Читать книгу 42 Zitate großer Philosophen - Gary Cox - Страница 14

8 DE BEAUVOIR

Оглавление

Der Widerstand des Dings trägt das Handeln des Menschen wie die Luft den Flug der Taube.

(Simone de Beauvoir, Pour une morale de l’ambiguïté, S. 151. Erstveröffentlichung 1947)

Wie die gebürtige Pariserin Simone de Beauvoir (1908–86) in ihrer umfangreichen und auf mehrere Werke verteilten Autobiografie berichtet, stammte sie aus einer kleinbürgerlichen Familie, die bis an ihre finanziellen Grenzen ging, um sie auf eine erstklassige katholische Schule schicken zu können. Als Kind war sie tief religiös und überlegte sogar, Nonne zu werden. In ihrer frühen Jugend machte sie jedoch eine Glaubenskrise durch, aus der sie als bekennende Atheistin hervorging.

Brillant in ihren Leistungen, studierte sie sowohl an der Sorbonne als auch der École normale supérieure, wo sie 1929 ihren lebenslangen Freund und intellektuellen Sparringspartner Jean-Paul Sartre kennenlernte. Beide sind sie, immer noch vereint, in einer gemeinsamen Ruhestätte auf dem Friedhof von Montparnasse in Paris begraben, wohin viele grundfreie, angstgetriebene Existenzialisten pilgern, nicht zuletzt deshalb, weil er auch das Grab des früheren Skandaldichters Charles Baudelaire (1821–67) und dasjenige des Avantgarde-Dramatikers und -Romanschriftstellers Samuel Beckett (1906–89) beherbergt.

Genau wie Sartre war auch de Beauvoir mehrere Jahre als |48|Lehrerin tätig und bekleidete verschiedene Stellen in der französischen Provinz. Währenddessen entwickelte sie Ideen und Themen, von denen mit der Zeit eine enorme und nachhaltige Wirkung auf die Philosophie des Existenzialismus im Speziellen und auf die Geistesgeschichte im Allgemeinen ausging. Sie machte sich zunächst einen Namen als Romanautorin, dann auch als Dramatikerin, Philosophin und Biografin. Ihre beiden wichtigsten philosophischen Werke sind Das andere Geschlecht (1949) und Pour une morale de l’ambiguïté (1947; Für eine Ethik der Uneindeutigkeit).

Im Anderen Geschlecht, ihrem wohl bekanntesten Werk, untersucht sie die untergeordnete Rolle, die der Frau durch die Gesellschaft zugewiesen wird, aus zahlreichen Blickwinkeln – dem existenzialistischen, marxistischen, historischen, anthropologischen, biologischen, psychoanalytischen und literarischen. Der Mann, so de Beauvoir, wird als Subjekt bestimmt im Verhältnis zur Frau, die nur sein bloß Anderes abgeben soll. De Beauvoir verlangt, diese langandauernde Unterdrückung zu beenden, und fordert, dass die für die Emanzipation der Frau und die Wiederherstellung ihres Selbstseins notwendigen soziopolitischen Bedingungen geschaffen werden. Das andere Geschlecht war der Vorbote einer feministischen Revolution, die bis heute im Gang ist.

In der Ethik der Uneindeutigkeit vertritt de Beauvoir mit Philosophen wie Hegel und Kierkegaard die Auffassung, dass das Selbst unbestimmt oder uneindeutig sei. Von diesem Ausgangspunkt aus macht sie sich an die Begründung einer existenzialistischen Ethik. Ethik ist ihr zufolge überhaupt nur deshalb möglich, weil das Selbst uneindeutig ist. Wenn der Mensch von Natur aus eindeutig definiert oder festgelegt wäre, wenn er etwas Vorgegebenes wäre, dann wäre unmöglich daran zu denken, dass er irgendetwas Bestimmtes sein müsse. Dann könnte von seinem freien Streben nach einem bestimmten Zustand, sei es ein moralischer oder sonst irgendein anderer, keine Rede sein.

De Beauvoir teilt Sartres Ansicht, dass »der Mensch eine nutzlose Passion ist« (Das Sein und das Nichts, S. 1052), dass es ihm nicht gegeben ist, mit sich selbst als restlos zufriedenes und |49|erfülltes Wesen übereinzustimmen. Dennoch aber bewertet sie diese »Nutzlosigkeit« positiv.

Ein Mensch erreiche zwar nie die Übereinstimmung mit sich selbst, doch genau diese Unmöglichkeit sei es, die ihn als Mensch existieren lasse, die ihm eine echte Wahl ermögliche und wirkliche Freiheit gebe. De Beauvoir zufolge kann er das Sein, kann er die Welt entdecken und enthüllen, weil er kein Sein ist. Er kann sich selbst genau deshalb auf den Weg machen und herausfordern, weiterentwickeln und überwinden, weil er von Natur aus nicht festgelegt ist. Sein Wesen, so sagt sie oft, besteht darin, dass er keines hat. Ein Mensch ist vor allen Dingen aufgrund seiner Uneindeutigkeit imstande, authentisch zu leben und seine unveräußerliche Freiheit als letzten Wert zu bejahen, statt sie zurückzuweisen und zu bedauern.

Unser Eingangszitat berührt speziell de Beauvoirs Sicht auf die menschliche Freiheit. Auch in dem Punkt weiß sie sich mit Sartre einig. Beide nämlich werden nicht müde zu betonen, dass ein Mensch seine Freiheit unter keinen Umständen aufgeben kann. Er kann sich unter keinen Umständen zu einem bloßen, von der materiellen Welt kausal bestimmten Objekt machen, weil schon der Versuch dazu eine freie Wahl darstellt. Ein Mensch kann sich unter keinen Umständen zu einem bloßen Objekt machen, weil er, wie auch immer er dies anzustellen versucht, eine Wahl treffen und sich entschließen muss, einen solchen Versuch zu unternehmen.

Der Mensch könne unmöglich nicht wählen, weil auch das Nichtwählen eine Wahl sei, oder wie Sartre sagt: »Nicht wählen heißt ja wählen, nicht zu wählen« (Das Sein und das Nichts, S. 832, siehe Zitat 37, Sartre). Der Versuch, die eigene Freiheit aufzugeben, indem man sich so verhält, als habe man keine Wahl, ist im Übrigen ein Hauptmerkmal dessen, was Existenzphilosophen Unwahrhaftigkeit nennen (siehe Zitat 11, Heidegger und Zitat 19, Kierkegaard).

Freiheit meint folglich nicht, von allen Zwängen vollständig enthoben und zu nichts gezwungen zu sein – nicht die Art von Freiheit, mit der ein Mensch sich selbst vormachen könnte, sie sei |50|der eigentliche Preis, wenn er in einer Lotterie einen Millionengewinn machen würde. Freiheit meint vielmehr, sich ständig selbst wählen zu müssen durch die Handlungen, zu deren Ausführung man sich in der Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten und Widerständen der eigenen Situation entschließt. Ohne eine Situation, ohne die konkreten Umstände, in denen ein Mensch ständig die Entscheidungen trifft, die ihn zu dem machen, der er ist, könnte er ebenso wenig frei sein, könnte er ebenso wenig existieren, wie de Beauvoirs Taube ohne die Luft fliegen könnte, die ihrem Flügelschlag einen Widerstand entgegensetzt.

Existenzialistische Philosophen bezeichnen die unabdingbare Widrigkeit und Widerständigkeit der Dinge und Situationen mit dem Ausdruck Faktizität. Faktizität ist das, nach deren Überwindung die Freiheit strebt, wenngleich diese freilich stets auf jene angewiesen ist, um ihre Überwindung sein zu können. Sartre bezieht sich auf die Faktizität als den »Widrigkeitskoeffizienten der Dinge« (Das Sein und das Nichts, S. 833). Faktizität, das ist die umgebende Welt, dadurch dass sie den eigenen Handlungen und Vorhaben einen dauernden Widerstand entgegensetzt. Faktizität, das sind die Schwierigkeiten und Hürden, die Verwicklungen, Hindernisse und Entfernungen, das ist die Schwere und Unbeständigkeit, die Zerbrechlichkeit und Komplexität, der Luftwiderstand und so weiter. Diese ständigen Widrigkeiten und Widerstände unterschiedlicher Art aber machen Handlungen eigentlich erst möglich, weil nämlich Handlungen in allen Fällen Versuche zur Faktizitätsüberwindung sind.

In meinen früheren Ausführungen zur Faktizität – etwa in dem Buch Wie werde ich Philosoph? – habe ich mir im Zusammenhang meiner ausdrücklichen Würdigung von de Beauvoirs ausgezeichneter Taubenanalogie erlaubt, sie wie folgt zu ergänzen: »Der Widerstand des Dings [Faktizität] trägt das Handeln des Menschen [Freiheit] wie die Luft den Flug der Taube« (Pour une morale de l’ambiguïté, S. 151).

De Beauvoir geht so weit zu behaupten – sehr überzeugend, wie ich finde –, dass menschliches Bewusstsein ohne die nach Überwindung verlangende Faktizität ein Ding der Unmöglichkeit |51|wäre.Wie ein anhaltender freier Flug oder die ständige Transzendenz auf die eigene Zukunft hin, sei das Bewusstsein auf etwas angewiesen, das es transzendieren könne. Was es fortwährend transzendiere, sei die Faktizität. Das Bewusstsein strebe fortwährend danach, dem Gefängnis der Faktizität zu entfliehen, ohne dass es dazu je in der Lage wäre. Das fortwährende Entfliehen vor der Faktizität sei Bewusstsein und umgekehrt.

42 Zitate großer Philosophen

Подняться наверх