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1. 2. Konturenloser Pluralismus

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Auch das Theorem der pluralistischen Gestaltung von Gesellschaft ist elementar ins Wanken geraten. Zu vielfältig und beliebig scheinen die Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich geworden zu sein. Denn es fehlt heute im allgemeinen Bewusstsein ein ethischer Rand und Rahmen, der das plurale Leben geistig zusammenhält. Seinen geschichtlichen Ursprung hat der Pluralismus in der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat. Privat trägt hier die Konnotation von etwas, das kein allgemeines Wissen sein soll, das nicht jedermann zugänglich zu sein hat, das entweder mich als Person oder als Personengemeinschaft allein etwas angeht. Öffentlich hingegen bezeichnet all das, was eine Gesellschaft an gemeinschaftlichen Interessen, Lebensäußerungen, sozialen Rahmengebilden, Institutionen, Organisationen etc. benötigt und befördert, schützt, unterstützt oder auch einfordert, um gemäß ihrer Vorstellungen leben zu können. Als einer der Grundpfeiler zur inhaltlichen Bestimmung des Öffentlichen hat sich darum im Gefolge der Aufklärung die Vorstellung durchgesetzt, dass jede politische Ordnung öffentlicher Art vernünftig zu sein hat. Immanuel Kant bringt diesen Aspekt in seiner Schrift: „Zum ewigen Frieden“ (A 93) wie folgt zum Ausdruck: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ Die Folge davon ist bis heute in unserer Gesellschaft, dass ich als Privatperson in der Öffentlichkeit leben und agieren kann, solange ich mich im Rahmen der für alle geltenden Gesetze vernunftgemäß bewege. Dies vorausgesetzt, habe ich den Anspruch, dass das Prinzip der Nichtbeachtbarkeit auch meiner Person zugebilligt wird. Und es ist sogar die Pflicht des Staates, dieses Prinzip zu schützen. Hinter dieser Unterscheidung von öffentlich und privat steckt eine grundlegende, gesellschaftspolitisch bis heute höchst wirksame Unterscheidung. Denn das Auseinanderfallen von öffentlich und privat hat sich im Sinne der Unterscheidung des Politischen als des öffentlichen und des Religiösen als des privaten Bereichs mit dem Augsburger Religionsfrieden im Jahre 1555 in Europa allgemein durchgesetzt. Ab da unterschied man klar zwischen Politik und Religion als zwei getrennten Bereichen. Verfestigt wurde diese Unterscheidung dann mit dem Westfälischen Frieden im Jahre 1648, denn mit diesem Friedensschluss setzte sich in der politischen Meinung die Vorstellung durch, dass das öffentliche Leben weltanschaulich neutral zu sein habe und der religiöse, weltanschauliche Bereich ausschließlich im privaten Leben der Personen zu verorten sei. Dieses so gewonnene Gesellschaftsverständnis speiste sich aber aus der gedanklichen Trias: Christentum - Humanismus - Aufklärung. Und diese Kombination bildete das Fundament für die Entstehung unserer pluralistischen Gesellschaft. Das deutsche Grundgesetz zeigt in der Präambel und besonders in den Artikeln 1 bis 7 noch deutlich diese geistigen Wurzeln auf. Eine Folge hiervon ist, dass die aus dem Grundgesetz abgeleiteten Gesetze unsere pluralistisch organisierte Gesellschaft inhaltlich zusammenhalten, indem für jede Person wie auch für jede Gemeinschaft hier ein verlässliches Rahmengebilde des geordneten Zusammenlebens beschrieben wird.

Nun ist aber zu beobachten, dass sowohl im Zuge der Globalisierung als auch in der wachsenden Begegnung mit anderen Kulturen bzw. Religionen unsere Pluralismuskonstruktion der Gesellschaft fraglich geworden ist. Dies geschah und geschieht um so mehr, je weniger die geistigen Wurzeln unseres Pluralismus, nämlich die Trias Christentum - Humanismus - Aufklärung in gegenseitiger Bezogenheit öffentlichkeitswirksam gepflegt wurden bzw. werden. Eine Folge hiervon ist die Vertauschung des Pluralismus mit gesellschaftlicher Beliebigkeit, versehen mit dem Denkpostulat einer multikulturellen Gesellschaft. Pluralismus und Multikulturalität sind aber nicht miteinander vereinbar, und zwar schlicht deswegen, weil unser bisher bewährter Pluralismus von einer legitimen Herrschaft oder Politik lebt, die das im Grundgesetz aufbewahrte Herkunftsgut von Christentum, Humanismus und Aufklärung in ein gesamtgesellschaftliches unbedingtes Wertegefüge übersetzt hat. Dieses gesetzliche Wertgefüge eröffnet allen Beteiligten die Möglichkeit zu einer pluralen Lebensgestaltung, jedoch nicht zu einer beliebigen Lebensführung. Diese ist dann gegeben, wenn man sich von den geistigen Wurzeln unserer Herkunft bewusst distanziert oder im Laissez-faire-Stil konturenlos lebt. Denn unsere ermöglichten vielfältigen Lebensgestaltungen bzw. Lebensstile müssen sich immer rückbinden lassen an unsere kulturgeschichtliche gewachsene Tradition, in gegenseitig achtbarer Weise den Anderen als eben den Anderen leben zu lassen. Das ist der tiefere Sinn der für alle geltenden Gesetze. Analoges lässt sich auch für die europäische Verfassungsfrage feststellen. Darum lässt sich unser Pluralismus nur solange leben, als auch die ihn begründenden Denktraditionen je kritisch gepflegt und geachtet werden. Genau das aber ist beim Denkpostulat einer multikulturellen Gesellschaft nicht möglich, denn diesem ist die Grundlage des pluralistischen Denkens, die Trias Christentum - Humanismus - Aufklärung, nicht zugänglich. Anstelle dessen wird nur ein meist einseitig gelebtes Toleranzdenken propagiert, das die Gefahr zur Bildung von Parallelgesellschaften in sich trägt, die in Folge dessen eben den Anderen in Fragen des gemeinschaftsübergreifenden Zusammenlebens nicht als den Anderen leben lassen. Was aber für den gesellschaftlichen Bereich festzustellen ist, ist ebenso im ökonomischen Bereich ein Problem. Denn auch für jedes global agierende Unternehmen stellt sich die Frage, wie die plurale Verwobenheit in einem kulturübergreifenden Sinn als Unternehmenspolitik ethisch namhaft gemacht werden kann.

Diese Problemlage zeitigt sich nun dahingehend, dass sich die pluralistische Gesellschaft ihrer eigenen Herkunft aus Christentum, Humanismus und Aufklärung nicht mehr gewiss und daher ihres eigenen Weges der Gesellschaftsgestaltung und auch der Unternehmenspolitik unsicher geworden ist. Diese Problemlage aber wird heute mit dem Stichwort der Postmoderne umschrieben. Diese Postmoderne kann somit als Signum einer Herkunftsvergessenheit verstanden werden, die nicht mehr in der Lage zu sein scheint, einer gemeinsamen Ethikerschließung in der Bezogenheit von öffentlich und privat das Wort zu reden. Das aber wäre zur Aufrechterhaltung des Pluralismus als Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses notwendig. Dieser Unsicherheit des gesellschaftlichen Weges in die Zukunft entsprechen nun, gerade angesichts der multikulturellen und globalen Herausforderung, konträr geführte Diskurse über die unserer Gesellschaft zugrundeliegenden Werte, ersichtlich etwa an den neu belebten Begriffen wie Patriotismus, Leitkultur oder auch Verfassungspatriotismus.

Denken und Führen

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