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Donnerstag 02. August

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Berendtsen saß schon früh in seinem neuen Büro. Er beschäftigte sich mit seinem neuen Arbeitsplatz. Zufrieden strich er mit der Hand über das glatte Holz. Der Schreibtisch war größer als sein alter in Hamburg, die Schubladen waren anders angeordnet, aber nicht schlechter. Zuerst machte er sich ans Werk, eine Lade auszusuchen, die er für sein Laster brauchen würde. Die oberste, flache Lade war nicht geeignet. Die brauchte er für seine Kugelschreiber, Bleistifte, Anspitzer und alles, was man so braucht, um Skizzen und Notizen zu machen. Früher! Jetzt hatte er einen neuen Touchpen, mit dem er auf seinem Smartphone oder dem kleinen Minipad, das er bei Ermittlungen immer bei sich trug, zeichnen konnte. Für ihn eine wunderbare Erfindung. Die Entscheidung fiel zugunsten der untersten Schublade. Er verstaute eine alte mit Gummibärchen oder ähnlichem Kleinzeug aus kaubaren Gummidrops und Lakritzen gefüllte Zigarilloschachtel, die er von seinen früheren Rauchgewohnheiten in sein jetziges Leben herübergerettet hatte. Erst danach packte er seine Aktentasche und einen Plastikbeutel aus. Er stellte das Bild seiner Frau zu allererst direkt in sein Blickfeld neben das Telefon. Dazu musste der Bildschirm ein wenig verrückt werden. Die Bilder seiner beiden Kinder kamen links und rechts daneben, ein Familienfoto aus dem letzten Wanderurlaub stellte er auf die andere Seite. Die alte Schreibtischunterlage aus grünem Leder passte perfekt. Er hatte sie in Hamburg entsorgen wollen, weil sie an manchen Stellen reichlich mit Schreibspuren bekritzelt war. Jetzt freute er sich, dass er sie hatte. Sie war immer nützlich, wenn kurzfristig eine Notiz zu verbergen war. Eine kleine Wetterstation mit Zeitfunktionen und Vorhersage, ein Ladegerät fürs Handy und eines für den Laptop wurden auf die rechte Seite positioniert. Er drehte sich einige Male auf seinem neuen Sessel, probierte die Neige- und Ruheposition und war stolz, jetzt einen Sessel zu besitzen, der eines Leitenden Hauptkommissars würdig war. Er erschrak leicht, als das Telefon schellte, gerade in dem Moment, in dem er es anfasste, um es zu verrücken. Er musste darüber lächeln. Dann nahm er ab.

»Berendtsen.«

»Hallo Albert. Hier ist Vera. Hast du Lust auf einen Kaffee? Ich habe genug davon. Milch und Zucker auch.«

Wenige Minuten später saß er im Büro seiner Chefin am Couchtisch bei Kaffee und Gebäck.

»Wie gefällt dir dein neues Büro?«

»Alles bestens. Vielen Dank für die Sitzecke und die Yukka Palme. Sie gefällt mir gut, habe sie allerdings noch nicht gegossen. Unwillkürlich griff er in seine Tasche.

»Magst du Gummibärchen?«

»Gerne, danke.« Sie nahm eines. »Wie geht es dir und Irmgard? Habt ihr euch in Dorsten schon eingelebt? Wie war noch die Adresse? Irgendein Musiker?«

»Ein Komponist. Puccinistraße 11, Stadtsfeld nennt sich dieser Stadtteil. Alle Straßen sind nach Komponisten benannt. Sehr ruhig, sehr freundliche Leute. Gut. Es gefällt uns gut dort. Alles da. Supermarkt, Autowaschanlage, Friseur, Apotheke, Arzt, Massage. Das einzige, was fehlt, ist eine Eisdiele. Irmgard und ich gehen gerne Eis essen. Andererseits kann man wunderbar spazieren gehen. Direkt vor der Haustür fangen Rad- und Spazierwege an. Erste Kontakte zu den nächsten Nachbarn haben wir auch schon geknüpft. Wir sind schon drei Wochen Dorstener. Die Zeit rennt.«

Sie unterhielten sich über ihre Ehegatten, den Nachwuchs und viele Dinge, die man von Leuten wissen möchte, die man früher gut gekannt und dann aus den Augen verloren hat. Albert erzählte von seinen beiden Kindern, Maximilian war inzwischen zweiundzwanzig, studierte in Aachen Maschinenbau. »Im Moment hat er Semesterferien, hat allerdings viel zu tun, weil er sich auf zwei Klausuren vorbereiten muss, die Ende August anfallen. Diese Woche verbringt er zuhause. Er lernt fleißig. Muss ich sagen. Früher war das anders.« Sophie war gerade neunzehn geworden. Sie hatte im Mai ihr Abitur bestanden und wollte Jura studieren. Sie wollte nach Münster. Ursprünglich wollte sie in Hamburg bleiben, aber jetzt war Münster am nächsten, wenn man nicht in Bochum bleiben wollte. Sie hatte auf einer Klassenfahrt von Hamburg aus dem Rathaus in Münster einen Besuch abgestattet, um den Ort zu besuchen, an dem der Westfälische Frieden geschlossen worden war. Die Stadt hatte es ihr angetan. Der Prinzipalmarkt mit den alten Fassaden und den Lauben hatte es ihr angetan. Vera hatte keine Kinder. Zuerst wollten sie keine, wegen der Karriere, dann wurde ihr Wunsch nicht erfüllt. Sie bedauerte heute, es nicht anders entschieden zu haben.

»Warum hast du dich damals für Hamburg entschieden?«

»Es wurde dort ein Kriminal-Kommissar gesucht. Hier in Recklinghausen hätte ich noch lange warten müssen. Es war keine Planstelle frei. Jetzt ist es anders. Jetzt ist hier in Recklinghausen die Stelle frei geworden und ich hätte in Hamburg noch warten müssen. Außerdem hat mich das Angebot aus meiner Heimat gereizt. Du hast mir am Telefon erzählt, dass mein Vorgänger erschossen worden ist? Was war da los?«

»Es war ein Einsatz gegen diese Clans, Großfamilien, wie wir sie hier nennen. Wir in NRW arbeiten jetzt nach dem Motto ›keine straffreien Räume und keine Rücksicht auf Bandenkriminalität‹. Wir haben in Zusammenarbeit mit Hamm eine Bande festgenommen, die von Oberhausen über Gelsenkirchen bis nach Hamm eine Mafia aufgebaut hat, die ihresgleichen sucht. Es handelte sich um Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, sprich Drogen, Apothekeneinbrüche und dergleichen, und Autodiebstähle. Dabei ist Kollege May angeschossen worden, lag drei Monate im Koma und ist dann leider den Verletzungen erlegen. Es tut mir leid. Das Unangenehme in der Angelegenheit war, dass ich selbst seiner Frau die Nachricht von der Verletzung überbringen musste. Die Ärzte im Knappschafts­krankenhaus haben alles versucht. Es ist grausig, wenn man einen Kollegen verliert, mit dem man lange und intensiv zusammengearbeitet hat. Das kann ich dir sagen.«

»Wie bist du ausgerechnet auf mich gekommen? Ich meine, du hast dich davor über Jahre nicht gemeldet.«

»Das stimmt nicht. Du selbst hast dich nicht gemeldet. Ich habe dir damals auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass du mich noch einmal anrufen solltest. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Erst hatte ich die Hausarbeiten zu schreiben, dann warst du auf Trip in … wo?«

»Neuseeland. Rucksacktourismus. Ein halbes Jahr. Wie soll ich da den AB abhören? Als ich dann endlich zurück war, hattest du deinen Klaus. Du hast ihn geheiratet, stimmt’s? Du heißt Zimmermann.«

»Nein, stimmt nicht. Der Schurke hat mich betrogen. Ich habe dann seinen Bruder Paul geheiratet. Das hat er mir Klaus nie verziehen. Wir wohnen in Marl, also genauer in Marl-Polsum. Von dort ist es ein Katzensprung bis ins Stadtsfeld. Wir sollten uns vielleicht einmal besuchen. So kann ich auch deine Frau kennenlernen. Von zuhause aus ist es auch nicht weit hierher. Oft fahre ich morgens über die Landstraße, aber ich habe auch einen Autobahnanschluss direkt vor der Tür, eben da, wo du deinen Tatort hast. Wie ist der erste Arbeitstag verlaufen? «

»Beeindruckend. Wirklich beeindruckend! Ich habe mit der Hauptzeugin gesprochen, uns benachrichtigt hat, und war überrascht, wie stilvoll die Frau war. In Hamburg … also da sind die Mädchen frecher. Es war Gewalt, eindeutig, bestätigt die Pathologin. Ich habe den Namen nicht behalten. Egal. Jemand hat diese Frau geschlagen. Sie ist hingefallen und mit dem Kopf unglücklich auf eine Kante gefallen und hat sich ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen. Soweit so gut. Verdacht auf ein Verbrechen entsteht dadurch, dass der Täter – es war wohl ein Mann – sie auf das Bett gelegt und keinen Arzt gerufen hat. Verdächtig kommt mir ebenfalls vor, dass der Täter nach ersten Vermutungen Handschuhe trug. Er hatte also einen Grund, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Außerdem gehe ich davon aus, dass er heute Morgen noch einmal den Tatort besucht hat. Er wollte sicherlich nachschauen, wie es seinem Opfer geht, fand es tot und ist davongerannt. Dabei hat er die Wagentür zugeworfen und offensichtlich nicht bemerkt, dass die Fransen eines Läufers das Einrasten der Klinke verhindert haben. Er ging davon aus, dass er heute Morgen allein auf dem Platz war. Er wusste nicht, dass ausgerechnet an diesem Donnerstag jemand vor Ort war, der das Vergehen hätte verfolgen können, was durch Zufall nicht geschah, weil die Zeugin einen Freier hatte. Jetzt frage ich mich, was der Mann von der Frau wollte. Es war wohl ein Streit zwischen den beiden entstanden. Die Ohrfeige deutet darauf hin.« Er bot ihr Gummibärchen an. »Aber jetzt hast du mir immer noch nicht verraten, wie du auf mich gekommen bist.«

»Ganz einfach. Ich habe von der Verhaftung des Kara Mal-Habib erfahren. Mit ihm und seiner Bande hast du einen richtigen Fang gemacht. Das hat sich herumgesprochen. Außerdem habe ich dich kurz im Fernsehen erkannt. Ich hatte mir schon lange Gedanken über die Nachfolge von May gemacht, denn es war abzusehen, dass er es nicht schafft oder zumindest nicht mehr seinem Beruf nachgehen kann. Dann kam das Schreiben vom Innenministerium, dass die leitenden Stellen möglichst komplett zu bestellen sind. Ich bin verantwortlich für diese Region. Daraufhin habe ich dich angerufen und diese Stelle so ausgeschrieben, wie wir es besprochen hatten. Und nun bist du hier in deiner alten Heimat. Herzlich willkommen. Wie lange warst du weg?«

»22 Jahre. Die Zeit rennt wirklich. Ist noch jemand hier von der alten Truppe?«

»Noch einige. Dabbelju ist noch da«, sie lachte über das fragende Gesicht ihres Freundes, »Willi Weber«, klärte sie auf.

»Dabbelju? Den Namen hat er neu. Von wem?«

»Eines Tages war er da. Den Ursprung kenne ich nicht, aber passt er nicht wunderbar?«

Dann ist noch Mike van Haalen da, der wohnt auch in Polsum, gleich hier um die Ecke. Manfred, Manni Niehus und Wolfgang Heinze. Die kennst du noch?«

»Die kenne ich noch, aber sie waren nicht bei dem Empfang.«

»Mike ist in Urlaub, in Hook van Holland. Warst du mal da? Ein wunderbarer Strand und nicht so viele Buden und Kneipen. Deshalb nicht so überlaufen wie Scheveningen, aber nichts schlechter. Eben viel ruhiger. Für Leute, die in ihrem Job viel zu tun haben, genau das Richtige. Ein wunderschön gelegenes Restaurant haben sie da. Man isst zu Mittag und legt sich anschließend in die Dünen. Wunderbar. Mike hat noch schulpflichtige Kinder, deshalb muss er in den Schulferien fahren. Manni war im Einsatz, bewaffneter Raubüberfall an einem Kiosk, und Wolfgang feierte die Überstunden ab. Er war später noch hier, um dich zu begrüßen, aber das warst du schon an deinem Tatort. Nochmal zu dem Fall. Wie willst du vorgehen?«

Ich bin um zehn Uhr mit der Pathologin verabredet. Wie heißt die noch?«

»Rother mit th, Michaela Rother, frisch im Beruf und ehrgeizig. Manchmal höre ich, sie arbeitet verbissen. Ich habe nichts mit ihr zu tun. Überhaupt ist die ganze Untersuchungsarbeit nicht meine Aufgabe. Manchmal vermisse ich es, aber oft bin ich froh, wenn zuweilen grausige Bilder im Umlauf sind. Das kann ich gar nicht haben. Da ist mir die Verwaltung lieber.«

Berendtsen sah auf seine Uhr. Es ist zehn vor zehn. Wie komme ich denn von hier aus schnell in die Pathologie?«

Sie befindet sich auf der anderen Straßenseite. Du kannst in den Keller fahren, dann rechts bis zum nächsten Fahrstuhl und dann in das Erdgeschoss. Ein Pfeil zeigt nach links. Nicht zu verfehlen.«

Fünf Minuten später schellte er an. Das Etikett auf ihrem blütenweißen Kittel wies sie aus als Dr. M. Rother, Pathologin nebst Äskulap-Stab.

»Guten Morgen Herr Berendtsen. Treten sie ein.«

»Moin, Moin«

Sie öffnete die Tür zum Kühlregal mit den Schubladen und zog eine heraus. Die Tote vom Parkplatz. Mit jeglicher Präzision erklärte sie Haar für Strähne den Vorgang des Ablebens des Opfers.

»Hätte er 112 angerufen, wäre die Dame jetzt nicht hier. Vielleicht nicht einmal mehr im Krankenhaus. Das ist der erste Eindruck. Allerdings habe ich sie noch nicht aufgeschnitten. Ich habe noch einen aktuellen Fall, heute Nacht frisch eingetroffen, den ich bis heute Nachmittag wohl abgeschlossen habe. Ich will mich bemühen, den Bericht für Sie bis morgen fertigzustellen. Reicht das?«

»Wie alt schätzen Sie die Frau?«

»Mitte zwanzig.«

Behrendsen blickte auf seine Uhr. Über eine halbe Stunde hatte sie gebraucht. Sie war sehr akkurat. Auf dem Weg ins Büro zerbrach sich Berendtsen die ganze Zeit den Kopf darüber, warum der Täter nicht den Notarzt angerufen hatte. Wenn es ein Streit war, hätte er den Arzt gerufen, wenn er das Mädchen umbringen wollte … warum hätte er riskieren sollen, dass sie von selbst stirbt?

Auf dem Flur begegnete ihm der Leiter der Spurensicherung, Herr Schmidt, schon auf dem Gang. Er war auf dem Weg zu ihm. Nach kurzer Begrüßung legten sie den Weg zu seinem Büro schweigend zurück. Berendtsen hielt die Tür auf und bemerkte voller Stolz den Blick seines Kollegen auf das Schild neben der Tür, Erster Kriminalhauptkommissar (EKHK), Albert Berendtsen. Er bedeutete seinem Besuch, in der Sitzecke Platz zu nehmen. Dieser rückte seinen Sessel selbstverständlich an den Tisch und breitete seinen Bericht aus. Berendtsen öffnete eine Tür des Wandschranks, hinter der sich ein Kaffeeautomat mit allem Zubehör verbarg, drückte den entsprechenden Knopf und schon hatte er zwei Tassen mit duftendem Kaffee auf dem Tisch. Eine kleine Schale mit einem Gemisch aus Lakritzen und den obligatorischen Gummibärchen stand bereits da. Berendtsen bot sie an, warf gleich eins davon in seinen Mund und forderte Schmidt auf, zuzugreifen. Der zögerte nicht lange, nahm eine Lakritzschnecke, rollte ein Stückchen davon ab und freute sich. »So etwas habe ich lange nicht genascht«, strahlte er. Dann setzte er seine professionelle Mine auf und begann seinen Vortrag:

»Ad eins«, begann Schmidt während er kaute. »Die Todesursache war nach erster Einschätzung von Rother ein Schädel-Hirn-Trauma, ausgelöst durch den Sturz auf dieses vorstehende Brettchen, diese Kante neben dem Bad. Der wiederum war Folge des kräftigen Faustschlags auf die linke Wange des Opfers. Ich schließe aus der Heftigkeit des Schlages auf einen kräftigen Mann, Rechtshänder. Dem Abdruck des Daumens nach war der Täter mindestens einen Meter achtzig groß. Genaueres muss die Pathologin herausfinden, wenn sie die Leiche auf dem Tisch hat. Winzige Lederpartikel auf der Wange bestätigen den ersten Verdacht, dass der Mann Handschuhe getragen hat. Mitten im Sommer?«

»Folglich hat er vorgehabt, dem Mädchen etwas anzutun, denke ich. Ob er sie töten wollte, bleibt zunächst dahingestellt.«

»Sehe ich auch genauso«, stimmte Schmidt Berendtsen zu.

»Ad zwei. Körperflüssigkeiten, die auf Geschlechtsverkehr hinweisen, lagen nicht vor. Die Untersuchungen waren in dieser Richtung sehr intensiv. Ebenso wurde keine fremde DNA im Bett gefunden. Das Bett war also frisch bezogen und unbenutzt. Frau Barami hat dem Anschein nach vorgehabt, die Nacht im Wagen zu verbringen.

Ad drei. Was wir gefunden haben, konnten wir beinahe komplett zuordnen. Allerdings bringt uns das nicht weiter. Diese Spuren gehören samt und sonders ihrem Kollegen Hallstein. Wir hätten deutlich weniger Arbeit gehabt, wenn wir nicht seine Spuren mit den übrigen hätten abgleichen müssen. Vielleicht können Sie einmal mit ihm reden. Frau Ritter scheint sich auch häufiger in dem Wagen aufgehalten zu haben. Auch in den letzten Tagen.

Ad vier. Auf dem Sideboard stand eine Tüte einer Apotheke. Da müssen wir noch den Botenfahrer ermitteln und die Abdrücke nehmen. Es sind insgesamt vier verschiedene Fingerabdrücke gefunden worden.

Ad fünf. Die Schuhabdrücke von ihrem Kollegen haben wir mit den älteren verglichen. Verschiedene Absätze, aber die gleiche Größe, vierundvierzig.

Und last not least, die Fasern von ihrem Kollegen haben uns vor Probleme gestellt. Es scheint so, dass der Täter seine Fasern bis auf wenige Spuren beseitigt hat. Ihr Mitarbeiter, dieser Hallstein, scheint sich in dem Raum breit gemacht zu haben. Zugegeben, es wurde gerangelt. Da verteilt sich die Spuren in alle Richtungen. Sie müssen ihm noch einmal klar machen, dass er den Anweisungen strikt Folge leisten muss. Das war’s. Alles andere steht hier drin.« Er klappte die Mappe zu und schob sie dem Hauptkommissar hinüber. Nebenbei griff er zu einer neuen Lakritzrolle. »Telefon und dergleichen wurden nicht gefunden. Sie hat aber eines gehabt, denn auf einer selbstgedruckten Visitenkarte haben wir eine Nummer gefunden. Sie liegt in der Mappe. Sie benötigte es auch, um Termine zu machen. Wie ich erfahren habe, hatten die Damen auf dem Parkplatz nicht nur Laufkundschaft.«

Berendtsen hatte aufmerksam zugehört. »Habe schon davon erfahren. Diese Zeugin Ritter hat mir den Tagesablauf und die Arbeitsweise bereits im Groben erklärt. Sie vergeben auch Termine und haben Stammkunden. Ist der Provider schon ausgemacht? Die Handynummer stand auf einer Visitenkarte?«

»Ja. Wir sind dabei. Der Anbieter verlangt eine richterliche Anordnung. Das neue Datenschutz-Gesetz lässt grüßen. Früher konnten wir diese schon mal nachreichen. Heutzutage geht da gar nichts.

Und zum Schluss die Überraschung! Wir haben DNA gefunden von einem direkten Verwandten.«

»Sie hat zwei Brüder. Die wohnen nach Angaben der Zeugin Ritter in Marl bei ihrer Schwester. Sie scheinen nach Breslau unterwegs zu sein. Wir können sie allerdings nicht orten. Wir werden diese Spur verfolgen.«

Sie tranken noch eine Tasse Kaffee und unterhielten sich über private Dinge, um sich ein wenig besser kennenzulernen. Schließlich gingen sie mit »Bis die Tage, Albert« und »Tschüss Willi« auseinander. Die restlichen Lakritze nahm Willi dankbar mit. Sie verstanden sich gut, stellte Berendtsen fest.

Berendtsen trat ans Fenster, steckte sich eine Handvoll Bärchen in den Mund und blickte nachdenklich abwechselnd über die Dächer von Recklinghausen, dann wieder auf die Straße und dachte über den Unterschied zwischen Recklinghausen und Hamburg nach.

»Wenn er sie nicht töten wollte, warum hat er dann nicht den Notarzt gerufen? Was wäre gewesen, wenn sie überlebt hätte? Hatte der Täter sie in der Hand, so dass er sicher sein konnte, dass sie nicht redet? War sie vom Täter abhängig? War’s der Zuhälter? Maria hatte bestätigt, dass sie allein arbeitete. Wusste Maria genau Bescheid?«

Zurück am Schreibtisch räumte er weiter ein. Hinter einer Klappe fand er den Rechner. Der Drücker zum Einschalten war so versteckt, dass er ihn zuerst nach längerem Abtasten gefunden hatte. Kurz darauf erschien die Eingabemaske für sein Passwort. Er hatte keines. Er probierte noch einmal den Sessel. Wunderbar. Er nahm den Telefonhörer und stellte fest, dass er auch noch kein Verzeichnis der Abteilungen hatte. Auf seinem iPad erstellte er eine ToDo-Liste.

Aussagen der anderen Zeugen einholen.

Ritter fragen

Internetseite – Telefonnummer

Tel. der Kolleginnen? Adressen?

Telefonkorrespondenz erfahren

Todesursache sicher?

Inhalt der Apothekentüte. Alles komplett? Was fehlt?

Fahrer interviewen. Uhrzeit der Abgabe?

Lakritz, Hustenbonbons, Halstabletten,

Blumen!!

Tisch bestellen.

Es klopfte an seiner Bürotür.

»Herein!«

Eine hübsche junge Frau, um die dreißig, mit Kastanienbraunem Haar in einem geblümten Sommerkleid und passenden roten Sandaletten stand in der Tür. Ein weißer Gürtel mit silberner, mit Strass verzierter Schnalle, betonte die schlanke Taille.

»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar. Ich bin Uschi, Ihre Sekretärin. Ich wollte mich gestern bereits vorstellen, aber habe Sie leider nicht angetroffen. Ich habe hier einige Dinge, die Sie benötigen. Darf ich Ihnen alles aushändigen und erklären? Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«

Berendtsen hätte sie gerne begrüßt, aber er kam nicht dazwischen. Sie ging, ohne sich aufhalten zu lassen ihre Aufgaben an.

»Zu allererst den Schlüssel. Dieser passt zum Haupteingang. Dieser zu ihrem Büro. Was Sie mit der Zeit darüber hinaus benötigen, gibt Ihnen Frau Brüggemann an der Pforte.«

»Bitte, Uschi, den ›Hauptkommissar‹ können Sie weglassen. Einfach ›Berendtsen‹. Nehmen Sie Platz.« Er bot ihr den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch an, erhob sich und reichte ihr die Hand.

»Vielen Dank, aber ich möchte Ihnen das Telefon erklären. Ein Passwort benötigen Sie auch noch. Ich zeige Ihnen, wie Sie es ändern können. Sie müssen es personalisieren.« Sie trat neben ihn an den Schreibtisch. Sie zog das Telefon vor. Einige Etiketten für die Kurzwahl hatte sie mitgebracht und fügte sie mit Leichtigkeit in die vorgesehenen zweimal fünf Felder ein. Die Rufnummern kannte sie auswendig und hatte sie schnell hinterlegt.

»Die beiden unteren Felder, beschriftet mit ›privat 1‹ und ›privat 2‹ sind frei belegbar. Wenn Sie wünschen, programmiere ich diese für Sie.«

Berendtsen bat um Eingabe seiner privaten Rufnummer und die des Handys seiner Frau. Er sah genau zu und hatte den Vorgang verstanden. An Kurzwahlen war alles eingegeben, was er brauchte.

»Das nenne ich Service!«, lobte er sie.

»Danke. Hier habe ich das Telefonverzeichnis der anderen Büros in diesem Haus, die für Sie von Belang sind. Alle anderen weiß die Zentrale – dieser Knopf mit dem roten Punkt.«

»Klasse!«, entfuhr es ihm. »Vielen Dank.«

»Sollen wir jetzt das Passwort angehen?«

Sie gab ein Passwort ein, das auf einem Papier ausgedruckt war, und der Rechner gab eine Seite frei, in der das neue Passwort eingegeben werden musste. Sobald Berendtsen seine Eingabe bestätigt hatte, zerriss sie den Zettel und warf ihn in seinen Papierkorb.

»Hier sehen Sie ihren Terminkalender. Einen Termin habe ich Ihnen schon eingetragen. Elf Uhr ist Meeting im Zimmer 612. Gleich den Gang nach rechts auf die andere Seite des Treppenhauses, das Zimmer gegenüber der Chefin.« Sie begab sich flotten Schritts zur Wand und heftete den Fluchtplan neben die Tür. »Der muss hier hängen bleiben. Er wurde nach der Renovierung des Raums noch nicht wieder angebracht. Sie müssen nur nach links den Gang entlang. Die Glastür ist der Notausgang für diesen Teil des Gebäudes. Es sind nur drei Büros, für die der Weg in Frage kommt. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Sollte die Tür klemmen, hängt links im Kasten ein kleiner Hammer. Die Vorgehensweise bei Alarm jeder Art steht auf diesem Plan. Eigentlich brauchen Sie sich nur merken, dass Sie an nichts denken müssen, sondern einfach losrennen. Nach links! Alles klar?«

Berendtsen staunte über diese Routine.

»Noch Fragen?«

»Ich möchte ein Backup einrichten. Können Sie mir da helfen?«

»Wird nachts für Sie automatisch erledigt. Sie fahren den Rechner herunter, aber drücken nicht die OFF-Taste. Wichtig! Sie richten ihren privaten Ordner ein unter ›private Dateien‹. Diese werden dann mitgesichert … übrigens können Sie nur die Dateien in diesem Ordner auf ihren privaten Laptop oder dergleichen überspielen. Alle Daten der Polizei sind mit Kopierschutz versehen.«

»Vielen Dank für die Hilfe. Wie kann ich Sie erreichen?«

»Einfach den grünen Knopf. Von außen ist es die Durchwahl zwei – null – zwei. Sie haben die zwei – null – eins. Für den Fall, dass jemand Sie direkt erreichen möchte.« Sie schrieb die Ziffern auf einen kleinen Block und klemmte den Zettel rechts an seine Unterlage.

Berendtsen begleitete seine Sekretärin zur Tür. »Ehe ich es vergesse: mit welchen Belangen kann ich mich an Sie wenden?«

»Mit allen. Fragen Sie nur. Was ich tun kann, tue ich. Wenn Sie Fragen haben oder einen Werkstattbesuch vereinbaren möchten … egal.«

»Hmm … darf ich gleich anfangen?«

»Nur zu!«

»Wo kann ich schön essen gehen. Meine Frau und ich haben am nächsten Dienstag Hochzeitstag. Vierundzwanzig Jahre.«

Sie empfahl ihm ein neu renoviertes Lokal mit guter Küche, fußläufig in der Nähe seines Hauses zu erreichen, und bot ihm sogleich an, Blumen und Pralinen oder dergleichen zu besorgen.

Er zeigte ihr seine ToDo-Liste. Sie strahlte. »Wird sogleich erledigt. Blumen erst am Montagabend, sehe ich das richtig?«

»Genau!« Er löschte die beiden unteren Zeilen. Er fragte noch kurz nach dem Standort der Apotheke, deren Namen er sich aufgeschrieben hatte. Es war die im Stadtsfeld, wo er wohnte.

»Vielen Dank für alles. Wunderbar. Bin mehr als zufrieden. Danke.«

»Gerne. Bei Fragen … nicht verzagen …«

»Uschi fragen!«, ergänzte Berendtsen.

Er sah auf seine Uhr. Um Elf war das Meeting. Er sollte bis dahin vorbereitet sein. Schließlich war er jetzt der Verantwortliche und musste wenigstens über das Wenige Auskunft geben können, was es zu dem Fall schon für Erkenntnisse gab. Außerdem war das weitere Vorgehen zu erörtern. Dabei fiel ihm ein, dass er jetzt derjenige war, der delegieren konnte. Er würde seinem Kollegen Hallstein verschiedene Aufgaben übertragen. Er drückte die Kurzwahl zur SpuSi. Die Absperrung des Parkplatzes war aufgehoben. Die Damen waren an der Arbeit. Also würde er nach dem Treffen zum Mittagessen nach Hause fahren können. Auf dem Rückweg würde er bei Frau Ritter vorbeifahren, um die noch offenen Fragen zu klären.

Er nahm seinen neuen Stift und skizzierte den Parkplatz sowie seine Vorgehensweise, wie er sie gleich auf die Tafel übertragen würde.

Ein tödlicher Plan

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