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4 ARISTOTELES

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Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeitspanne den Menschen nicht glücklich und selig.

(Aristoteles Nikomachische Ethik, Erstes Buch, 1098a, S. 18. Verfasst um 340 v. Chr.)

Aristoteles (384–322 v. Chr.) war der Meisterschüler Platons und sicherlich ein Schüler, der seinem Meister geistig das Wasser reichen konnte. Außerdem war er der einzige Philosoph, der einen ebenso großen Einfluss auf die Ideengeschichte hatte wie sein Lehrer. Zeitweilig galt Aristoteles als der Größere von beiden. Seine Ideen beherrschten die Philosophie im Mittelalter, und die |31|westliche Philosophie bestand lange Zeit aus fast nichts anderem als der Anwendung aristotelischer Prinzipien auf die christliche Theologie. Das Zitat von Thomas von Aquin ist ein Beleg dafür (siehe Zitat 3).

Aristoteles war philosophisch äußerst vielseitig interessiert, und seine Neigung zur irdischen Welt war sicher größer als die seines Mentors. Er systematisierte die logischen Grundprinzipien und verwendete sie für das Studium der Metaphysik, der Physik, Astronomie, Meteorologie und Biologie, des Schlafs und der Träume, des Dramas, der Politik und der Ethik. Bis zum Aufkommen der modernen Wissenschaft galt Aristoteles in den meisten Fragen, die den Menschen und seine Erforschung betrafen, als der Experte schlechthin. Auch wenn sich speziell seine wissenschaftlichen Vorstellungen nicht halten konnten, ist er doch nach wie vor eine Autorität der Weisheit, die man zu vielen Themen weiterhin zurate ziehen kann, zumindest für den Einstieg.

Aristoteles hat sich in seinen Schriften ausführlich mit der Ethik befasst; sein bekanntestes einschlägiges Werk ist die Nikomachische Ethik, benannt nach seinem Sohn Nikomachos, der sie herausgab. Alle großen Philosophen scheinen letztlich auf der Suche nach einer Ethik zu sein. Sie wollen verstehen, was es auf Erden gibt und woher wir wissen können, was es gibt, um entscheiden zu können, wie wir angesichts unseres Wissens über das Seiende leben sollen. Aristoteles bildet da keine Ausnahme. Sein Interesse gilt der Frage, wie Menschen leben und sich in allen Bereichen ihres Lebens verhalten sollen, um ihr Potenzial als Menschen voll auszuschöpfen, sich gut zu entwickeln und wirklich glücklich zu werden.

In unserem Eingangszitat weist Aristoteles auf den wichtigen Punkt hin, dass Glück keine flüchtige Empfindung ist. Sowenig ich aufgrund der Beobachtung einer einzigen Schwalbe am Himmel behaupten kann, der Sommer sei gekommen, sowenig kann ich behaupten, glücklich zu sein, nur weil ich in einem Moment Freude oder Vergnügen empfinde.

Übrigens wusste ich bis vor Kurzem nicht, dass das Sprichwort »Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer« auf Aristoteles |32|zurückgeht. Meine Mutter sagte das immer zu mir, als ich noch ein Kind war, um mich zu warnen, nicht immer gleich zu verallgemeinern und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Meine Mutter brachte mir aristotelische Logik bei, indem sie mich vor schlechter Induktion warnte (also davor, auf der Grundlage zu weniger Einzelbeispiele eine allgemeine Behauptung aufzustellen), ohne dass es einer von uns beiden bemerkte.

Genau wie Platon vor ihm, lag auch Aristoteles viel daran, zu betonen, dass wahres Glück und echte Erfüllung etwas anderes sind als Vergnügen. Ein glücklicher Mensch hat an vielem Vergnügen, sein Glück aber ist nicht gleichbedeutend mit dem Vergnügen, das er empfindet. Die ständige Jagd nach Vergnügen führt zu Unzufriedenheit, denn schließlich bekommt man nicht immer, was man haben will; außerdem wird man immer mehr davon brauchen, um eine vorübergehende Befriedigung zu erreichen. Nicht zuletzt hat ausschweifendes Vergnügen oder übermäßiger Genuss Leid zur Folge: einen Sonnenbrand, einen Kater, Fettleibigkeit usw. Glück hat für Aristoteles nicht nur etwas mit den eigenen Gefühlen zu tun oder mit den Anschaffungen, die man sich leistet, Glück ist für ihn eine umfassende Seinsweise, eine ganze Art zu leben.

Platon ist so etwas wie ein Asket. Seiner Auffassung nach findet man wahres Glück nur in einem Leben philosophischer beziehungsweise spiritueller Kontemplation, frei von Zugeständnissen an den körperlichen Genuss, so dass man den Achterbahnfahrten des Gefühls, dem ständigen Wechsel zwischen Freud und Leid, nicht länger ausgeliefert ist. Aristoteles erkennt den Wert der philosophischen oder spirituellen Kontemplation an und sieht in ihr einen Grundzug im Leben von Menschen, die eine im echten und eigentlichen Sinne gute Entwicklung nehmen. Dennoch soll man sein Leben voll ausleben, wenn auch freilich immer mit Blick auf eine in sich stimmige, ausgeglichene Existenz, in der man sich nicht eines Bereiches seines Lebens beraubt, weil man es in einem anderen übertreibt. In der Welt des Aristoteles kann ein Mensch leicht allzu fromm sein. In Platons Welt hingegen kann ein Mensch gar nicht fromm genug sein.

|33|Aristoteles war Teleologe. Seiner Auffassung nach hat jedes Ding in der Natur sein eigenes telos, den wahren und eigentlichen Endzweck, auf den es gerichtet ist. Das telos einer Eichel beispielsweise ist es, eine gesunde Eiche zu werden, die aus eigener Kraft wiederum gesunde Eicheln hervorbringt. Damit etwas sein telos erreichen kann, muss es sich gut entwickeln und gedeihen. In seiner Ethik oder Tugendlehre sucht Aristoteles die persönlichen Tugenden zu bestimmen, die ein gutes menschliches Gedeihen möglich machen, die es dem Einzelnen ermöglichen, ein Leben in Fülle zu gestalten, das die Mühen lohnt, Erfolg verspricht und befriedigt, die Tugenden mithin, die einen anhaltenden Zustand tiefen Glücks und tiefer Zufriedenheit herbeiführen, den die alten Griechen eudaimonia nannten. Diese zu einer guten Entwicklung nötigen Tugenden decken sich mit dem, was Aristoteles »die goldene Mitte« nennt.

Um in seiner Einstellung dem eigenen Leben und anderen Menschen gegenüber die goldene Mitte zu erreichen, muss man eine Balance finden, einen gesunden Mittelweg zwischen diversen menschlichen Schwächen und dem Übermaß. Führt man sein Leben zu nachlässig oder zu verkrampft, dann verliert es seinen Einklang, ganz genau so wie eine Gitarre den rechten Klang verliert, wenn ihre Saiten nicht fest genug oder zu fest gespannt sind.

Die Tugend der Großzügigkeit beispielsweise liegt zwischen der menschlichen Schwäche des Geizes und dem Übermaß der Verschwendung. Ein geiziger Mensch erfährt Ablehnung, hat wenig Unterstützung zu erwarten und wird seinen Alltag kaum angemessen bestreiten können. Eine verschwenderische Person wiederum, die ihr Geld mit offenen Händen ausgibt, wird ausgenutzt werden und ihre finanziellen Mittel so weit erschöpfen, dass sie sich selbst und den von ihr abhängigen Menschen nicht mehr helfen kann. Einer Person hingegen, die die goldene Mitte der Großzügigkeit trifft, wird echte Neigung und Achtung entgegengebracht werden, sie kann sich über die Gesellschaft angenehmer Menschen freuen und wird über ausreichende Reserven verfügen, um zu verhindern, dass sie selbst und die von ihr Abhängigen für andere zur Last werden. Einer solchen Person wird |34|man sicher keine Unterstützung verwehren, weil sie sich das Recht erworben hat, um einen Gefallen zu bitten.

Wichtig ist Aristoteles’ Erkenntnis, dass Großzügigkeit oder jede andere Tugend eine Frage der besonderen Umstände ist, in der sich die betreffende Person befindet.Was ein reicher Mensch unter Großzügigkeit versteht, wird ein armer zum Beispiel als Verschwendung ansehen. Die alten Griechen haben am Tempel des Apollon in Delphi die Inschriften »Erkenne dich selbst« und »Nichts im Übermaß« angebracht. In ihrer Kultur war es eine allgemein anerkannte Norm, dass jeder Mensch anhand seiner eigenen Welt- und Selbstkenntnis versuchen soll, herauszufinden, worin seine gesunde Mitte besteht. Manche Menschen vertragen mehr Alkohol als andere, manche Menschen haben in angespannten oder gefährlichen Situationen stärkere Nerven als andere, manche Menschen verfügen von Natur aus über eine gesunde Grundkonstitution, andere indes nicht.Wir halten alle ein anderes Blatt in den Händen – ob durch Zufall oder durch die Götter –, doch es kommt allein darauf an, wie wir es ausspielen, und nur, wenn wir gut spielen, sichern wir uns das Glück.

Aristoteles’ Morallehre ist kein Regelwerk, das dogmatisch sagt: »Tu dies« oder »tu das«. Sie ist ein allgemeiner philosophischer und praktischer Lebensratgeber, der jedermann dazu auffordert, die eigene einmalige Person und Situation einer ehrlichen und intelligenten Bewertung zu unterziehen. Nur so können wir im Einzelnen entscheiden, wie wir leben müssen, um die Segnungen des wahren Glücks zu erlangen.

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