Читать книгу Römer und der schöne Herr - Geert Karsien - Страница 6

Kapitel 1

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Markus Römer hatte schon bessere Morgen erlebt. Das Bett war zu breit für ihn alleine und obendrein auch noch leer. Sein Kopf tat weh – ein Glas Rotwein zu viel am Vorabend. Mindestens eins.

Er lag eine Weile halbwach im Bett, bevor ihn der Druck auf der Blase schließlich in die Senkrechte trieb. Mit dröhnendem Kopf schlurfte er ins Bad, griff auf dem Weg drei Ibuprofen und spülte sie mit Leitungswasser runter.

Es war heiß, selbst jetzt am Morgen. Die Spätsommernacht hatte kaum Abkühlung gebracht. Vor dem weit offenen Fenster stampfte laut dröhnend eine Diesellok entlang, zog gemächlich eine lange Schlange Güterwaggons hinter sich her. Viel befahren war die Eisenbahnstrecke hinter dem Haus nicht, dafür aber machte jeder Zug, der vorbeifuhr, einen Heidenradau. Das drückte die Miete, was Römer ausgesprochen entgegen kam.

Zähneputzen, Rasieren, Duschen. Anschließend, vor dem beschlagenen Spiegel, fühlte er sich besser, musterte sein Bild halb kritisch, halb selbstzufrieden im Dampf: Markus Römer, den alle Welt nur „Tullius“ oder „Tull“ nannte, seit ihm in der siebten Klasse sein Geschichtslehrer diesen Spitznamen als Witz angehängt hatte: „Markus Tullius Römer, wie Markus Tullius Cicero, der Römer“. Immerhin weniger langweilig, als „Markus“ gerufen zu werden. Ein Meter achtzig, schlank, breitschultrig, aber mit leider immer weniger definierten Bauchmuskeln. Tull atmete tief aus. Besser. Er sollte mehr Sport treiben und weniger trinken.

Markus „Tullius“ Römer. Geboren und aufgewachsen in Brandenburg an der Havel als Sohn eines Arztes und einer Erzieherin. Rumtreiber, Weltenbummler nach der Schule, einer, der von Job zu Job wechselte, häufig am Rande der Legalität, aber nie ganz und gar auf der falschen Seite des Gesetzes. Dann irgendwann Studium, erst erfolglos ein paar Semester Jura, weil er dachte, das sei einfach, Umstieg auf Geschichte und Slawistik, weil er in der Schule ein bisschen Russisch gelernt hatte. Während eines Gastsemesters in der kroatischen Hauptstadt Zagreb hatte er eine Kommilitonin kennengelernt, die ihm zunächst beim Studium der Landessprache half, bald auch beim Studium der Landessitten. Und die konnten ziemlich locker sein, wie sie ihm beibrachte. So war er nach seinem Gastsemester nicht nach Hause zurückgefahren, sondern in Zagreb geblieben. Hatte mit Mühe und Not irgendeinen Studienabschluss gebastelt und hielt sich seither mit Gelegenheitsaufträgen über Wasser: Deutschunterricht – häufig und schlecht bezahlt; Übersetzungsarbeiten – weniger häufig und mäßig bezahlt; Dolmetsch-Aufträge – gut bezahlt, aber selten. Seit Jahren wohnte er jetzt schon in der kroatischen Hauptstadt Zagreb, wollte nicht weg und war sich doch nicht sicher, ob er dort auch zu Hause war, lebte weiter wie ein alt gewordener Student. Die Sprachlehrerin war irgendwann gegangen, arbeitete mittlerweile für die kroatische Niederlassung einer deutschen Firma; die Kenntnisse, die sie ihm vermittelt hatte, waren geblieben.

Kaffee. Er brauchte Kaffee! Tull kleidete sich an – eine leichte Hose und ein verwaschenes T-Shirt reichten aus in der Hitze – und schlug die Wohnungstür hinter sich zu. Unten im Haus – einem Altbau aus der Jahrhundertwende – befand sich ein Café. Er setzte sich an einen freien Tisch, der Kellner brachte ungefragt einen Cappuccino und ein frisches Hörnchen. Man kannte sich. Eine Straßenbahn ratterte vorbei, hinterließ einen Schwall öliger und leicht faulig riechender Luft. Um die Tische des Cafés herum suchten Tauben nach Krümeln.

Tull griff sich eine bereits zerlesene Ausgabe der Tageszeitung „Jutarnji List“ und studierte die jüngsten Nachrichten: Der Ministerpräsident hatte etwas Unmögliches gesagt, der Bürgermeister hatte hochfliegende Pläne geäußert, irgendein Minister war angeblich mit einem knackigen Schlagersternchen am Strand eines Badeorts gesehen worden, während seine matronenhafte Gattin ihn bei einer Sitzung in Brüssel wähnte. Das Übliche.

Das Telefon klingelte. Nanu, dachte Tullius, wer war das denn? Vielleicht jemand, der dringend etwas übersetzt haben wollte? Ein Urlauber, der sich in eine Ferienwohnung an der Küste verguckt hatte, sie kaufen wollte und jetzt den Vertrag auf Deutsch brauchte? Oder gar ein Unternehmer, der als Aussteller auf der Herbstmesse einen Dolmetscher suchte? Messeverträge waren ein Hauptgewinn, da konnte man richtig absahnen.

„Römer“, meldete er sich.

„Abraham hier“, dröhnte ihm eine joviale Stimme entgegen.

Tull war enttäuscht. Martin Abraham war ein entferner Bekannter, Mitarbeiter an der deutschen Botschaft. Ein großer und ungemein fetter Bär von einem Mann, freundlich im Auftreten und sehr gut vernetzt. Was Abraham eher nicht war: Eine Quelle lukrativer Verträge. Die Botschaft hatte ihre eigenen Dolmetscher und Übersetzer.

„Herr Botschaftsrat, was für eine Überraschung!“ Tullius bemühte sich, Freude in seine Stimme zu legen. Man wusste ja nie.

„Reden Sie mich doch bloß nicht so gespreizt an“, erwiderte Abraham. „Mein Name reicht völlig.“

„Tut mir leid“, sagte Tullius, der genau wusste, dass Abraham auf seinen Titel Wert legte, das aber nicht zugeben mochte. Ein bisschen Schmeichelei konnte nicht schaden.

„Lieber Herr Römer, ich frage mich, ob Sie etwas Zeit für mich hätten?“ Nanu – was war das denn? ‚Lieber Herr Römer‘ und ‚ob Sie etwas Zeit für mich hätten?‘ Solche Schalmaientöne hatte Tull von Abraham noch nie gehört.

„Lassen Sie mich sehen. Heute wird es schwierig“, log Tullius. „Ich habe eine dringende Übersetzungsarbeit.“ Falls Abraham einen Auftrag für ihn hatte, konnte es nicht schaden, sich zu zieren, um den Preis in die Höhe zu treiben.

„Schade“, hörte er den Botschaftsrat sagen. „Ich hätte da möglicherweise eine interessante Sache für Sie. Nicht allzu aufwändig und potentiell lohnend.“

„Worum handelt es sich denn?“ Tullius hatte angebissen.

„Das erkläre ich Ihnen am besten persönlich. Kommen Sie doch bei mir vorbei – sagen wir, in einer guten halben Stunde?“

Obwohl er eben noch Beschäftigung vorgetäuscht hatte, stimmte Tullius zu. „Was schert mich mein dummes Geschwätz von vor wenigen Minuten?“ fragte er sich selbst und legte auf.

Er ließ den Wagen stehen; allzu gerne bewegte das altersschwache Gefährt sich ohnehin nicht mehr. Es war eine halbe Stunde Fußweg zur deutschen Botschaft. Der Weg führte überwiegend durch die Mitte des 19. Jahrhunderts bebaute Unterstadt. Viele Fassaden waren in Krieg, Diktatur, Sozialismus, wieder Krieg und Wirtschaftskrise ergraut, der Putz abgebröckelt, viele mit Graffiti besprüht. Dennoch zeigten sich zunehmend die Spuren eines frischen Aufschwungs: Mehr und mehr renovierte Häuser, neue Straßenlaternen, reparierte Bürgersteige. Schilder mit der stolzen Flagge der Europäischen Union als Dank dafür, dass sie hier viele Mittel einsetzte.

Die deutsche Botschaft duckte sich mit grauen Steinfassaden und bronzierten Fenstern zwischen neugebauten Hochhäusern an der Avenija Vukovar, vormals Allee der proletarischen Brigaden. Kurz nach halb zehn schritt Tull zur Einlassschleuse, fragte den mürrischen Pförtner nach Botschaftsrat Martin Abraham. Wenige Minuten später kam der höchstpersönlich herangeschnauft, um ihn abzuholen. In einen zu engen Anzug gepresst, schwitzte der dicke Mann sichtlich in der Glut; auf seiner Stirn standen Wasserperlen, und unter seinen Achseln schien das Hemd klatschnass.

Tull folgte dem massigen Körper des Botschaftsrats in dessen Büro, grüßte auf dem Weg freundlich dessen Vorzimmerdame, eine schlanke Mittvierzigerin mit dem Familiennamen „Drache“, was ihr ganz bestimmt uncharmante Spitznamen eintrug. Abraham ließ seine zwei-Zentner-plus seufzend auf das Sofa fallen. Die Ledergarnitur – amtliche Ausstattung – stöhnte auf.

„Kaffee?“ Tull nahm dankend an. Der Botschaftsrat rief ins Vorzimmer: „Frau Drache, können Sie uns bitte zwei Tassen Kaffee bringen? Und eine Flasche Mineralwasser?“ Dann wandte er sich wieder seinem Besucher zu: „Herr Römer, ich hätte eventuell einen Auftrag für Sie“.

Der Vorzimmerdrache kam mit zwei dampfenden Tassen Blümchenkaffees, zwei Gläsern und einer grünen Flasche „Jamnica“-Wasser herein, stellte alles ab. Bis sie fort war, sagte der Botschaftsrat nichts, sondern wischte sich nur die nasse Stirn ab. Er schenkte die Gläser mit Mineralwasser voll und leerte seines auf einen Zug. „Ah, besser“, meinte er. Dann setzte er die Unterhaltung fort:

„Heute Morgen kam ein Anruf aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. Der Leitungsstab höchst selbst – das Parlamentsreferat, um genau zu sein. Offenbar hat irgendein Abgeordneter dort einiges aufgemischt. Ein deutscher Staatsangehöriger sei hier im Lande verschwunden, und die kroatischen Behörden kümmerten sich nicht darum.“

Tull nickte stumm. Er sah noch nicht so ganz, was das mit ihm zu tun hatte.

Abraham fuhr fort: „So soll die deutsche Botschaft im schönen Land Kroatien jetzt Wunder wirken und den verlorenen deutschen Sohn finden. Worauf die hiesige Polizei – die nach aller Erfahrung professionell arbeitet – bestimmt nur gewartet hat.“

„Und was wollen Sie von mir?“ erkundigte sich Tullius jetzt doch.

Abraham lächelte. „Sie könnten mir aus einer Verlegenheit helfen. Sehen Sie, so einen Auftrag aus dem Leitungsstab kann ich nicht liegen lassen. Sonst reißt mir die Entourage des Ministers den Kopf ab oder versetzt mich zumindest nach Masar-e-Scharif.“

„Wo ist das denn?“

„In Afghanistan... Aber egal. Ich muss etwas veranlassen, Aktivität vorschützen. Andererseits wünschen die Kroaten garantiert nicht, dass die deutsche Botschaft sich in die Arbeit ihrer Polizei einmischt. Deswegen mein Gedanke: Könnten Sie, als Privatperson, vielleicht nach Split fahren und sich ein bisschen nach dem verschwundenen Deutschen umschauen? Dann kann ich Berlin gegenüber Tätigkeit vorweisen, ohne den Behörden hier unmittelbar auf die Füße zu treten.“

Tullius schüttelte den Kopf. „Ich bin doch kein Detektiv.“

„Sie würden mir einen großen Gefallen tun. Die Familie des Vermissten wohnt offenbar im Wahlkreis eines Parteigenossen des Ministers.“

„Das mag ja sein, aber dennoch bin ich nicht der Richtige dafür.“

Der Bär ließ sich nicht beeindrucken. „Der Verschwundene heißt übrigens Christian Schönherr“, fuhr er fort. „Wohl so ein Reiseunternehmer, organisiert in Dalmatien Gruppenausflüge mit Segelbötchen.“

Erneut unterbrach ihn Tull. „Oh Gott, doch nicht die ‚Adriatic Adventure‘?“

Abraham nickte. „Doch, genau. Das sagt Ihnen etwas?“

„Die ‚Adriatic Adventure‘ ist eine Art Flottillensegeln. Die Organisatoren vermitteln Segelyachten an junge Leute und organisieren gemeinsame Törns. Tagsüber wird gesegelt, jeden Abend wird an einem anderen Ort gefeiert. Das Ganze ist sehr umstritten: Die Flottillen nehmen viel Platz weg, und andere Urlauber klagen, die Feiern seien sehr laut und sehr feucht. In den hiesigen Medien wird ziemlich kontrovers darüber diskutiert.“

„Worin besteht bei der Sache das ‚Adventure‘?“

„Keine Ahnung. Wenn ich den bösen Stimmen Glauben schenke, in erster Linie darin, jeden Morgen hinreichend viel Alka Seltzer aufzutreiben.“

Der Botschaftsrat verzog seine fleischigen Backen zu einem Grinsen. „Um zusammenzufassen: Der Organisator dieser Reisen ist vor einigen Wochen verlustig gegangen. Meldet sich nicht mehr bei den lieben Verwandten zu Hause. Die haben nichts Besseres zu tun, als das Wahlkreisbüro des nächsten Bundestagsabgeordneten madig zu machen, und der ist eben ein Spezi unseres BM – Verzeihung, des Herrn Bundesministers. Der Minister gibt die Sache ab an einen Mitarbeiter, und der wiederum findet, wir hätten uns der Sache anzunehmen. Un-ver-züg-lich. Blöderweise funktioniert das im wirklichen Leben nicht so, wie man sich das im Raumschiff Berlin vorstellen mag. Nicht nur wegen Unwillens der kroatischen Behörden, sondern auch, weil wir im Moment personell unterbesetzt sind: Es ist Ferienzeit, einer unserer Mitarbeiter ist versetzt worden und sein Nachfolger nicht in Sicht, eine andere Kollegin ist im Mutterschaftsurlaub, und um das Maß voll zu machen, ist unser wichtigster Dolmetscher längerfristig erkrankt. Das Herz… Da fällt mir ein: Es kann gut sein, dass wir dessen Stelle bis zu seiner Genesung neu besetzen müssen. Wäre das nicht etwas für Sie?“

Tullius musste kein Esel sein, um eine Möhre zu erkennen, wenn man sie ihm direkt vor die Nase hielt. „Sie meinen, es wäre gut für eine etwaige Bewerbung, wenn ich diesen Auftrag annähme?“

Der Botschaftsrat nickte. „Ich kann nichts versprechen. Aber sollte die Stelle ausgeschrieben werden, und sollte es mehrere Bewerber geben – dann wäre es natürlich von Vorteil, schon einmal erfolgreich in einer sensiblen Sache für uns gearbeitet zu haben.“

Eine feste Dolmetscherstelle bei der deutschen Botschaft! Das war keine schlechte Aussicht für Tullius, der sich mit seinen Gelegenheitsaufträgen mehr schlecht als recht über Wasser hielt. Er nickte. „Na gut. Ihr Wort sei mir Befehl.“

Abraham lächelte. „Sehr schön Dann fahren Sie am besten gleich nach Split, reden mit den Leuten da. Honorarkonsul Purini kann Ihnen ein paar Türen öffnen. Morgen oder übermorgen kommen Sie zurück und berichten bitte, Sie hätten alles Menschenmögliche getan, auf der Suche nach dem verschollenen Herrn Schönherr unten an der dalmatinischen Felsenküste jeden Stein einzeln umgedreht. Ich bezahle Ihren üblichen Satz, ihre Unkosten, und Sie verdienen sich ein Fleißbienchen für Ihre Bewerbungsmappe.“

Tull erhob sich. „In Ordnung. Ich kann meine Termine für die nächsten Tage absagen. Aber Hoffnung auf Erfolg mache ich Ihnen nicht!“

Abraham schenkte ihm ein Bärenlächeln. „Ihren Erfolg, lieber Herr Römer, lassen Sie meine Sorge sein!“

Römer und der schöne Herr

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