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2. Die Last der Schnelligkeit

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Nachdem die Sinnfrage des Lebens in unserer Gesellschaft nicht mehr durch die Wahrheit, sondern durch die Formulierung von Werten anhand der Wirklichkeit beantwortet wird, hat sich ein sonderbarer Aktionismus in unserer Zeit breit gemacht. Alle reden von der schnelllebigen Zeit, von der Hektik des Alltags, vom Stress in Beruf und Arbeit. Sogar unsere Freizeit ist von diesem Syndrom nicht verschont geblieben, Freizeitstress verwandelt die arbeitsfreie Zeit in ein Pflichtprogramm von glücksverheißenden Events. Die Beschleunigung der Zeit und des Lebens stellt sich als ein unabänderliches, ehernes Gesetz dar, dem der Mensch gnadenlos unterworfen zu sein scheint. Die moderne Welt mit ihrer medialen, technokratischen und wissenskompakten Ausrichtung forciert diese Schnelligkeit. Diese beschleunigt sich immer mehr, so dass dadurch die menschliche Langsamkeit abzusterben scheint: Wer schnell ist, hat recht, wer technisch hochgerüstet und wissenskompakt sich präsentiert, ist unschlagbar. Möglich wird diese ständige Steigerung der Veränderungsschnelligkeit durch das Wissenschaftsprogramm der Moderne, das einer methodischen Neutralisierung der kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferungen, also einer Aufhebung der Traditionswelt in ein neutrales Geschehen das Wort redet. Völlig zurecht bemerkt hierzu der Philosoph Odo Marquard: „Die Modernisierungskräfte des Fortschritts operieren traditionsneutral: Nur so - traditionsneutral - kann die moderne Naturwissenschaft (welteinheitlich messend und experimentierend) immer schneller zu traditionsunabhängig überprüfbaren Ergebnissen kommen; nur so - traditionsneutral - kann die moderne Technik gewachsene Traditionswirklichkeit immer schneller durch artifizielle Funktionswirklichkeiten ersetzen; nur so - traditionsneutral - kann die moderne Wirtschaft ihre Produkte immer schneller zu Waren des weltweiten Handels machen; nur so - durch traditionsneutrale Kommunikationssysteme - kann die moderne Informationstechnologie immer schneller immer mehr Information global kommunizierbar machen. Die moderne Fortschrittswelt ist Neutralisierungswelt: je konsequenter die Herkunftstraditionen - die menschliche Langsamkeiten sind - methodisch neutralisiert werden, desto schneller wird der Fortschritt, so dass gerade dadurch eintritt: Die Menschen werden das, was Menschen - getrieben durch die Endlichkeit ihrer Zeit, die Kürze ihres Lebens - ohnehin sein müssen, modern in zunehmend verstärktem Maße, nämlich schnell, als immer schnellere Menschen in einer immer schnelleren Welt“ (Marquard, Zukunft braucht Herkunft, 226).

Damit soll keinem allgemeinen Lamento über den gegenwärtigen Schnelligkeitsgeist das Wort geredet werden, denn die Schnelligkeit bringt zweifelsohne auch Vorteile mit sich. Aber die Schnelligkeit führt einen unbestreitbaren Sachverhalt mit sich, der das Leben unbehaglich werden lässt: Die Entwirklichung des Menschen. Denn der Mensch ist langsam und begrenzt. Und je mehr er sich dieser Langsamkeit und Begrenztheit des Lebens zu entziehen sucht, desto mehr wird er sich selbst fremd, verliert er den Grund seines Herkommens und versucht den Verlust seiner Herkunftals Weise des abstammenden und damit tradierten Lebens - methodisch zu kompensieren. Als methodisches Rüstzeug hierfür bedient sich der moderne Mensch wiederum der sich als neutral ausgebenden Humanwissenschaften. Neutrale Humanwissenschaften, wie etwa einflussreiche Formen der Soziologie und der Psychologie, lehren das Leben methodisch zu erkennen, also nach dem vereinfachten Muster von Ursache und Wirkung. Und sie verzichten häufig auf das weisheitlich geprägte Traditionsgut menschlichen Denkens und Erkennens von Wahrheit. Dadurch aber lernt der Mensch nicht mehr, in Freundschaft mit sich selbst zu leben. Denn die Freundschaft des Menschen mit sich selbst, als Frieden mit und Verlässlichkeit zu sich selbst erlebbar, lässt sich nicht machen, lässt sich nicht methodisch aneignen. Freundschaft und Frieden mit sich selbst ist vielmehr ein Widerfahrnis, ist etwas mir von außen Einfallendes und mich darum beruhigend Belebendes. In einfachen Worten ausgedrückt: Freundschaft und Frieden mit sich selbst ist eine Folge des Glaubens an die Wahrheit, die Gott als der je Unvordenkliche gewährt und schenkt. Denn das Bleibende des Menschen ist nicht seine Zeit und ihre Schnelligkeit - wir alle vergehen in und mit der Zeit, wir verwesen gar am Ende unserer Lebenszeit. Das Bleibende des Menschen ist sein Gehaltensein, sein Bewahrtsein durch Gott, über die Zeiten hinweg, Ewigkeit genannt, als Form der zeitlosen Anschauung der göttlichen Wahrheit.

Der christliche Glaube hat dieses Bleibende des Menschen im Personenbegriff des Menschen allgemein zur Sprache gebracht. Eine Person ist nämlich ein qualitätsfreies Wesen, unabhängig gedacht von seiner Befindlichkeit, seiner Zuständigkeit, seiner Geschlechtlichkeit, seiner Zeitlichkeit. Personsein bedeutet, in eine berufene Freiheit gestellt zu sein, die von Gott, als Ursprung und Vollender des Seins, den Menschen gewährt wird. Darum ist der Mensch als Person auch der Repräsentant Gottes auf Erden, ein Gedanke, der sich in der säkularen Rede von der Würde des Menschen widerspiegelt. Um diesen Gedanken wieder zu entdecken, bedarf unsere Zeit wieder des Lobes der Langsamkeit, des verweilenden, gemeinschaftlichen Nachdenkens über Gott und seine Wahrheit.

Denken und Führen

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