitz, wie soll es anders sein, natürlich in der Hauptstadt.«

»Na, deine Eltern werden sich ja sicher auch freuen, wenn sie ihren erfolgreichen Sohn ab und zu zu Gesicht bekommen.«

Statt einer Antwort vernahm Freddie nur ein leises Rascheln.

»Tja, die Zeiten sind leider vorbei.«

Freddie erschrak. »Nee, wa...?«

Nach einer kurzen Pause fuhr Didi fort.

»Doch, leider. Vor vier Jahren. Ging unheimlich schnell, beide innerhalb von ein paar Monaten. Er Lunge, sie Magen.«

Jetzt war es Didi, der ein leises Stöhnen hören konnte. Freddie hat sich bei Didi zu Hause immer sehr wohl gefühlt und fand dessen Eltern damals ausgesprochen sympathisch. Allein die ständig mit Süßkram gefüllte Schublade im Wohnzimmerschrank brachte ihnen verdammt viele Pluspunkte ein.

»Scheiße, Mann, das tut mir echt leid.«

»Ich weiß, war keine schöne Zeit, aber na ja, that’s Life, äh, also in gewisser Weise. Wenigstens haben beide nicht sehr lange leiden müssen. Manchmal glaube ich sogar, das es in ihrem Sinne war, sich mehr oder weniger gemeinsam verabschieden zu müssen.«

»Und Siggi?«

Siggi war Didis vier Jahre ältere Schwester. Freddie hatte sie noch als jungen Feger in Erinnerung und versuchte sich vorzustellen, wie der Feger heute mit knapp 50 aussieht.

»Der geht’s wieder ganz gut. Hat gerade eine Scheidung hinter sich, ist aber dabei, sich wieder zu sammeln. Na, ja, wie das halt so ist. Anyway, hei, und bei Dir? Sind doch, hoffe ich, alle noch auf dem Damm, oder?«, erklang es ein wenig zaghaft von Didi, wollte er doch nicht von den Grabkammern der eigenen Familie nun in die seines alten Freundes stolpern. Im gewissen Sinn sollte er mit seiner Ahnung Recht haben.

»Ach, hör bloß auf«, setzte Freddie an, »meine Eltern hatten auch nichts besseres zu tun, als nach gut 38 Ehejahren festzustellen, dass da nicht mehr soviel war, von wegen >bis das der Tod Euch scheidet< und so. Das haben sie dann nach ein, zwei Jahren Gekreische und Gezeter lieber selbst in die Hand genommen. Meine Mutter treibt sich seitdem in sämtlichen Makramee – und Töpferkursen der Stadt rum und fällt mit ihren Kursdamen regelmäßig in Malle ein. Na ja, mein Vater lebte eine Zeitlang allein, mehr schlecht als Recht, ist aber seit ein paar Jahren wieder in festen Händen.«

Didi musste bei der Vorstellung schmunzeln, hatte er Freddies Vater doch als einen jener Männer in Erinnerung, der sich morgens vom Weibchen die gebügelten Unterhosen hinlegen lässt. Auch in diesem Punkt sollte er bestätigt werden.

»Die Gute ist glatte 23 Jahre jünger als er, kommt aus Brandenburg und hat ihn schon nach kurzer Zeit zu sich geholt. Dort lebt er jetzt >mittenmang der janzen Zonies<, wie er sich auszudrücken pflegt, lässt sich von der Guten in Jeans stecken und züchtet mit ihr Tulpen oder Nelken, na jedenfalls, irgendwas was bunt ist und was man nicht essen kann.«

Freddie und Didi hielten kurz inne. Tod. Scheidung. Bunte Blumen. Das sich angesichts der aufgekommenen Themen eingestellte flaue Gefühl in ihrer Magengegend war dabei, sich langsam wieder zu verflüchtigen. Beide mussten schmunzeln und versuchten, das Gespräch wieder auf harmlosere Pfade zu bringen.

»Runter in die Hauptstadt, was heißt denn runter. Sag bloß, du wohnst jetzt bei den Fischköppen?«

Wieder erklang Didis Lachen. Ein tröstliches Lachen. Das zumindest klappt also noch. Schon zu Schulzeiten war es für Freddie ein leichtes, Didi zum Lachen zu bringen. Nicht weil Didi ein derart einfach gestrickter Zeitgenosse war, im Gegenteil. Freddie konnte es sich nicht erklären, wie er es immer geschafft hat, aber er konnte sich jetzt wieder gut daran erinnern. Musste irgendwas mit einer gemeinsamen Chemie zu tun haben. Didi schien ihn jedenfalls unter anderem dafür gemocht zu haben.

»Na, fast. Das heißt, so gesehen eigentlich schon. Ich wohne in der Nähe von Warnemünde, muss jeden Tag rüber nach Rostock. Wenn wir grad was am laufen haben, Untersuchungsreihen und ähnliches heißt das im übrigen wirklich jeden Tag. Ansonsten kann ich genialer Weise auch viel am Computer von zu Hause aus erledigen.«

Jetzt musste Freddie lachen.

»Tja, was tut man nicht alles für den Nobel-Preis.«

Didi hüstelte leicht, was ihn aber nicht daran hinderte, das Gespräch fortzuführen.

»Mein Lieber, wenn es danach geht, habe ich sowieso auf die falsche Karte gesetzt. Soweit ich weiß, wird für Biologie kein Nobel-Preis vergeben. Wahrscheinlich war Herr Nobel unglücklich in eine Biologin verliebt.«

Es herrschte kurzes Schweigen, was beiden Männern aber nicht unangenehm war. Freddie ahnte, dass es Didi ähnlich erging wie ihm. Nach all den Jahren wieder miteinander zu reden, das hatte seine eigene Faszination. Schließlich war es Freddie, der das Gespräch wieder aufnahm.

»Um auf deine Idee zurückzukommen, also, ein Treffen, klar, find ich gut. Hast du schon konkret überlegt, wo, wann und wie?«

Freddie hörte, wie sich am anderen Ende der Leitung etwas tat. Didi schien sich einer anderen Person zuzuwenden.

»Bin gleich fertig,« erklang es leicht abgedämpft. Kurz darauf hatte Freddie wieder seine volle Aufmerksamkeit.

»Nö, so ganz fest habe ich noch nichts geplant. Aber ich hatte mir die Arbeit gemacht, hört, hört, nach Arthur zu fahnden. Ihn konnte ich noch nicht erreichen, aber sein Vater lebt noch, der wohnt sogar noch in der alten Wohnung. Stell dir vor, Arthur lebt in Kanada, die Mail-Adresse habe ich von seinem Vater bekommen, obwohl er auch über facebook zu finden ist, wie ich mittlerweile herausbekommen habe. Das beste nämlich ist«, die kurze Pause ließ Freddies Spannung steigen, »das Arthur im Herbst nach Berlin kommen will um den achtzigsten Geburtstag seines Vaters zu feiern. Da böte sich für uns doch eine super Gelegenheit.«

Arthur. Klar, Arthur. Arthur Pockelewitz. Oder sollte Freddie besser als Pocke an ihn denken? Pocke, so wie Freddie ihn in all den Jahren nannte, nachdem er als neuer Schüler zu ihnen in die Klasse stieß. Warum sollte sich Didi nicht mit Pocke in Verbindung setzen, waren sie früher doch auch miteinander befreundet, wenn auch nicht so eng und fest, wie es Freddie und Pocke über Jahre miteinander waren? Freddie war sich nicht einmal sicher, ob Didi den großen Krach zwischen Pocke und ihm überhaupt noch mitbekommen hatte. Nach dem Abschluss der Realschule gingen die Wege von Freddie und Didi recht schnell auseinander. Didi ging weiter auf das Gymnasium, mit Erfolg, wie man hört. Freddie war mittlerweile vollkommen in den alten Geschichten verfangen. Worüber stritten er und Pocke eigentlich? Bruchstückhaft schoben sich die ersten Erinnerungsfetzen in sein Bewusstsein. So konnte er sich daran erinnern, dass die beiden Anfang der Achtziger zum Angeln auf die Insel Fehmarn gefahren sind. Geplant war ursprünglich ein verlängertes Wochenende, vollgestopft mit angeln, angeln und nochmals angeln. Die jungen Männer hatten sich extra den alten VW-Bully von Arthurs Vater ausgeliehen, um sich bezüglich ihres mitgeschleppten Equipments keine der sonst üblichen Konzessionen hingeben zu müssen, die zwangsläufig bei der Reise mit der Bahn oder dem Bus auf einen Angelfreund warten. Freddie fiel wieder ein, dass die ersten Tage einigermaßen in Ordnung waren, wenngleich er im Nachhinein zugeben musste, dass er Pocke als recht übellaunig in Erinnerung hatte. Noch einsilbiger, als er sonst schon war und leicht reizbar. Schließlich kam es zu einem Krach, wie ihn die beiden bis dahin noch nicht erlebten. So endete dieser gemeinsam begonnene Ausflug damit, dass sie die Sachen packten und jeder für sich die Insel verließ. Freddie machte sich mit seinen Camping- und Angelklamotten per Bus und Bahn auf den Heimweg. Er hatte partout keine Lust, fünf Stunden neben dem in seinen Augen vollkommen überzogen miesepetrigen Pocke zu sitzen. Sicher hätte er anders reagiert, hätte er ahnen können, dass er Pocke daraufhin nie wieder sehen sollte.

Der immer noch aufgeregt klingende Didi holte Freddie aus seinen Erinnerungen zurück.

»Freddie, Mensch, ich will jetzt nicht hetzen, aber meine Liebste ist gerade vom Brötchen holen zurück, du, mir knurrt der Magen, außerdem haben wir nachher noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Na, in die Firma muss ich heute auch noch.«

Freddie nickte nur. Er wusste zu gut, wie es ist, am Wochenende arbeiten zu müssen.

»Ich rufe dich wieder an, wenn ich wieder was von Arthur gehört habe, oder soll ich dir mailen?«

»Na ja, wenn ich es mir aussuchen darf, dann rufe doch einfach an, find ich irgendwie netter.« Obwohl die technischen Errungenschaften der letzten Jahre auch vor den Torhaus nicht halt machten, zog Freddie ein Telefonat immer noch der Kommunikation über E-Mail vor.

»Klar, machen wir so. Mensch, Freddie, schön, wenn das klappen sollte. Also, ich werde mich melden, sowie ich Arthur erreicht habe. Grüße mir deine Familie unbekannter Weise.«

»Mache ich, Didi, freue mich auch schon drauf. Also, bis die Tage.«

Klick. Stille. Freddie saß da. Legte das Telefon langsam auf den Küchentisch. Das war ein Ding. Denkt man an nichts schlimmes und dann hängt auf einmal ein Teil seiner Jugend in Form vom alten Didi Tischmann am Telefon. Na zumindest war er jetzt hellwach. Wach und aufgewühlt. Didi und...Pocke. Mann, Pocke. Jetzt, wo er weiß, dass Pocke in Kanada lebt, wurde ihm klar, dass sie sich nur schwer hätten über den Weg laufen können. Soll es ausgerechnet jetzt, nach 25 Jahren, noch mal klappen? Daran, wie es wohl wäre, ihn zu treffen, hatte er immer mal gedacht. Es war ihm allerdings nie in den Sinn gekommen, den Versuch zu starten, in Kontakt mit ihm zu treten. Dafür, es nicht getan zu haben, hatte er keine rechte Erklärung, zumal es über all die sich in den letzten Jahren entwickelten social-media-Geschichten im Internet ja geradezu ein leichtes ist, alte, „verschollene“ Kontakte wieder aufzunehmen. Aber, irgendwas hatte ihn davon abgehalten. War es die Sorge, eine Abfuhr zu erhalten, nicht Willkommen zu sein? Er war sich nicht sicher. Fakt war hingegen, dass auf diese Weise über all die Jahre das Gefühl blieb, dass ihm ein Teilchen fehlte, ein Teilchen, dass dieses Puzzle um Pocke und ihn vervollständigt hätte. Sollte er nach so langer Zeit doch noch die Gelegenheit erhalten, dieses letzte Puzzleteil zu erhalten? Pocke. Didi. Freddie gab sich einen Ruck, der ihn in die Gegenwart zurückholte. Schließlich saß nicht weit von ihm auch jemand, die seine volle Aufmerksamkeit benötigt. Das würde heute aber nicht ganz so einfach werden. Wahrscheinlich hat sich Leonie wieder mit einer großen Schale Maisflocken eingedeckt, so wie sie es immer Samstags macht, wenn sie ihre geliebte Fernsehsendung sehen darf. Heute wird sie wohl auch noch in den Genuss der nachfolgenden Sendungen kommen. Ausnahmen müssen auch mal sein, zumal Leonie nicht zu den Kindern gehört, die zum Fernseher Mama sagen und den Vater für den Kleiderständer halten. Was wiederum Babs und Freddies liebevoller und doch klarer Einhaltung von Regeln, Absprachen und Konsequenzen zu verdanken war. »Na, komm«, sprach Freddie zu sich selbst, »Leo wird nicht gleich verblöden, wenn ihr heute Winnieh Puh noch ein paar Geschichten erzählen kann.« Und er, er brauchte jetzt erst mal eine Tasse Tee, dann schnell ein Brötchen und dann die Zigarette. Die muss jetzt sein. Pocke, Didi, Goethepark. Die Schule. Langsam brachen sämtliche Erinnerungsspeicher auf und gaben ihren seit Jahrzehnten verschnürten Inhalt wieder frei. Während Freddie einen frischen Teefilter aus der Packung zog, sah er vor seinem geistigen Auge den vierzehnjährigen Freddie Torhaus, Klasse 8 d, Goethepark-Realschule, Berlin-Reinickendorf…

…1976. Die Sommerferien waren zu Ende. Es war einer dieser heißen Tage, der dort weitermachte, wo die stickige, schwüle Nacht zuvor aufhörte, die wiederum fortführte, was Tags zuvor begann. Genau genommen herrschte seit vier Wochen das Hoch Manfred und ließ alle im Land schwitzen, keuchen, fluchen oder angesichts exorbitanter Eiskugelumsätze Luftsprünge machen. Hinter Freddie lagen, wie er im nachhinein fand, wunderbare Sommerferien. Er war mit seinen Eltern sowie seinem Lieblingscousin Robert und dessen Eltern zu Gast bei der Familie Hubert in Steinwiesen. Es war ihr vierter gemeinsamer Urlaub auf dem selben Bauernhof, so dass sich Freddie und seine Familie durchaus wie Stammgäste fühlen durften. Steinwiesen bestand aus einhundert Häusern, 523 Einwohner, 1200 Kühen, sieben Gasthöfen, einer Trachtenkapelle, einem Schützenverein und keinem Kino und war für Freddie und seinem Cousin der Inbegriff eines Urlaubsparadieses. Ähnlich wie er heutzutage stundenlang die Gewässerkarten anvisierter Angelreviere studiert, lagen Robert und er bäuchlings über dem Schulatlas und fuhren immer wieder die vierhundertdreißig Autobahnkilometer mit dem Finger nach, die beide Familien kurze Zeit später in ihren VW-Käfern zurücklegen sollten. Ihnen war es egal, dass dieser Ort seit ihrem ersten Ferienaufenthalt Dank des boomenden Tourismus imposant am wachsen war und auch in den folgenden Jahren eine Menge des früheren Charme verlieren sollte. Für sie war Steinwiesen von Anbeginn ein riesiger Abenteuerspielplatz. Am Rande des Frankenwaldes gelegen, umgeben von Wäldern, Bächen und Weihern. Seit 1973 gab es nach siebenjähriger Bauzeit mit der Ködeltalsperre nicht nur die erste bayrische Trinkwassertalsperre in unmittelbarer Nähe, mit ihr entstand auch ein exquisites Angelrevier, von dem angelnde Touristen allerdings nur in sehr begrenzten Maße und unter Aufehrbietung sämtlicher einheimischer Kontakte profitieren konnten. Steinwiesen war aber nicht nur ein ehemals nettes, kleines, sich zum Ferienort entwickelndes Örtchen, nein, hier sollte Freddie auch mit dem bis heute für ihn aktuellen Angel-Virus infiziert werden. Seitdem er zum ersten Mal eine einfache Bambusstippe festhielt, an deren Ende eine zweieinhalb Meter lange Drachenschnur hing, an deren Ende wiederum ein kleiner Angelhaken angeknotet war, auf dem wahlweise selbst gebuddelte Würmer oder selbst gefangene Grashüpfer spießten, die von gierigen, weil ausgehungerten, weil drei Tage zuvor zum letzten Mal gefütterten, Regenbogenforellen verschlungen wurden, seit diesem ersten Mal am Forellenteich von Elmar Hubert, ist Freddie Angler, Petrijünger, Fishhunter, Sportfischer, Posenkieker. Das war drei Jahre zuvor, während seiner ersten Ferien in Steinwiesen. Seitdem machte Klein-Freddie die Gewässer unsicher. Soll heißen, eher die Gewässer, statt die dort drin lebenden Fische, aber das sollte sich im Laufe der Jahre langsam ändern.

In diesem Sommer war es ihm sogar möglich, eine Gastkarte für die Ködeltalsperre zu ergattern. Nicht nur das. Schon während seiner ersten Angelpirsch sollte sich ein weiterer Traum des noch jungen Angelfreundes erfüllen. Freddie fing seinen ersten Hecht. Und das kam zum damaligen Zeitpunkt einer kleinen Sensation gleich. Gebissen hatte Freund Esox auf einen damals schon uralt anmutenden Effzett-Blinker, den ihm Gustav, der Jüngste von drei Söhnen aus dem Hubert-Clan, gegen sein altes Yps-Fernrohr eintauschte. Der Hecht war mit fünfundfünfzig Zentimeter Länge wahrlich kein Kapitaler, aber es war immerhin ein Hecht. Sein erster richtiger Raubfisch, sah er von den unzähligen Fluss- und Kaulbarschen ab, die sich daheim am Ufer der Oberhavel regelmäßig mit seinen Maden den Wams füllten und an seinem Haken hingen. Jedenfalls staunten Robert, Gustav, die älteren Brüder Mario und Gregor sowie natürlich alle Erwachsenen nicht schlecht, als Freddie nicht mit den üblichen Verdächtigen >Bärschlein< und >Plötzlein< und >Hab nüscht!< auf den Hof radelte, sondern ein echter >Esox Lucius< am Fahrradrahmen baumelte. Der Hecht war ein Prämierenfisch. Prämierenfische waren und sind etwas besonderes. Ohne Ausnahme. Selbst Freddies erster, 20 Zentimeter langer Brassen wurde mit diesem Etikett ausgestattet. Dabei sind Brassen, auch Blei genannt und zu den Weißfischen gehörend, im Grunde genommen nichts anderes als die größte in der Natur vorkommende Ansammlung von Gräten und Schleim. Viele Angelkollegen sprechen bei größeren Exemplaren von schwimmenden Klodeckeln, eine Bezeichnung, die treffender nicht sein kann. Trotzdem bleibt Premierenfisch immer Premierenfisch, selbst wenn man nach näherem Kennen lernen weitere Exemplare der ein oder anderen Art nie wieder am Haken haben möchte. Nicht so bei Freddies Talsperrenhecht, dem im Laufe der Jahre noch etliche folgen sollten. Noch heute ziert sein Unterkiefer die Ablage seines Schreibtisches. Jedes Mal, wenn Freddie ihn ansieht oder Leonie ihn andächtig in ihre Hände nimmt um ihn einer chirurgisch anmutenden Inspektion zu unterziehen, ist die Erinnerung an ihn taufrisch. Genauso frisch allerdings sind auch seine Erinnerungen an den Riesenstress, den Freddie mit Frau Huber bekam, nachdem er ihr beim Auskochen des Hechtschädels ihren besten Topf versaute.

Doch nun waren die unschuldigen Tage Vergangenheit. Sechs tolle Wochen lagen hinter ihm, was vor ihm lag, fühlte sich hingegen nach Verstopfung dritten Grades an. Freddie beschloss somit, gute Gründe zu haben, nicht besonders erfreut an diesem Tag zu sein. Das erste Jahr auf der Goethepark-Schule war zwar überstanden, er und seine Mitschüler gehörten nun nicht mehr zu den Kurzhosen, wie im Goetheparkjargon die neuen Schüler der siebten Klassen genannt wurden. Es sollten aber noch drei Jahre der Knechtschaft auf ihn warten. Diese Erkenntnis, gepaart mit den frisch zurückliegenden Ferien bildete in etwa seinen motivationalen Aggregatszustand. Freddie saß auf seinem alten Platz, linke Seite, dritte Reihe, linker Platz. Direkt am Fenster, von wo aus er versuchte, sich trotz des um ihn herumtobenden Bussigehabes seiner neuesten Ausgabe der Angelzeitschrift >Fisch und Fang< zu widmen. Didi, sein Tischnachbar, wurde erst zwei Tage später erwartet. Didis ältere Schwester Siggi, die wegen diverser Abschlussprüfungen nicht mit dem Rest der Familie in die Sonne fliegen konnte, berichtete Freddie am Telefon, das ein Fluglotsenstreik in Spanien Didi nebst Eltern zu einem unfreiwilligen Dauercampen auf dem Flughafen von Menorca zwang. So blieb Freddie nichts anderes übrig, als alleine am Tisch sitzend dem zu harren, was da kommen sollte, da war die Abwechslung, die ihm seine Angelzeitschrift bot, gerade recht. Das Klassenzimmer füllte sich währenddessen zusehends. Dem Anschein nach hatten wohl alle die letzten sechs Wochen gut überstanden. »Schade«, dachte sich Freddie. Gegen den ein oder anderen durch Haiattacken- oder Flugzeugabsturz bedingten leeren Platz hätte er angesichts seiner damaligen Gefühlswelt nichts einzuwenden gehabt. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Grossteil seiner Mitschüler war eine recht dünnhäutige Angelegenheit. Er war kein Außenseiter im klassischen Sinn, der Puls der Klasse, allgemein Zugehörigkeitsgefühl genannt, schlug jedoch in beachtlicher Entfernung von ihm. So stellte Freddie auch an diesem besonderen Schultag zum wiederholten Male fest, dass ihm das ganze Getue seiner Mitschüler ziemlich auf die Nerven ging. Zum Glück gab es Didi. Wenn der nicht gerade irgendwo auf Menorca abhängt. Der war in Ordnung, gab für einen Klassenprimus einen ganz passablen Kumpel ab. Freddie und Didi trafen sich nach der Schule regelmäßig. Im nahe gelegenen Park erkletterten sie Bäume, jagten Mäuse in den Büschen, hoben Wespennester aus, spielten Fußball bei schönem Wetter und Tip-Kick, eine Art Tischfußball, in einer ihrer Buden wenn es der Wettergott nicht gut mit ihnen meinte. Vor allem aber akzeptierte Didi, das sich bei Freddie vieles ums Angeln drehte. Ohne Murren stieg er bei ihm zu Hause zwischen Ruten umher und schaufelte Blinker, Posen und Schrotbleie vom Tisch um Platz für das Tip-Kick-Spielfeld zu schaffen. Es kam auch öfters vor, dass Didi ihn an seine bevorzugten Angelreviere, die sich in einer verschlossenen Stadt wie Berlin auf einige wenige Flussstrecken beschränken mussten, begleitete, um sich in wissenschaftlicher Manier den gefangenen Fischen zu widmen. Auf diese Weise hatte es Didi im Laufe der Zeit auf eine beachtliche Sammlung getrockneter Schwimmblasen gebracht. Kurz, die zwei gammelten in typischer Jungenmanier ab. Damit war im Klassenverband aber weitestgehend Schluss mit der Sympathiedichte. Der Rest der Jungs deckte eine Bandbreite zwischen umherrotzenden Juniorsoziopathen sowie billigen David Cassidy-Kopien ab. Letztere rannten vorzugsweise mit hochgestellten Hemdkragen durch die Gegend, dabei die Zigarettenpackung im T-Shirt-Ärmel steckend und lauthals >We are the sex-boys< grölend. Womit sie ungefähr so sexy wie Zahnschmerzen waren. Dann gab es natürlich noch die Mädchen. Es lebe die Koedukation. Sie kamen entweder vom Stern Zicke oder spielten in dieser Phase ihrer Ontogenese schon in einer anderen, für Jungs wie Freddie unerreichbaren, Liga. Verglichen mit Freddies Phantasien war es die Oberliga, während er tapfer in der Kreisklasse vor sich hin onanierte. Unterste Kreisklasse. Wurde Freddie, was selten genug vorkam, zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, konnte man seine mit Stolz getragenen Klocks darauf verwetten, dass er sich spätestens in der dritten Runde des obligatorischen Flaschendrehens mit hochrotem Kopf und etwas von »Durchfallerkrankung« nuschelnd aus dem Staub machte. Und um jene per schicksalhaftem Flaschendreh Auserkorene vier Wochen lang einen großen Bogen. Insofern war seine persönliche Kreisklassenzugehörigkeit Welten von der Liga jener Mädels entfernt. Verglich Freddie seinen eigenen Mikrokosmos Schule mit dem, was heutzutage an Schulen abläuft, käme er zwar schnell zu der Überzeugung, dass sich seine damalige Erlebniswelt zu der heutiger Schüler in etwa wie die »Augsburger Puppenkiste« zu »Kill Bill« verhält, aber für diese Erkenntnis musste er erst ein paar Jahre älter werden.

Natürlich beruhte die von Freddie bezüglich seiner meisten Mitschüler ausgehende und eher kurz unter der Grasnarbe verlaufende Zuneigung weitestgehend auf Gegenseitigkeit. Kurz und gut, ein Junge von vierzehn Jahren, der leidlich Fußball spielt, dafür im Unterricht aber Zeitungen liest, in denen statt Starschnitte, Bundesligatabellen und Aufklärungsgeschichten große Fische eine Rolle spielen, war den meisten suspekt. Von Didi abgesehen war er für die anderen ein »Exot«, was noch zu den netteren Umschreibungen gehörte. Alles in allem beste Bedingungen für eine wunderbare Schulzeit. Hätte Freddie geahnt, welche Neuerung sich in seinem noch recht jungen Leben just an diesem Tag einstellen sollte, wäre er zu diesem Zeitpunkt nicht in einen Artikel zum Thema neuester Anköderungstechniken lebender Köderfische vertieft gewesen. Das Fischen auf Raubfische wie Hecht und Zander hatte an deutschen Gewässern schon immer eine große Tradition. Die Art und Weise, diesen bezahnten Räubern nachzustellen, war letztlich Geschmack- oder Gesinnungsfrage. Oder auch nur eine Frage der inneren Muße. Den ganzen Tag die Spinngerte schwingen oder beschaulich auf die Pose zu achten. Mehr galt es vorab nicht zu klären. In Zeiten, in denen es noch möglich war, einen Köderfisch lebend anzubieten, fiel die Wahl mit Sicherheit des öfteren auf diese Option. Die Verkaufszahlen von allerlei Metall- und Holzködern durften hingegen ab 1985 spürbar gestiegen sein, als sich die für Tierschutz und Fischereiwesen zuständigen Landesministerien der jeweiligen Kommunen auf ein generelles Verbot der Verwendung von atmenden, zappelnden Rotaugen, Brassen, Barschen und Güstern am Haken aussprachen. Bis dahin war aber noch ein wenig Zeit und so stach Freddie vor seinem geistigen Auge den Haken eines Drilling unterhalb der Rückenflosse eines Rotauge ein als inmitten des Trubels aus Wiedersehensfreude, Fotos zeigen und anderem üblichen Gerangel plötzlich ein neuer Schüler in der Klasse stand. Er stand einfach nur da. Die Hände tief in den Hosentaschen seiner schwarzen Cordhose vergraben, die schon recht betagte braune Ledermappe zwischen die Füße gestellt stand er da und ließ seinen Blick über das sich ihm bietende Spektakel streifen. Die ersten Schüler, die ihn registrierten, sahen ihn an, einige nickten ihm zu, manche machten keinen Hehl daraus, dass sie ihre Köpfe nur aus einem Grund zusammensteckten. Ein paar der Mädchen kicherten nervös, eine Papiertaube sauste von einer der hinteren Bänke geworfen nur knapp an seinem Kopf vorbei. Das alles schien ihn nicht weiter zu stören. Wurde er gegrüßt, grüßte er zurück, senkte dabei ebenfalls leicht den Kopf und schloss kurz seine Augen, was ihm in dieser Horde Vierzehnjähriger schon fast etwas Würdevolles verlieh. Ansonsten konnte man seine Erscheinung nur imposant nennen. Imposant, weil er mit seinen 197 cm Körpergröße, auf die sich gerade einmal 71 Kilogramm Gewicht verteilten, seinen rostroten Haaren und den schätzungsweise zwanzig Millionen Sommersprossen, die es seinen Kilos gleichtaten und zumindest die sichtbaren Körperteile gleichmäßig bedeckten, als seien sie darauf bedacht, nur ja keinen Quadratzentimeter Haut zu verpassen, so ziemlich alles in den Schatten stellte, was sich je im Klassenraum der 8d tummelte. Exakt mit der Klingel sprang die Tür auf und Herr Schmidt kam herein. Klassenlehrer Schmidt. Mathematik und Sport. Die meisten der Schüler wussten nicht, wofür sie ihn mehr hassen sollten. Schmidts Gang hatte etwas federndes, er schien seine Fortbewegung permanent mit einem Auslauftraining zu verwechseln. Ganz Vollblutlehrer inspizierte er die Runde, auch von ihm hier und da ein kurzes Nicken, schob das auf dem Lehrerpult liegende Klassenbuch, in den Siebzigern noch Heiligtum eines jeden Klassenzimmers, zur Seite und setzte sich auf die Ecke des Tisches. Dabei winkelte er sein rechtes Bein an, umfasste es mit beiden Armen unterhalb des Knies, während sich das linke kraftvoll durch den Linoleumboden zu bohren schien. Kurz darauf fing er an, leicht mit seinem Oberkörper zu wippen. Schließlich befand sich Klassenlehrer Schmidt in genau jener Position, mit der er die Schüler der Klasse 7d sechs Wochen zuvor verabschiedete. »Guten Fhümorgen, meine Damen fühh und Fhhherren, ich ffhhüüühoffe, ihr ffattet schöne Fhhhherien. Ehe ich mich den ffffüühhvon euch sicher heiß fühhh erwarteten Themen ffüühhh widme, möchte ich fühhh euch euren neuen Mitfhhhüüler Arthur Pockelewitz vorstellen.«

Gummifisch zum Frühstück

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