Читать книгу Römer und der schöne Herr - Geert Karsien - Страница 7

Kapitel 2

Оглавление

Ohne sonderliche Eile schlenderte Tull wieder nach Hause und suchte ein paar Sachen zusammen, die er in Split brauchen würde. Dann stieg er in seinen stark alternden Golf, den der deutsche TÜV aus guten Gründen vor deutlich mehr als zwei Jahren zuletzt gesehen hatte, und machte sich auf den Weg an die dalmatinische Küste. Heute, in der Mitte der Woche, war der Verkehr leicht – ganz im Gegensatz zu dem Verkehrschaos, das am Wochenende in der warmen Jahreszeit entstand, wenn sich regelmäßig halb Mitteleuropa auf der Rennstrecke an die Adria zu tummeln schien. Bei Karlovac war Tull versucht, die Autobahn zu verlassen und die alte Landstraße, vorbei an den Plitvicer Seen und der ehemaligen Serbenhochburg Knin, zu nehmen. Das schien ihm dann aber doch zu riskant: Falls der Golf liegen blieb, war auf der Autobahn ein Abschleppdienst schnell zur Stelle – in den Wäldern und menschenleeren Karstfeldern links und rechts der Landstraße konnte man unter Umständen lange auf Hilfe warten.

Obwohl er die Strecke schon öfter gefahren war, hatte Tull nie herausfinden können, wo genau man dir gemäßigte Zone verließ und in den Mittelmeerraum gelangte. Irgendwo musste es doch einen Punkt geben, an dem eine Steineiche sich hervorwagte, der erste Olivenbaum wuchs. Er hatte diesen Punkt nie entdeckt. Es war jedes Mal so, dass Tullius' Blick irgendwo von der Straße abwich und er auf einmal dachte: „Aha. Orangenbäume. Oleanderbüsche. Palmen. Mittelmeer.“

Nachdem er die Autobahn verlassen und auf die Einfallstrecke nach Split gebogen war, bewunderte er ein römisches Aquädukt, das in stoischer Ruhe seit knapp zweitausend Jahren ein flaches Tal überbrückte. Dahinter standen riesige Einkaufszentren mit vermutlich kürzerer Lebensdauer und ganz gewiss geringerem ästhetischen Anspruch.

Er parkte seinen Wagen in der Nähe der Riva, der breiten Fußgängerpromenade am Hafen, und spazierte die wenigen Meter zum Büro des deutschen Honorarkonsuls. Obwohl es spät in der Saison war, drängten sich Menschen dicht an dicht – Touristen. Kaum ein Einheimischer wäre jetzt, mitten am Nachmittag, auf den Gedanken gekommen, sich in ein Café zu setzen, selbst wenn dort große Sonnenschirme Schatten spendeten: Das machte man später am Tage, wenn die Arbeit erledigt war, die Sonne niedrig stand und eine kühlende Brise vom Meer her wehte.

Honorarkonsul Željko Purini hatte sein Büro in einem der stolzesten Gebäude der alten Kaiserstadt, einem Palazzo mitten an der Riva. Vom Balkon im ersten Stock hing schlapp die deutsche Flagge, neben der Halterung das schwarz-rot-goldenen Blechoval mit dem Bundesadler. Der Hausflur war kühl, dunkel und roch ein wenig feucht. Tull stieg die breiten Stufen hinauf, klingelte. Die Sekretärin öffnete: „Sie müssen Herr Römer sein. Die Botschaft hat sie angekündigt. Herr Purini freut sich auf Sie.“

Tull hatte den Honorarkonsul einige Male bei Empfängen und auf der Zagreber Messer getroffen. Er war kein Berufsbeamter, sondern ein wohlhabender Geschäftsmann, der das Konsulamt als ehrenvolle Nebenaufgabe ausübte. Trotz seines italienischen Namens war er kroatischer Staatsangehöriger. Deutsch sprach er fließend, aber nicht akzentfrei. Für einen Dalmatiner ungewöhnlich, war Purini klein und wirbelig. Jetzt kam er in seinem Maßanzug aus dem Büro herausgestürmt, empfing Tull mit offenen Armen und unbegründetem, mediterranem Elan: „Tullius! Wie schön! Was für eine angenehme Überraschung…“ Seine Augen funkelten hinter einem goldenen Brillengestell. „Sag mir, mein Freund, hast Du schon zu Mittag gegessen?“ Tull nickte – das stimmte zwar nicht, aber wenn er jetzt mit Purini essen ginge, würde das vermutlich eine Angelegenheit von mehreren Stunden werden, in deren Verlauf auch eine Flasche Wein geleert werden würde. An Arbeiten wäre dann wohl nicht mehr zu denken. „Danke, Herr Honorarkonsul, ich habe unterwegs gegessen.“

Purini runzelte die Stirn. „Warum so formal?“ rief er. „Wir waren doch beim ‚Du‘, seit jenem Abend im letzten Herbst bei der Messe…“ Tullius hatte eine verschwommene Erinnerung daran. Er hatte zwischen Purini und einem deutschen Küchengerätehersteller gedolmetscht. Nicht dass der kleine Konsul das nötig gehabt hätte – aber er hielt es vermutlich für eine Frage des Prestige, mit einem Dolmetscher in Verhandlungen zu gehen. Jedenfalls hatte ein feucht-fröhlicher Ausflug erst in eines der besten Restaurants der Stadt und später durch die zahlreichen Kneipen der Altstadt zu einem Vertragsabschluss geführt, mit dem Purini äußerst zufrieden war.

„Auf ein Eis lade ich Dich gerne ein“, schlug Tull vor. Er erinnerte sich, dass der Konsul dafür eine Schwäche hatte.

Der wehrte ab: „Kommt überhaupt nicht in Frage. Wenn Du in Split bist, bezahle ich. Aber ein Eis essen – das ist eine gute Idee. Komm, wir können eine Erfrischung brauchen!“

So begleitete Tull den schmächtigen Dalmatiner die Treppe wieder hinab und hinaus auf die Riva, von dort durch ein kleines Tor in der Stadtmauer zu einer Eisdiele gleich um die Ecke. Unter dem Glastresen häuften sich Berge frischen Speiseeises in den verschiedensten Geschmacksrichtungen: Von den Klassikern Vanille, Erdbeere, Nuss und Schokolade bis zu modernen Varianten, wie Salzkaramell (hellbraun und körnig), Naturkakao (tiefschwarz und bitter) und zweifelhaften Eigenkreationen – Tull entdeckte Čokolino-Griesbrei und Neapolitanerwaffel. Er entschied sich für Joghurt-Melone; Purini – nicht ohne vorheriges, eingehendes Studium – für eine doppelte Portion Schokoladeneis. Ihre leicht tropfenden Waffeln in der Hand, schlenderten sie zurück zum Büro des Konsuls.

„Botschaftsrat Abraham hat mir schon erzählt, warum Du kommst“, eröffnete Purini. „Du suchst nach diesem Christian Schönherr.“

„In der Tat. Kennst Du ihn?“ Die Frage war berechtigt. Der Honorarkonsul kannte Gott und die Welt. Er hatte seine Hände in ziemlich vielen Unternehmungen in Split, in der Region Dalmatien, und im ganzen Land. Den Grundstein für sein erhebliches Vermögen hatte er bereits vor Jahrzehnten, zu jugoslawischer Zeit, mit der Herstellung von Kühlapparaturen gelegt, wobei er die Einschränkungen der sozialistischen Arbeiterselbstverwaltung recht kreativ ausgelegt hatte: Der junge Željko Purini führte ein Entwicklungsbüro für Kühlaggregate sowie, verbunden in seiner Person als Geschäftsführer, eine gesonderte Firma, die Kompressoren und Kühlrippen herstellte. Sein Bruder Matija Purini hatte eine dritte Firma, die Kühlventilatoren baute. Ein weiteres Unternehmen, registriert auf einen Cousin namens Marjan Purini, montierte dann die von Purini und Purini gelieferten Kompressoren, Kühlrippen und Ventilatoren… Jede dieser Firmen hatte die im sozialistischen Jugoslawien gesetzlich erlaubte Höchstzahl an Mitarbeitern. Wie es der Zufall wollte, führte Purinis Ehefrau Zdravka ein kleines Unternehmen, das Klimaanlagen und Kühlgeräte vermarktete und seine Schwägerin Branka ein weiteres, das Verwaltungs- und Buchhaltungsdienstleitungen für Firmen im Kühlsektor anbot. Die jugoslawischen Behörden hatten die engen Geschäftsbeziehungen zwischen den vielen, eigenständigen Unternehmungen in den Händen der vielköpfigen Familie Purini stets toleriert, was möglicherweise durch den Umstand befördert wurde, dass die Häuser höherer sozialistischer Funktionäre durchweg mit Purini-Klimaanlagen ausgestattet waren. Dabei handelte es sich selbstverständlich um Ausschussware, kostenlos abgegeben, da am Markt nicht verkäuflich, aber wundersamerweise dennoch funktionsfähig. Purini-Geräte funktionierten sogar ausgezeichnet – sonst hätten nicht so viele von ihnen den Weg über die Adria gefunden, wo sie in einem italienischen Schuppen mit dem Schild „Made in EU“ versehen und europaweit erfolgreich verkauft wurden. Dieser Vertriebsweg hatte zwar mit dem EU-Beitritt Kroatiens seine Attraktivität verloren, aber die Geschäfte liefen dennoch weiter wie geschmiert.

Auf Tulls Frage nach Schönherr zuckte der geschäftstüchtige Honorarkonsul die Achseln und drehte die Handinnenflächen nach außen. „Ich kenne ihn flüchtig. Sein Bedarf an Kühlaggregaten ist begrenzt, aber ein paar der größeren Yachten, die seine Leute mieten, haben Klimaanlagen – und die gehören gewartet. Insofern haben wir Geschäftsbeziehungen.“

Tull lächelte. „Ich wusste schon: Du kennst jeden, der in Split und Umgebung zum Wirtschaftsleben gehört.“

„Ja, aber ich muss sagen: Besonders sympathisch ist mir dieser Schönherr nicht.“

„Warum?“

Purini zuckte erneut die Achseln. „Keine Ahnung. Irgendetwas stört mich an ihm. Er achtet sehr auf sein Aussehen und kommt im Gespräch sehr effizient und zielgerichtet rüber – aber da ist etwas... Ich kann den Finger nicht darauf legen.“

„Könnte es damit zu tun haben, dass Du sein Geschäftsmodell nicht magst?“

„Mein Ding ist es jedenfalls nicht. Du weißt, wie das funktioniert: Er organisiert diese Segelkreuzfahrten auf Charteryachten. Seine Zielgruppe sind wohlhabende junge Leute aus der ganzen Welt. Die registrieren sich für eine Kreuzfahrt, er stellt die einzelnen Gruppen zusammen, die auf ein Boot gehen. Auf jedes Boot kommen so viele Gäste wie irgend möglich. Am liebsten würde er noch welche im Backofen schlafen lassen.“

„Klingt eigentlich nach einer Menge Spaß.“

Purini nickte. „Mag sein“, gab er widerwillig zu. „Vielleicht bin ich einfach nur zu alt dafür. Und eines muss ich sagen: Der Laden brummt. Schönherr kann sich vor Buchungen nicht retten.“

Tull nickte. „‚Adriatic Adventure‘ macht geschickte Werbung. Alles über soziale Medien – Facebook, Instagram, YouTube... Bekannte Blogger werden kostenlos mitgenommen. Die dokumentieren die Reisen und stellen die Aufnahmen ins Netz. Das verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Bilder und Videos sind gut gemacht.“ Er zog sein Handy aus der Tasche. „Hier, schau mal.“ Er rief einen Film auf, zeigte ihn dem Konsul. Eindrucksvolle Landschaftsaufnahmen, alte Städte, türkisgrünes Meer, Segelyachten mit weißen Segeln unter einem tiefblauen Himmel. Dazwischen gutaussehende, muskulöse junge Menschen, überwiegend in Badekleidung, die Frauen gerne so aufgenommen, dass man knackige Hinterteile oder üppige Oberweiten bewundern konnte. Breitschultrige Männer sprangen vom Deck eleganter Yachten ins Meer, tauchten wie Delphine, schüttelten sich Wassertropfen aus den Haaren. „Wenn ich mir das ansehe, überlege ich mir glatt, ob ich nicht selber mitreisen will. Wenn ich denn das Geld dafür auftreiben kann.“

Purini war nicht beeindruckt. „Äh“, meinte er abschätzig.

Es klopfte. Eine Frau steckte den Kopf durch die Tür. „Herr Konsul, wir hätten einen Termin bei der Polizei für Herrn Römer. Kommissar Martinić, Saša Martinić, leitet die Ermittlungen und könnte ihn heute noch treffen, wenn wir uns beeilen.“

„Danke, Tanja.“ Purini wandte sich Tull Römer zu. „Ist es in Ordnung, wenn Frau Bilić Dich zu Martinić begleitet? Sie hat den besten Draht zur Polizei, kümmert sich immer, wenn einer von Euren deutschen Staatsangehörigen mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Und von denen gibt es mehr als genug.“

Tull versuchte, das Angebot abzuwehren – er sollte ja nicht als Vertreter der deutschen Botschaft, sondern als Privatperson auftreten: „Ich kann auch alleine zur Polizei finden.“ Purini ließ das nicht gelten. „Kommt nicht in Frage. Frau Bilić geht da mit Dir hin.“

Es war keinen Widerstand wert. Tullius stand auf und bot Purinis Mitarbeiterin die Hand. „Markus Römer. Aber alle nennen mich Tullius oder Tull“. Sie ergriff die Hand und schüttelte sie kurz, ohne den Eindruck zu erwecken, dass sie ihn sympathisch fände. „Tanja Bilić“, sagte sie überflüssigerweise, ohne hinzuzufügen, dass sie mit Vornahmen angeredet werden dürfe. Die Frau war klein – Tull schätzte sie auf einen Meter sechzig – und schlank. Ihr Gesicht blickte streng, die braunen Haare hatte sie hochgesteckt. Sie trug lange, dunkelblaue Hosen, eine helle Bluse und ungeachtet der Spätsommerhitze ein Tuch um die Schultern. Geschmackvoll und sehr geschäftsmäßig. Tull hatte den Verdacht, dass Purini sie in sein Konsulbüro aus dem mittleren Management einer seiner Firmen übernommen hatte.

Sie gingen nebeneinander die Stiege hinab. „Wie kommen wir zur Polizei?“ fragte er. „Eine Fensterscheibe einwerfen und auf ein Polizeiauto warten?“ Bilić schien den flachen Witz nicht wahrgenommen zu haben. Sie verzog keine Miene. „Am besten nehmen wir Ihr Auto“, erwiderte sie todernst. „Zum Laufen ist es zu weit, bei den Temperaturen.“ Sie sprach Deutsch wie eine Muttersprachlerin, nur dass sie das „r“ ein wenig rollte.

„Wo haben Sie Deutsch gelernt?“ wollte Tull wissen. Die Frage konnte sensibel sein: Viele Kroaten, die gut Deutsch sprachen, gaben nicht gerne zu, dass sie als sogenannte Gastarbeiterkinder in Deutschland gelebt hatten, was sie als Aufenthalt zweiter Klasse empfunden hatten; anderen war es unangenehm, dass sie während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland geflohen waren. Nicht so Bilić. „Auf der deutschen Schule“, antworte sie. „Und später habe ich in Zagreb Germanistik studiert.“

„Längere Aufenthalte in Deutschland?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ein Gastsemester in Mainz. Die Universitäten arbeiten zusammen.“

„Sie sprechen wirklich gut. Ich hätte Sie für eine Muttersprachlerin gehalten.“ Bilić antwortete nicht.

Tull versuchte, die Unterhaltung wiederzubeleben. „Wenn Sie aus Zagreb kommen, was machen Sie dann in Split?“

„Arbeiten.“

„Wow, das war jetzt eine ausführliche Antwort!“

Die Frau drehte den Kopf zu ihm und schaute grimmig. „Wollen Sie mich verhören? Ich dachte, wir seien erst auf dem Weg zur Polizei.“

„Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“ Zu seinem Erstaunen lächelte Bilić jetzt, wenn auch nur ganz schwach. „Tut mir leid. Ich habe es nicht böse gemeint.“

Trotzdem war die Stimmung gespannt, als sie durch die Außenbezirke zur Polizeistation fuhren. Tull hatte innerhalb weniger Minuten vollständig die Orientierung verloren – Bilić wies ihn abwechselnd durch breite, baumbestandene Alleen und enge Einbahnstraßen – bis sie auf einmal am Ziel waren. Ein schmuckloses, mehrstöckiges Gebäude; helle Fassade – postsozialistische Nüchternheit.

Am Empfang saß ein älterer Mann in Zivil, verrichtete Pförtnerdienste. „Wir suchen Kommissar Martinić“, fragte Bilić nach dem Weg. Der Pförtner schaute wenig interessiert. „Zweiter Stock, Zimmer 23 b.“

Sie stiefelten die mit Linoleum ausgelegten, etwas düsteren, nach Reinigungsmittel riechenden und lindgrün gestrichenen Flure entlang, stiegen eine Treppe mit ausgetreten Stufen empor. Es herrschte wenig Betrieb in dieser Behörde. Zimmer 23 fanden sie ohne Probleme; 23 b gab es nicht. Tull klopfte an Nummer 23, öffnete. Ein leeres Vorzimmer führte in ein weiteres Büro; die Tür war offen. Vor einem Büroschrank stand eine zierliche junge Frau mit langen blonden Haaren, suchte dort offenbar irgendetwas. „Entschuldigung“, sagte Römer. „Wir haben einen Termin mit Kommissar Martinić.“

Die junge Frau wandte sich um und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ähnlich wir Bilić trug sie eine helle Bluse und ein Tuch, aber statt der strengen blauen Hose hatte sie einen mittellangen Rock an. Eine Kostümjacke hing vom Bügel an einem Garderobenständer in der Ecke. In einer Fensterbank verstaubte eine Topfpflanze. Behördenatmosphäre. „Na, dann kommen Sie mal rein“, erwiderte die junge Frau. „Konsul Purini hat sie ankündigen lassen. Ich nehme jedenfalls an, Sie sind Herr Römer von der deutschen Botschaft in Zagreb.“

Dieses Entrée entsprach jetzt nicht ganz dem, was Botschaftsrat Abraham angestrebt hatte: Dass Römer nicht wie eine Art deutscher Oberkommissar gegenüber der kroatischen Polizei auftrat. Offenbar war etwas in der Kommunikation zwischen der Botschaft in Zagreb und dem Honorarkonsul in Split verloren gegangen. Tullius hielt es dennoch für weise, sich nicht in Einzelheiten über seine eher dünne Beziehung zur deutschen Botschaft zu verlieren. „Entschuldigung“, meinte er stattdessen mit fester Stimme, „Wo ist denn der Kommissar?“ Er hatte keine Absicht, sich hier von einer Sekretärin bescheiden zu lassen, egal wie jung und hübsch.

Halb verdeckt hinter ihm gab Bilić ein undefinierbares Geräusch wie ein Schnauben von sich, während die junge Frau keine Mine verzog. „Das bin ich“, stellte sie nüchtern fest. „Kriminalkommissarin Saša Martinić.“

Tull spürte, dass er rot wurde. Puterrot wahrscheinlich. „Das ist ja eine tolle Einführung“, versuchte er, seinem Faux-pas etwas Leichtigkeit zu geben. „Entschuldigen Sie bitte, Frau Kommissarin. Ich hatte einen Aleksandar Martinić erwartet. Natürlich kann Saša auch für… auch für Aleksandra stehen...“

Das Gesicht der Polizistin blieb unbewegt. „Kann es“, gab sie zu. „Tut es auch.“ Ihre Stimme hatte die Temperatur eines Eisbachs. Wahrscheinlich war sie hinsichtlich derartiger Verwechselungen empfindlich.

Die Kommissarin ging voran in das angrenzende Büro, wies den Besuchern zwei Stühle zu, setzte sich selbst hinter den Schreibtisch, der zu groß für wirkte für ihre Erscheinung. Ein paar Akten lagen darauf; ein Computerbildschirm und eine ziemlich abgegriffene Tastatur vervollständigten das Bild. Anders als in Kroatien üblich, bot Martinić weder Kaffee noch Mineralwasser an. Das lief nicht gut.

Martinić musterte Tull ein paar Sekunden. Er hatte den Eindruck, dass er ihr ungefähr genauso sympathisch sei wie Kopfläuse. Kein Wunder, dass Purini zu diesem Termin nicht mitgekommen war! „Also: Was kann ich für Sie tun?“ fragte die Kommissarin schließlich.

„Ich nehme an, Frau Bilić hat Ihnen schon am Telefon gesagt, worum es geht.“

„Ja, aber ich möchte es gerne von Ihnen hören. Auf die Vorlage eines Ausweises verzichte ich hingegen. Frau Bilić ist hier persönlich bekannt, und Ihr Akzent macht klar, dass Sie Deutscher sind. Tourist sind sie nicht – die können nicht so gut Kroatisch. Es ist glaubwürdig, dass die Botschaft sie geschickt hat.“

„Elementar, lieber Watson“, warf Bilić ein. Sie hatte ebenso wie Tull verstanden, dass Martinić mit diesen Ausführungen sowohl ihre Machtposition als auch ihre Kompetenz belegen wollte – und offensichtlich mochte Bilić solche Spielchen nicht: Sie passten wohl nicht zu ihrer betont nüchternen Art.

Die Kommissarin ließ Bilićs Anspielung auf Sherlock Holmes abtropfen. Sie blickte stattdessen unverwandt Tull. Ihre starren Augen ließen ihn irgendwie an einen Frosch denken.

„Es geht um einen deutschen Staatsangehörigen“, erläuterte Tullius. „Christian Schönherr. Er wohnt offiziell in Düsseldorf, aber einen Großteil des Jahres verbringt er hier in Dalmatien. Schönherr ist in der Tourismusbranche; er organisiert Segelausflüge. Seit etwa drei Wochen hat er sich nicht mehr bei seinen Eltern in Deutschland gemeldet. Die machen sich Sorgen um ihn.“

Martinić nickte. Sie griff eine der Akten auf ihrem Schreibtisch. „Wir haben vergangene Woche eine Vermisstenanzeige bekommen und gehen der Sache nach.“

„Irgendwelche Ergebnisse – etwas, was die Botschaft der Familie in Deutschland berichten könnte?“

Die Mundwinkel der Kommissarin zuckten. „Die lieben Eltern machen sich Sorgen, dass diese jugoslawischen Polizisten nicht ordentlich arbeiten?“ Ihre Ironie war unüberhörbar, schon weil sie das veraltete Wort „jugoslawisch“ verwendete. Diesen Ausdruck betrachteten Kroaten als abwertend und nahmen es Touristen übel, wenn sie aus Ignoranz oder Versehen immer noch von „Jugoslawien“ sprachen, aber das seit Jahrzehnten eigenständige Kroatien meinten.

Tull ging auf den impliziten Vorwurf nicht ein. „Schönherr ist ein bekannter Geschäftsmann. Ein erfolgreicher Unternehmer, jemand, der für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren Ländern viel tut. Und dann verschwindet er auf einmal? Da wird man von deutscher Seite wohl einmal nachhaken dürfen.“

„Vor allem, wenn die Eltern des Vermissten Rotarierfreunde eines Ihrer Bundestagsabgeordneten sind.“ Nanu, Rotarierfreunde – diese Martinić hatte offenbar ihre Hausaufgaben gemacht. Ganz so eng hatte Abraham das Verhältnis von Schönherrs Familie zur Politik nicht dargestellt. Römer beschloss, sich das zu merken.

Sie fuhr fort: „Sie können allseits berichten, dass wir hier ordentlich unsere Arbeit erledigen. Wir haben alle in Frage kommenden Dienststellen informiert, einschließlich der Küstenwache. Niemand hat Herrn Schönherr gesehen. Mit seiner Freundin habe ich zweimal gesprochen. Sie sagt, er sei wohl auf einer Geschäftsreise. Das komme öfter vor. Es sei ungewöhnlich, dass er sich nicht melde, aber sie hätten vor seiner Abreise Streit gehabt, und sie gehe davon aus, dass Schönherr sie ein wenig schmoren lassen wolle.“

„Worum ging es bei dem Streit?“

„Laut Frau Holmen – das ist der Name der Freundin, Evalotta Holmen, schwedische Staatsangehörige – eine persönliche Angelegenheit. Sie wollte keine Details preisgeben.“

„Könnte es sein, dass diese Frau Holmen etwas mit Schönherrs Verschwinden zu tun hat?“

Martinić zuckte die Achseln. „Wenn das hier ein deutscher Vorabendkrimi wäre, dann bestimmt. Die berechnende Liebhaberin und Geschäftspartnerin ist darin ja ein Lieblingsmotiv. Leider gibt es außer der Einfallslosigkeit der Drehbuchautoren keinerlei Anhaltspunkte für Holmens Schuld. Und Einfallslosigkeit reicht nicht für einen Haftbefehl.“

„Sie kennen sich mit dem Fernsehprogramm in meinem Heimatland offenbar aus.“

„Sie werden es nicht glauben – Kabelfernsehen und Satellitenschüsseln existieren auch bei uns auf dem Balkan.“

„Da bin ich beruhigt.“

Tull hätte sich treten können, dass er auf Martinićs spöttische Provokationen einging – zumal, wenn er ganz ehrlich war, ihre offensichtliche Verärgerung über seine Einmischung berechtigt war: Was wollte er denn hier machen, das die Kroaten nicht schon vor ihm getan hatten? Genau so etwas hatte auch der Botschaftsrat in Zagreb angedeutet und davor gewarnt. Tatsächlich tat das Gezänk der Atmosphäre im Raum nicht gut.

Tanja Bilić schaltete sich ein. „Frau Kommissarin, waren Sie mal in Schönherrs Wohnung?“

Die nickte. „Ja. Holmen hat uns reingelassen. Die beiden wohnen zwar nicht zusammen, aber sie hat einen Schlüssel. Und so konnten wir auf einen Durchsuchungsbefehl verzichten.“

„Ziemliche Grauzone“, kommentierte Tull. „Betreten einer Privatwohnung ohne Zustimmung des Wohnungsinhabers, nur mit Erlaubnis einer dritten Person…“ Hoffentlich hatte er Recht mit dieser kühnen Behauptung. Seine Fachkenntnis rührte aus der Vorlesung „Strafrecht für Anfänger“, die er gehört hatte, als er vor vielen Jahren noch erfolglos Jura studiert hatte, sowie von der gelegentlichen Lektüre eines Krimis.

„Na sehen Sie“, konterte Martinić ungerührt. „Wir tun sogar mehr als unsere Pflicht. Vielleicht berichtet Sie das nach Deutschland“, stichelte sie und fuhr fort: „Jedenfalls gibt es nichts Ungewöhnliches in der Wohnung. Keine Unordnung, keine Anzeichen von Gewaltanwendung, alle Fenster zu, alle elektrischen Geräte ausgeschaltet. Im Badezimmer fehlen Zahnbürste, Zahnpasta, Rasierer… Es sieht alles so aus, als sei Schönherr in Ruhe abgereist. Das einzige, was ich komisch fand, war eine Packung Kondome neben dem Bett. Wer verhütet denn mit Gummis, wenn er in einer festen Beziehung ist? So wie angeblich Schönherr und Holmen?“

„Das soll vorkommen“, meinte Tull. Seine Ex und er hatten Kondome benutzt. Aber solche intimen Details wollte er dann doch nicht preisgeben.

„Ja. Andererseits legt es die Möglichkeit nahe, dass die Beziehung zwischen Holmen und Schönherr nicht so fest und auf Dauer angelegt war, wie es Ihre Drehbuchschreiber vom Vorabendfernsehen gerne hätten. Ist die schwedische Freundin vielleicht doch nicht unschuldig? Fortsetzung nächste Woche.“

Diesmal ging Tull auf die Stichelei nicht ein. „Lässt sich nachvollziehen, ob Schönherr auf irgendwelchen Passagierlisten stand? Zumindest, wenn er das Land mit dem Flugzeug verlassen hat, müsste er doch eine Spur hinterlassen haben.“

„Hat er nicht. Aber das kann nun wirklich niemanden überraschen. Holmen sagt, sie wisse nicht genau, wohin Schönherr gewollt habe. Er kann in alle Richtungen gefahren sein, nach Slowenien, Ungarn – das sind EU-Binnengrenzen, da kontrolliert Sie, zumal in der Hauptreisezeit, kein Mensch, wenn Sie beim Anblick von Uniformierten nicht gerade Koransprüche murmeln. Nur die Mautplakette müssen Sie haben, falls Sie mit dem Auto nach Slowenien wollen… Vielleicht ist Schönherr auch in die Herzegowina gefahren, dahin ist die Grenze praktisch offen. Oder er ist als Deckspassagier mit der Fähre nach Italien – wir wissen es nicht.“

„Kann man prüfen, ob er irgendwo seine Kreditkarte eingesetzt oder Geld abgehoben hat?“

„Man kann – und wir haben sogar. Seit Schönherrs Abreise hat es keine Kontobewegung gegeben. Das hat jedoch nichts zu besagen: Laut Holmen hatte er immer erhebliche Bargeldbestände.“

„Sein Mobiltelefon?“

„Ist offenbar ausgeschaltet.“

Schönherr war ratlos. „Und jetzt?“

Martinić klappte die Akte zu, die sie offen vor sich liegen gehabt hatte. „Jetzt, Herr Römer, lassen Sie die kroatische Polizei weiter ihre Arbeit verrichten. Wir machen das genauso gut wie die deutschen Kollegen, auch ohne, dass Sie uns auf die Finger gucken.“

„Das war ein erstklassiger Rauswurf, aber kein Abgang erster Klasse“, kommentierte Bilić, als sie auf dem Wege aus dem Gebäude waren.

„Ja, und vielen Dank auch für Ihre Hilfe“, zankte Tull, dem Bilićs katziges „Elementar, lieber Watson“ im Gedächtnis geblieben war.

„…Ich hatte einen Aleksandar Martinić erwartet. Natürlich kann Saša auch für Aleksandra stehen…“ wiederholte Bilić statt einer Antwort seinen Faux-pas. „Und dann machen Sie der leitenden Kommissarin auch noch ziemlich deutlich, dass Sie, stellvertretend für alle Deutschen, ihr nicht vertrauen. Was hätte ich denn da bewirken sollen?“

Tullius giftete zurück: „Na, Sie haben sich nicht gerade zurückgehalten! Diese Anspielung auf Sherlock Holmes war völlig unnötig!“

Bilić zuckte die Achseln: „Wenn die blöde Pute auch die Meisterdetektivin heraushängen lassen muss!“

Blöde Pute? Hatte Frau Bilić-Nüchtern wirklich gerade „blöde Pute“ gesagt? Tull musste sich verhört haben.

Ein erfolgreicher Nachmittag sieht anders aus, dachte er, als sie wieder in die Innenstadt zurück fuhren. Herausgefunden hatte er nichts, mit der ermittelnden Kommissarin hatte er es sich verdorben, und die Zusammenarbeit mit Purinis Mitarbeiterin gestaltete sich schwierig. Positiv gewendet, befand er, als sie auf den Parkplatz bei der Riva bogen: Es gab Raum für Verbesserung.

Sie stellten den Wagen ab und machten sich auf den Weg zum Büro des Honorarkonsuls. Die tieferstehende Sonne ließ die Steinfassaden glänzen. Der älteste Teil der Stadt, wusste Tull, ging auf den römischen Kaiser Diokletian zurück, der hier einen Palast als Alterswohnsitz hatte errichten lassen. Dessen Mauern standen bis heute, auch wenn die Gebäude vielfach angepasst worden waren und immer neuen Zwecken dienten. In knapp 1800 Jahren konnte so etwas schon vorkommen… Ein Stück der Palastmauer war besonders reich verziert, hier hatte früher wohl der Kaiser seine Privaträume gehabt. Genau vor den elegant proportionierten Bogenfenstern hingen Wäscheleinen, an denen Unterwäsche in Feinripp, leicht ergraut, träge in der Nachmittagsbrise flatterte. Offenbar wohnte dort jetzt jemand weit profaneres.

Bilić unterbrach Tullius' Betrachtungen. „Ich finde es trotz allem seltsam, dass Martinić uns so abgewürgt hat. Sie hat uns zu verstehen gegeben, dass sie als Reaktion auf die Vermisstenanzeige ein paar Nachforschungen angestellt hat, und dass wir sie in Ruhe lassen sollen. Besonders überbeschäftigt wirkte sie nicht. Warum schien sie dann so halbherzig bei der Sache?“

„Vielleicht langweilt sie der Fall? Oder sie mag sie keine Deutschen?“

„Denkbar. Aber nicht überzeugend. Wer so jung schon Kommissarin ist, und das in der zweitgrößten Stadt des Landes, der ist ehrgeizig. Wenn Martinić Schönherr findet – ganz gleich, ob da ein Verbrechen vorliegt oder nicht – dann ist das ein Pluspunkt für sie.“

„Das sollte man meinen“, stimmte Tull zu, dem im Gedächtnis steckte, was Botschaftsrat Abraham zu ihm gesagt hatte: „Falls unser schöner Herr auftaucht, bekommen Sie ein Fleißbienchen für die Bewerbungsmappe.“ Eine ähnliche Logik ließ sich wahrscheinlich auch auf die junge Kommissarin anwenden.

„Ich schaue mal, ob ich in der Stadtverwaltung etwas erfahren kann. Vielleicht kann Konsul Purini uns sogar einen Termin beim Bürgermeister besorgen.“

Tull war überrascht über Bilićs Eifer. „Danke, das ist nett. Zumindest haben wir dann etwas, was wir der Botschaft berichten können.“

Auf der Schwelle zum Gebäude des Honorarkonsuls blieb Bilić stehen. „Sie brauchen jetzt nicht mit hoch zu kommen. Purini ist ohnehin nicht mehr da, und für Sie gibt es oben nichts zu tun. Gehen Sie in ihr Hotel, und dann trinken Sie ein Glas Wein an der Riva. Morgen gegen zehn kommen Sie her, dann sehen wir weiter. Falls sich zwischenzeitlich etwas ergibt, rufe ich Sie an.“

Bevor die zierliche Frau sich abwandte, die Tür aufstieß und mit kurzen, energischen Schritten in den Hausflur trat, hatte Tull den Eindruck, dass sie sogar einen Augenblick lächelte. Eine menschliche Regung bei Frau Bilić-Nüchtern? Unvorstellbar! Wahrscheinlich nur eine Täuschung.

Römer und der schöne Herr

Подняться наверх