Читать книгу Mai-Schnee - Gertrud Wollschläger - Страница 10

Оглавление

Später zur Kirschenzeit kommen sie wieder. Mit großen und kleinen Körben ausgestattet werden diese Köstlichkeiten gepflückt. Herrlich große, dunkle Herzkirschen. Dem Geißenschinder, der viel von seiner eisigen Kälte im Tal lassen musste, sei Dank. Nur dadurch können sie eine solche Größe und die süßesten Aromen erlangen. Das wussten unsere Eltern und Großeltern schon. Sie und später wir pflückten oder holten beim Bauern mit Freuden jedes Jahr Kirschen. So viel wir wollten.

Ich hätte gerne geschrieben: Bis heute! Aber das stimmt nicht. Eines Tages änderte sich für uns mit einem Schlag alles. Freude am Kirschenholen gab es nicht mehr. Ängste machten sich in unseren Familien breit. Es war Schreckliches geschehen! Ein junges Mädchen vom Berg war getötet worden. Feige ermordet. Die Gegend hatte ihren Glanz verloren.

In diesem Jahr machte ich mich wieder auf den Weg dorthin. Nach so langer Zeit. Nach über vierzig Jahren! Es musste einfach sein!

Ich habe Menschen kennen gelernt, die mir dabei halfen, den gefürchteten einsamen Weg durch den Wald wieder zu gehen, Menschen, die mich begleiteten und viel erzählten, was sich aus der Vergangenheit in ihre Gedanken eingemeißelt hatte. Sie haben nichts vergessen. Alles war da, ganz nah, war mit ihnen gegangen, bis heute. Als ich aus dem Wald trat, war die Landschaft immer noch schön, wunderschön.

Den Mai-Schnee gab es in diesem Jahr wie immer. Die Kirschen reiften heran, üppig wie immer. Wir machten unsere Körbe voll, wie immer.

Irgendwann beim Pflücken kam dieses Kinderlied in meine Gedanken. Machte sich fest wie ein Ohrwurm:

Rote Kirschen ess ich gern,

schwarze noch viel lieber,

in die Schule geh ich gern

alle Tage wie…

Ich konnte die letzte Zeile nicht zu Ende singen. Das ‚wie…‘ blieb mir im Hals stecken. Das Kind kam ja nicht wieder. Es kam niemals wieder.

Mai-Schnee

Подняться наверх