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3. Öffentlich und Privat

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Diese gedankliche Haltung änderte sich langsam, aber stetig, von der Zeit an, als man anfing, das Leben mehr und mehr in die Bereiche des Öffentlichen und des Privaten einzuteilen und nach entsprechenden Handlungsmaximen zu ordnen. Die kulturgeschichtlich bedachte christliche Religion und die daraus entspringende Haltung des Glaubens wanderte zusehends in den Bereich des Privaten aus, schließlich zwar mit allen Privilegien der positiven und der negativen Religionsfreiheit versehen, dennoch aber verlor die christliche Religion ihren gesellschaftstragenden Charakter. Verstärkt wurde dieser gesellschaftliche Wandel noch durch die philosophisch geführte Debatte des Atheismus, vor allem der des 19. Jahrhunderts, ergänzt durch die weltanschaulich sich neutral gerierenden Humanwissenschaften der Medizin, Soziologie und Psychologie. Am Beispiel des Begriffs „Gesundheit“ lässt sich dieser gesellschaftliche Wandel gut belegen: Es ist Martin Luther gewesen, der mit seiner deutschen Bibelübersetzung das Wort „Gesundheit“ in der deutschen Schriftsprache begünstigte und zu seiner Verbreitung verhalf (Vgl. Grimm, Bd. 5, 4321). In Psalm 38, 4, übersetzte Luther das lateinische Wort sanitas mit Gesundes: Es ist Nichts Gesundes an meinem Leibe wegen deines Drohens, und ist nichts Heiles an meinem Gebein wegen meiner Sünde. Und in Apostelgeschichte 4, 30 übersetzt Luther das griechische Wort hiasis (= lateinisch: sanitas) mit Gesundheit. Dem Wort „Gesundes“ entspricht demnach als Substantivbildung der Begriff „Gesundheit“ und bezeichnet im Sinne Luthers das Wohlergehen des Menschen in seiner Leib-Geist-Seele-Einheit. Das Wohlergehen zeigte sich grundlegend im Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch, alle Bereiche des menschlichen Lebens umgreifend und erfassend. Gesundheit war bis zum 17. Jahrhundert somit ein religiöser Begriff und der Arzt war eine Art „Handlanger Gottes“, wie etwa ein Reim von Friedrich Logau belegt: „Wenn ein krancker wird gesund, ist gesundheit gottes gabe, und dem arzte kommt nur zu, dasz er für die müh was habe“ (Grimm, Bd. 5, 4322).

Im Zuge der Aufklärung wurde der Begriff „Gesundheit“ seiner religiösen Begründung entkleidet und wurde zu einem Gut unter anderen Gütern, die der Mensch erwerben und erhalten kann. So etwa, wenn Kant in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft „Güter, Gesundheit und Leben“ als Besorgungsweisen des Menschen aufzählt (vgl. Kritik der ästhetischen Urteilskraft, A 104) und darüber hinaus Gesundheit als Gleichgewicht aller körperlichen Kräfte des Menschen bestimmt (vgl. Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, A 11). Diese Linie wurde bis in unsere Gegenwart hinein ausgezogen und weitergeführt, mit der Folge, dass Gesundheit mehr und mehr zu einem der wichtigsten Güter menschlichen Lebens geworden ist. Gesundheit ist seither kein religiöser Beziehungsbegriff mehr, sondern ein Begriff der individuellen Leistungsfähigkeit, vor allem in Bezug auf das gesellschaftliche Leben. Seither macht man einen „Gesundheitscheck“, erfährt ein „staging“ betreffs seiner Leistungsfähigkeit. Heute verliert oder behält man seine Gesundheit wie ein Gut. Gesundheit ist ein rein innerweltlicher Begriff geworden, der als zu verwaltende Größe dem Menschen aufgegeben ist. Diese Andeutungen müssen hier genügen.

Im Gefolge der Aufklärung etablierte sich nun mittels der autonomen Vernunft der öffentliche Bereich als mehr und mehr weltanschaulich neutraler Raum, welcher der Gesellschaft einen verbindlichen Rahmen der Ermöglichung pluraler Lebensentwürfe eröffnen wollte. Und begünstigt wurde diese Betrachtung der Wirklichkeit durch die neue Wissenschaftstheorie der empirisch-induktiven Methode der Moderne, die im Prinzip des verumfactum zusammengefasst werden kann: Wahr ist, was der Mensch machen kann. Von der kulturgeschichtlich erworbenen Gewissheitsüberlieferung des christlichen Glaubens blieb im öffentlichen Bewusstsein schließlich die Kulturgeschichte an sich übrig, die man, je nach Weltanschauung, entweder einer positiven oder negativen Wertung zuführen konnte. Seither begriff sich der Mensch als der Kultur und der ihr gemäßen Religion als Subjekt gegenüberstehend. Nicht mehr Gott und seine Wahrheit bildeten nun das Subjekt der menschlichen Verlässlichkeiten, sondern allein der Mensch. Dieses Gegenüberstehen des Menschen zur Kulturgeschichte wurde dann noch dadurch verstärkt, dass nun mehr und mehr mit den Erkenntnissen der Humanwissenschaften, allen voran der Soziologie und der Psychologie, eben die Kulturgeschichte und die in ihr enthaltenen Gewissheitsüberlieferungen der christlichen Religion bemessen, bewertet und dann einer methodischen Prüfung unterzogen wurden. Dieses Bemessen wiederum wurde mit dem Maßstab der Funktionalität zur Erreichung von Zwecken unternehmerischer, gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Art vollzogen. Diese Funktionalität wurde dann mit dem Gedanken einer allgemeinen Gültigkeit verbunden, so dass der Mensch an sich zu seinem je eigenen Kulturträger und Kulturstifter selbst wurde. Nicht mehr die Gewissheit der Religion wurde öffentlich proklamiert, sondern der von allen Autoritäten endlich befreite Mensch, der homo faber trat auf den Plan: Der Mensch begriff sich als autonomes Subjekt. Das Ergebnis hiervon ist, dass der Mensch sich selbst zu denken sucht, und sich nicht mehr über die gottgegebene Würde definiert. Dieses Selbstdenken soll nun über eine Denkordnung vernünftig geglaubter Qualitäten wie Selbstbewusstsein, Erinnerung, Gewinnung eines Verhältnisses zum Leben als Ganzes und Interesse am eigenen Leben vollzogen werden. Die Folge davon ist bis heute, dass hiermit ausschließende Kriterien für den Status der Erlangung der Würde des Menschen benannt sind. Erst die Verwirklichung und Selbstverwirklichung dieser qualitativen Werte menschlichen Lebens garantierte nämlich die Würde des Menschen. Vor allem die Arbeit und Leistungsfähigkeit des Menschen wurde der Garant für diese Selbstverwirklichung des Menschen. Die Arbeit wurde zum Sinnstifter des menschlichen Lebens schlechthin. Doch mit dieser gewonnen Freiheit ging und geht zugleich eine gesellschaftliche Ratlosigkeit einher, die sich im Widerspruch zwischen dem Leben des Menschen in lebendiger und beweglicher Gemeinschaft und einer funktionstechnischen Lebenssicht sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich erschließt.

Denken und Führen

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