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Keine Frage: Die abenteuerlichen Eskapaden des Hasen-Karle sorgten im Dorfleben für Abwechslung, es wurde in diesen Tagen viel gelacht, auch ich und meine Freunde lachten mit und passten ansonsten auf, uns nicht durch irgendwelche Bemerkungen zu verraten. Nach und nach würde Gras über die Sache wachsen, und auch der Dorfgendarm Resch hatte auf Dauer Wichtigeres zu tun, als hinter unbekannten „maskierten“ Tätern herzulaufen. Noch einmal aufblühen, das war so gut wie sicher, würde die Dorfposse mit dem Hasen-Karle in der Titelrolle bei der nächsten Fastnacht, an der die ganze Geschichte garantiert im Narrenblättle auf der ersten Seite erscheinen würde. Denn wer sich in Schömberg im Laufe des Jahres „zum Narren gemacht hat“, taucht mitsamt seiner Tat pünktlich an Fastnacht wieder in Form von Spottversen und Reimen im „Narrenblättle“ auf und erntet Gelächter und Schadenfreude.

Rudi hatte bei der letzten Fastnacht mit seinen Beziehungen dafür gesorgt, dass ich eines der sehr seltenen und entsprechend begehrten Narrenkleider für Halbwüchsige, einen „Fuchswadel“, am Montag, einem der beiden Haupttage der Schömberger Fastnacht, tragen durfte.

Für die Schömberger und ihre „Fasnet“ war 1948 ein ganz besonderes Jahr. Zum ersten Mal seit acht Jahren fand endlich wieder eine richtige Fastnacht statt. Während der Kriegsjahre war dies allein deshalb schon nicht möglich, weil die Mehrzahl der Männer, wie der Schömberger Zunftschreiber resigniert feststellte, „unter die Waffen gerufen wurde“, und nach dem Krieg hatte die französische Besatzungsmacht ein generelles Versammlungsverbot erlassen. Nicht mehr als drei Personen durften auf der Straße zusammenstehen, ab 22 Uhr herrschte dazu Ausgangsverbot und in den Gastwirtschaften durfte kein Alkohol ausgeschenkt werden - wie sollte man da Fastnacht feiern?

Einem Schömberger Narren seine Fasnet zu verbieten, so hatte es der spätere langjährige Narrenvater Emil Riedlinger auf den Punkt gebracht, heißt, ihm einen Teil seiner Seele zu rauben. Riedlinger kam Anfang 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft zurück in seine Heimat. Gemeinsam mit einigen wenigen übriggebliebenen Kameraden seines Jahrgangs beriet man, wie die Fastnacht nach Jahren schlimmer Abstinenz wieder neu zu beleben wäre, um den Schömbergern damit ihre Freude zurückzubringen. Das war alles andere als leicht. Emil Riedlinger musste dafür zur gefürchteten Sûreté, der französischen Sicherheitspolizei nach Balingen gehen und dort um Erlaubnis bitten. Vom zuständigen Kommandanten Coderc wurde ihm damals beschieden, er möge doch lieber Blumen auf die Gräber der nahegelegenen KZ-Friedhöfe legen statt Fastnacht zu feiern -eine Entscheidung, gegen die nur schwer anzukommen war. Die Schömberger riskierten damals trotzdem ihren Narrensprung, am Fastnachtsmontag zunächst noch ohne Larven, am Dienstag dann mutig, in voller Montur und immer in dem Bewusstsein, in den nächsten Minuten verhaftet werden zu können. Vielleicht haben die Franzosen das Narrentreiben damals einfach ignoriert, vielleicht war Kommandant Coderc aber auch von der Schömberger Polonaise, dem großen Tanz der Narren auf dem Marktplatz, so beeindruckt, dass er seine Leute zurückhielt.

Obwohl das Versammlungsverbot auch 1947 noch Gültigkeit hatte, ließen sich die Schömberger jetzt nicht mehr bremsen und wurden in Sachen Fastnacht noch mutiger. Ganz Schömberg atmete auf, als 1948 die Fastnacht offiziell wieder nach altem Brauch und ohne alle Einschränkungen gefeiert werden durfte.

In dem beschaulich-kleinen Städtchen Schömberg am Fuß des Plettenberges ist das ganze Jahr über wenig los. Die meisten Bewohner sind sogenannte Nebenerwerbslandwirte, also fleißige Leute, die gleich zwei Tätigkeiten ausüben. Zum einen sind sie Bauern mit wenigen, verstreut im Umfeld des Städtchens liegenden Feldern, einigen Kühen, ein paar Schweinen und Hühnern und ganz selten einem Pferd. Zum anderen verdienen sie ihr Geld entweder in einem der kleinen Gewerbebetriebe, von denen es in Schömberg und Umgebung einige gibt, zum Beispiel Sägereien, eine Fabrik für Lederbekleidung, drei Trikotagenfabriken, oder in dem nahegelegenen großen Zementwerk Dotternhausen. Manche arbeiten zusätzlich zu ihrem bäuerlichen Betrieb auch als Maurer, Malermeister, Schreiner oder Elektriker.

Und noch eine weitere sympathische Eigenschaft zeichnet die Leute von Schömberg aus: Sie sind gesellig, schwätzen gern mit- und übereinander, und gute Nachbarn treffen sich abends oft „zu Licht“, wie sie es nennen, das heißt sie besuchen sich bei Einbruch der Dämmerung und setzen sich in der guten Stube gemütlich zusammen.

„Josef, wo hast du deinen Selbstgebrannten versteckt?“, neckt dann irgendwann der Nachbar zu vorgerückter Stunde, und das ist das Signal, dass der Abend zunehmend lustiger wird und sich noch weit in den frühen Morgen hineinziehen kann.

Ja, und dann gibt’s zur Abwechslung die Schömberger Fastnacht, die es jedes Jahr Ende Februar fertigbekommt, das betuliche Städtchen für einige wenige Tage radikal auf den Kopf zu stellen.

Fastnachtsmontag und -dienstag sind die beiden Haupttage der Schömberger Fasnet. Es ist kaum vorstellbar, dass ein echter Schömberger an diesen Tagen arbeitet. Der erste Ton des Narrenmarsches wirkt wie der Kuss der Königstochter im Märchen vom Froschkönig - schlagartig findet eine wundersame Mutation statt, jeder Schömberger im Besitz eines Narrenkleides wird zu Prinz oder Prinzessin, und wenn sich dann an Fastnacht zum ersten Mal die Narren in ihrer überwältigend bunten Schar über den Marktplatz ergießen, ist das auch ein Zeichen dafür, dass wieder einmal die bunten, närrischen Lichtgestalten der schwäbisch-alemannischen Fasnet über winterliche Finsternis gesiegt haben.

Schon Monate zuvor, eigentlich das ganze Jahr über, sehnen die Schömberger ihr irdisches Paradies herbei, das sie „Fasnet“ nennen. Auch ich fieberte 1948 dem Fastnachtsmontag entgegen, meinem großen Tag, an dem ich den Fuchswadel mit der glänzenden, kunstvoll geschnitzten Maske aus Lindenholz anlegen durfte, mit einem „Kleid“ aus weißem Leinen, kunstvoll bemalt mit Motiven aus einer anderen Welt, dazu vier Lederriemen mit runden, eisernen Glocken.

Erst an Fastnachtssonntag gegen Abend war es mir erlaubt, den „Narren“ bei Familie Kiene abzuholen, einer der wenigen Familien, die in Schömberg im Besitz von gleich mehreren Narrenkleidern waren und diese gelegentlich an befreundete Personen ausliehen — selbstverständlich ohne Geld, das ist Ehrensache, aber mit dem heiligen Versprechen, das „Kleidle“ gut zu behandeln und zum festgelegten Termin wieder unbeschadet abzuliefern.

„Ja Gerhard, kannst du denn schon jucka?“ fragte mich Mutter Kiene. Sie blickte mich dabei halb streng, halb schelmisch-lächelnd an und streichelte mit einer zärtlichen Bewegung über das auf dem Tisch ausgebreitete Narrengewand. „Jucka“ ist das schwäbische Wort für „springen“, denn beim Schömberger Narrentanz wird gesprungen. Große Trommel — linker Fuß, so lautet die Regel, und dabei wird jeder zweite Sprung verzögert ausgeführt. Gar keine so einfache Sache, weil Schöm-berger Narren immer in Dreier- oder Viererreihen zum Narrensprung antreten, und wenn einer aus der Reihe tanzt, also das „Jucka“ nicht beherrscht, sieht das wenig schön aus und ist ärgerlich für alle. Zwar gibt es eine „Beschreibung“, wie sich Teilnehmer des Narrensprungs zu bewegen haben, wer sich aber als Neuling danach richtet, ist arm dran und bringt, wenn es so weit ist, garantiert überhaupt nichts zustande: „Aufjede erste und dritte Zählzeit des Taktes springt man zuerst auf den linken und dann auf den rechten Fuß. In der jeweils zweiten und vierten Zählzeit des Viervierteltaktes wird der jeweils andere Fuß nach vorne gebracht, um dann wieder auf die erste beziehungsweise dritte Zählzeit aufgesetzt werden zu können. Jeweils die zweite und vierte Zählzeit wird auf dem Standbein nachgefedert.“

„Der Rudi hat es mir gezeigt, der ist Zwanziger und muss das ja wissen“, antwortete ich mit fester Stimme. Jetzt nur nichts Falsches sagen.

Lisa Kiene wusste natürlich um die Vereinbarung, die ihr Mann im Gasthaus Traube schon vor einiger Zeit mit Rudi getroffen hatte, und schließlich hatte sich mein großer Bruder diese Zusage auch mit zwei Krügen Bier erkaufen müssen. Und trotzdem: Sie machte vorerst keine Anstalten, den Fuchswadel an mich rauszurücken, und streichelte weiterhin sachte über die glänzende Larve, die metallisch-grauen Glocken und das weiße Leinen.

„Dass der Rudi jucka kann, will ich schon glauben, schließlich springt er als Zwanziger in der ersten Reihe. Es ist mir aber wichtig, dass du das auch kannst, denn dieser Fuchswadel wird normalerweise von unserem Dieter getragen, jeder im Städtchen weiß das, und wenn du falsch juckst, denken alle, es wär der Dieter.“

Aha, dachte ich, das ist es also. Sie hat Angst, sie könnte sich blamieren.

„Der Rudi hat gesagt, der Karl und der Otto werden mich in die Mitte nehmen und aufpassen, dass ich im richtigen Takt juck.“

Mutter Kiene war es jetzt zufrieden. Sie legte den Narren sorgfältig zusammen, so dass er in einen stabilen Karton passte.

„Morgen Abend um 8 Uhr brauche ich den Fuchs-wadel wieder, das weißt du“, sagte sie noch streng und schickte mich mit den besten Grüßen an Lioba und Josef nach Hause.

In dieser Nacht konnte ich vor lauter Angst, den ersten Narrensprung in meinem Leben zu verpassen, fast nicht schlafen. Es war 6 Uhr 30, als ich es im Bett nicht mehr aushielt und mich leise ins Wohnzimmer zu dem Fuchswadel schlich. Er lag ausgepackt auf dem Tisch, und ich startete langsam die Prozedur des Ankleidens.

Ich hatte dafür alle Zeit dieser Welt. Zuerst das ungewohnte weiße Hemd, das mir Lioba sorgfältig gebügelt hingelegt hatte. Danach die weite weiße Leinenhose mit aufgemalten bunten Figuren und breiten Hosenträgern. Ich war größer als Dieter, der Jüngste aus der KieneFamilie und entschloss mich deshalb, die Hosenträger um ein paar Zentimeter länger zu machen. Jetzt passte die Pluderhose besser. Als nächstes die Leinenjacke, bemalt mit seltsamen Tieren, zum Beispiel einem Pferd mit riesigem, gedrehten Horn.

Die Larve des Fuchswadel war glatt poliert. Sie lächelte mich freundlich an. Ich überlegte, ob das Gesicht zu einem Jungen oder Mädchen gehörte. Ich hätte es nicht sagen können. Als Kopfschmuck und zugleich Abschluss der hölzernen Larve wurde das geschlechtslose Gesicht von einem Haarkranz aus Hanf umrahmt, verziert mit bunten Perlen, Stoffröschen und kleinen, rautenförmig zugeschnittenen Spiegelstückchen auf beiden Seiten.

Bevor ich die Lindenholz-Larve aufsetzte, legte ich mir noch die vier Lederriemen mit jeweils drei eisernen Schellen um die Schultern — zwei links, zwei rechts. Jetzt nur noch die weißen Handschuhe. Fertig.

Die Larve mit den engen Sehschlitzen war gewöhnungsbedürftig.

Ich fasste die Holzmaske am Kinn und klappte sie nach hinten — so wie es alle Narren tun, wenn sie in Gasthäuser abtauchen, um Bier zu trinken. Das ging schon ganz gut, nur — sobald ich die Larve wieder zurückklappte, rutschte sie etwas zu tief, meine Augen waren dann nicht mehr auf Höhe der Sehschlitze. Verdammt, damit kam ich auf Dauer nicht zurecht. Wahrscheinlich hatte der junge Kiene, obwohl ein Jahr jünger, einen dickeren Kopf. Für mich blieb Gott sei Dank immer noch genügend Zeit, das Problem zu lösen. Es war jetzt 7 Uhr 20. Leise schlich ich in dem Flur zur Garderobe, fand dort auf der Ablage meine Wollmütze und zog sie über den Kopf. Perfekt, die Larve saß genau richtig, und außerdem fühlte sich meine Kopfbedeckung jetzt viel weicher an.

7 Uhr 40. Ich schaute immer noch aus dem Fenster. Auf der Flügelstraße, gerade vor dem Haus der Sei-frieds, ist am Fastnachtsmontag Treffpunkt der Narren. Es hatte angefangen zu schneien, und aus dem wie in Watte gepackten Licht, das die winterliche Dämmerung mit einer Mischung aus Schneetreiben, kalter Luft und feuchtem Nebel bildete, tauchten zunächst schemenhaft, dann mit festeren Konturen und gedämpften Farben die ersten Narren auf, begleitet vom Klingen ihrer eisernen Glocken — eine geheimnisvolle, verschworene Gemeinschaft.

Jetzt war es Zeit, sich unter die Narren zu mischen. Ich gehörte dazu. In Schömberg kennt jeder jeden, es bilden sich überall kleine Grüppchen. Alle haben jetzt noch die Larven zurückgeklappt, beim Reden bilden sich weiße Wölkchen. Einige Narren sind noch verkatert von der vergangenen Nacht, aber jeder weiß auch, dass dieses Gefühl schnell verschwindet. Auch mein großer Bruder Rudi, der in unserem Haus ein separates Zimmer im Erdgeschoss bewohnt, ist mit seinem Narrenkleid inzwischen eingetroffen. Um 8 Uhr ist die Flügelstraße proppenvoll mit Narren. Niemand, der in Schömberg ein Narrenkleid besitzt, versäumt diese Minuten. 8 Uhr 10. Es schneit stärker, aber gleichzeitig wird es heller. Schnee gehört zur Fasnet wie der Plettenberg zu Schömberg. Die Narren lachen und scherzen und sind bestens gelaunt. Schlagartig werden jetzt die Larven über das Gesicht gezogen, und pünktlich um 8 Uhr 11 setzt sich der imposante Zug in Viererreihen in Bewegung. Ich habe einen Moment lang das Gefühl eines heillosen Durcheinanders, mit ihren Larven sehen alle plötzlich gleich aus, einige Sekunden lang weiß ich nicht, was ich machen soll, aber da greifen schon rechts und links zwei kräftige Hände zu, und ich bin mitten drin im Zug.

„Beim Jucka immer auf den Vordermann schauen“, hatte mir noch mein Nachbar zugerufen. Das war ein guter Tipp, denn dieser erste Teil des Narrensprungs muss ganz ohne Musik auskommen, lediglich der Klang der Schellen gibt den Takt an. Es sind keine Zuschauer zu sehen, die Schömberger Narren zelebrieren am Montagmorgen den ersten Teil ihres Narrensprungs für sich allein. Ich reihe mich ganz selbstverständlich in das befreiende, schweißtreibende Springen der Narren ein und passe mich ihrem eigenartigen Rhythmus an.

Auf dem Marktplatz werden die Narren schon von der Stadtkapelle erwartet. Sobald die ersten auf den Platz einbiegen, hebt der Kapellmeister den Taktstock und begrüßt die bunte tanzende Schar mit dem ersten Narrenmarsch des Tages.

Mit Musikbegleitung geht jetzt der morgendliche Narrensprung auf Höhe des Rathauses zunächst einmal zu Ende. Die Narren verstreuen sich, haben viel Durst und füllen die Schömberger Gaststätten oder schauen bei alten Bekannten rein, die auf den närrischen Besuch bestens vorbereitet sind. Ich läute bei Pius und Mina Seifriz, guten Freunden unserer Familie, die im Schömberger Zentrum ein altes Bauernhaus bewohnen. Unser Zuhause, das große Bauernhaus „Auf dem Flügel“, gehört ihnen. Ein kräftiger Schluck Most schmeckt köstlich, dazu ein Stück Schwarzbrot, belegt mit schönem durchwachsenen Speck. Wie üblich bei solchen gastlichen Häusern, drängen sich nach und nach noch weitere Narren in die kleine Stube, und der bekannt gute Most von Pius wird stark dezimiert.

Für Schömberger Narren bleibt nicht viel Zeit zum Ausruhen. Nach dem Narrensprung vom Morgen heißt es jetzt Aufstellen für das Narrenlied, mit dem der sogenannte Reigen begleitet wird. Das Narrenlied wird an der ganzen Fastnacht nur einmal gespielt. Keiner weiß, wer es getextet oder komponiert hat, aber jedem geht es ganz tief unter die Haut. Wer zu dem Schöm-berger Narrenlied den Reigen getanzt und unter der Larve mitgesungen hat, kann die Melodie niemals wieder vergessen. „Hätten wir dieses Lied nicht“, sagen die Schömberger, „wäre die Fasnet um vieles ärmer.“ Und mitten im Jahr, wenn die nächste Fastnacht schon wieder etwas näher kommt, denken viele Schömberger bereits wieder an ihr Narrenlied, das nur ihnen gehört, und dessen feierlich getragene, von der Stadtkapelle intonierte Melodie ihnen Glücksgefühle beschert:

Jetzt kommt die längst gewünschte Stunde,

sie kommt und kehret bei uns ein.

Die Narren all, vom ganzen Städtchen,

die stellen sich zum Feste ein.


Ja, heut beginnt das Narrenleben,

das allen Bürgern wohl gefällt.

Es kann fürwahr nichts Schön’res geben,

wohl auf der ganzen weiten Welt.


Die Narren wollen heut nur pflegen

den echten närrischen Humor.

Drum wer an so was Freude findet,

der leiht der Narretei sein Ohr.


Die zwei Husaren halten Ordnung,

und das ist ihre strenge Pflicht;

springen umher mit den Gewehren,

jedoch die Mädchen fürchten’s nicht.


Der alte Harzer mit der Glocke

macht so ein pfiffiges Gesicht.

Erfreut sich wie ein junger Knabe

und schämt sich seines Alters nicht.


Ihr Narren all vom ganzen Städtchen,

zum Feste Ihr erschienen seid!

Drum rufet laut aus frohem Herzen

ein „Hoch" auf Schömbergs Narrenzeit.

Wenn ein Schömberger in sein Narrenkleid schlüpft, ist das weit mehr als nur eine Kostümierung. Unter der Larve passiert etwas Geheimnisvolles, eine neue Identität wird angenommen, eine, mit der man sich freier und besser fühlt. Ob dieser Brauch auf uralte heidnische Rituale zurückgeht oder ob einfach nur ein früheres Privileg des Adels übernommen wurde, ist von Historikern nicht eindeutig geklärt. Jedenfalls wurden schon an mittelalterlichen Höfen ausgelassene Narrenfeste gefeiert. Später haben die Bürger diesen Brauch übernommen mit der Absicht, sich vor der strengen Fastenzeit noch einmal kräftig auszuleben. Es ist auch kein Zufall, dass fast alle Larven ein Doppelkinn haben: Man wollte so wohlgenährt aussehen wie der Fürst. Und ganz nebenbei hatte man früher an der Fasnet die einmalige Gelegenheit, einem beliebigen Oberen gehörig die Meinung zu sagen, ohne gleich Kopf und Kragen zu riskieren.

An derartigen geschichtlichen Betrachtungen war ich an diesem Fastnachtsmontag wenig interessiert. Ich fühlte mich grenzenlos glücklich, war Teil einer großen, übermütigen Gruppe und spürte die bewundernden Blicke meiner Alterskameraden, die nach und nach auch in den Gaststätten auftauchten und meine Nähe suchten. Jetzt, am späten Vormittag, leerten sich innerhalb weniger Minuten die Gaststätten und alles strebte dem Marktplatz zu, um einen weiteren Höhepunkt der Schömberger Fasnet mitzufeiern: die Polonaise.

Dreimal während der närrischen Tage, immer wenn die Polonaise getanzt wird, verwandelt sich der Marktplatz zum Epizentrum der Schömberger Fasnet. In strenger Formation trifft die bunte Schar der Fuchs-wadel und der majestätischen Fransenkleidle auf dem Marktplatz ein und tanzt eine echte Polonaise, so wie sie früher an französischen Höfen üblich war. Kein Larventräger versäumt den großen Narrentanz, zu den Klängen des Narrenmarsches jucken alle in ihrem eigenartigen Schrittrhythmus mehr als eine Stunde lang, unter der Larve rinnt der Schweiß in Strömen, es ist stickig, die Außenwelt, reduziert auf zwei Sehschlitze, verliert an Realität. Für Zuschauer ist es ein überwältigendes, farbenprächtiges Spektakel, aus Viererreihen werden Zweierreihen, später Einerreihen, die in eine riesige Schnecke übergehen, alles verläuft wie von einer magischen Hand wohlgeordnet und muss für Betrachter von außen trotzdem wie ein buntes, klingendes Tohuwabohu aussehen, das sich ganz zum Schluss in einem Walzer auflöst.

Was in aller Welt ist denn in die Schömberger gefahren, eine französische Polonaise als Herzstück in ihre Fasnet einzubauen? Fast alles lässt sich auf historische Wurzeln zurückführen. Im Fall der Polonaise ist es die Person des Wandergesellen Johann Wuhrer, der im 18. Jahrhundert in Frankreich auf die Walz ging und von dort die Polonaise mitbrachte, „da Bolones“, wie die Narren sie auf ihre Weise eingedeutscht haben.

Um 18 Uhr ist die offizielle Zeit der Narren vorbei. Das heißt aber nur, dass sie ihre schweren Schellen ablegen müssen, um nicht der Kirche, die in dieser katholischen Gegend jeden Tag mit Glockengeläut zur Andacht ruft, ins Gehege zu kommen. Sicherlich gut gedacht, jedoch letztlich ohne Chance für die Kirche, denn am Fasnetsonntag und -montag gelten hier die Schömberger Freinächte. Was nichts anderes heißt, als dass jeder feiern kann, so lange er will, ohne Rücksicht auf Kirche und Polizeistunde.

Für mich ist der Fastnachtsmontag zu Ende. Ich hatte einen Tag lang mein Narrenkleid mit der stickigen Larve und den zwölf schweren Eisenglocken getragen, war zu einem Teil des Narrensprungs geworden und durch nahezu alle Schömberger Gaststätten gezogen, vom „Lamm“ über das „Café Baier“ bis zum „Plettenberg“, hatte die Polonaise getanzt und das Narrenlied mitgesungen — jetzt schleppte ich mich mit langsamen Schritten nach Hause. Ich war müde, sehr müde, zugleich aber auch unendlich glücklich.

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