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DER GEIßENSCHINDER

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Der Ostwind hatte ganz schön zu tun, bis er es schaffte, oben auf dem Plateau anzukommen. Meist brauchte er mehrere Anläufe, bis er die hohen Tannenspitzen, die den Berg mit seiner topfebenen Fläche von allen Seiten umgaben, überwinden konnte. Hatte er aber die letzte Hürde genommen, blies er an seinen besonderen Windtagen, was das Zeug hielt. Die Wipfel der Bäume tanzten dann mit ihm, brachen aber sein übermütiges Treiben meistens rechtzeitig, bevor er die Hochebene erreichen konnte. Häufig gebärdete er sich gerade in der Nachwinterzeit – Februar, März, April – nochmal wie ein Angeber-Krieger, der einen hohen Berg erstürmen will, dessen Atem dann aber doch nicht ausreicht, um kraftvoll an sein Ziel zu kommen. Genau dieses Windbrechen sorgte dafür, dass der Ostwind immer einige Grade wärmer oben ankam als anderswo. Es war die geschickte geografische Lage des Berges, die das seltene Phänomen hervorbrachte, so dass der andere, der Nordwind, wenn er sich zwischendurch auf die Hochebene traute, stets den Kürzeren zog. Dieser gemäßigte Ostwind war ein gern gesehener Gast bei den Bauern auf dem Berg. Hatten sie es doch ihm zu verdanken, dass auf ihrer Hochebene Kirschen reiften wie sonst kaum noch irgendwo im Land.

Aber es gab auch die anderen Jahre. Dann, wenn der Wind auf seinem Weg aus dem Osten zu viel an Kälte und Frost eingesammelt und nichts davon unterwegs abgeladen hatte, wenn er sich im Frühjahr noch einmal überraschend auf den Weg machte, wenn er heimlich über Nacht den Berg hochkroch und tagelang mit dicken Backen über die Obstbäume blies, deren erstes zaghaftes Anschwellen der Knospen bereits zu sehen war. Dann zerstörte er mit seinem kalten Atem alles, was sich bereits hervorgewagt hatte. In einer einzigen Nacht schaffte es der raue Geselle, alles zu vernichten, was er ungeschützt finden konnte. Brutal versetzte er den ersten Frühlingsboten einen tödlichen Schlag. Der mitgebrachte Frost sorgte dafür, dass sie danach wie matschiges Gemüse aussahen.

„Der Geißenschinder ist unterwegs“, sagten dann die Alten. „Holt die Geißen rein! Kümmert euch um unsere Hunde und Katzen! Lasst die Stalltüre einen Spalt offen, dass die Tierle verschlupfen können! Lauft! Holt Stroh aus der Scheune und stopft die Ritzen zwischen den Brettern im Stall zu!“ Die Hühner konnte man sich selbst überlassen. Die wühlten sich in ihre ausgekratzten Mulden, steckten die Köpfe unter die Flügel und verdösten den Tag. Wer aber seinen Ziegenstall nicht vorsorglich an die windgeschützte Seite der bestehenden Stallungen gebaut hatte und die Tiere dadurch dem berüchtigten späten Geißenschinder aussetzte, musste damit rechnen, dass sie in den folgenden Wochen mit seltsamen Krankheiten zu kämpfen hatten. Viele überlebten dann diese späte, harte Winterkälte nicht. Ein herber Verlust für die Kleinbauern! Waren die Ziegen vor Zeiten doch die Kühe vieler Familien auf den kleineren Schwarzwaldhöfen. Sie wurden gebraucht für das Überleben, die Geißen. Ihr Unterhalt kostete so gut wie nichts. Ihr karges Futter – sie fraßen tatsächlich alles – wuchs sozusagen vor der Haustür.

Die Landschaft, wenn man sie von oben anschaut, liegt fast topfeben da. Ein vielfarbiger Teppich, der sich mit jeder neuen Jahreszeit in ständig wechselnder Kleidung präsentiert, breitet sich vor dem Betrachter aus. Es sind die bunten Farben der Erde in allen Schattierungen. Das helle Frühjahr mit seinem überwältigenden Grün. Der farbige Sommer mit seiner einmaligen Blütenpracht, der die verschiedensten Sorten von Kräutern zum Blühen bringt und sie wie Edelsteine im Gras funkeln lässt. Ein Herbst, der nicht genug zeigen kann an farbigem Laub, das die Sonne an den freiliegenden Waldrändern in Gold und Rot aufleuchten lässt. Ein fahler, langer Winter? Bestimmt nicht! Die Äcker und Wiesen holen ihre Farben ein, ziehen ihre braunen Kleider an, von hell- bis dunkelbraun. Die knorrigen Obstbäume warten auf die Winterstürme, die ihnen helfen, sich von manchem überflüssigen dürren Ast zu befreien. Von allem gibt es auf dem Berg ein bisschen mehr, mehr Farben, mehr Schnee, mehr Wind, mehr Luft zum Atmen.

Steile Wege führen aus allen Richtungen auf den Berg. Wenn der Wanderer den Wald verlässt, breitet sich vor seinen Augen eine überraschend schöne Ebene aus. Mit dem kleinen Weiler mittendrin aus wenigen alten Bauernhöfen, die eng beisammenstehen, scheint es dem Betrachter, als sähe er Bilder aus einer anderen Welt. Man fühlt sofort: Hier kann keiner alleine. Jeder ist am Leben des anderen irgendwie beteiligt. Lattenzäune schützen die alten Hausgärten mit ihren Pflanzen, die sich ihren Lebensraum schaffen dürfen, wie es ihnen gefällt. Gemüse und Beerensträucher, die oft jahrzehntelang an immer der gleichen Stelle stehen und unermüdlich Früchte tragen, locken mit ihren reifen Früchten zur Erntezeit den Betrachter an die Zaunritzen. Wiesen wechseln sich mit Äckern ab, die großen Obstanlagen werden von Wanderwegen gesäumt. Eine Wallfahrtskapelle am Waldrand, Wegkreuze, ein Stück Jakobsweg und zwei gern besuchte Wirtshäuser runden das Bild ab. Es ist anders als anderswo. Es ist so, wie der Mensch im tiefsten Innern tickt, wie er eigentlich leben möchte, was seine Seele fordert, was seine Augen sehen wollen.

Und die, die hier wohnen? Die Menschen kennen einander. Oft besser als nur gut. Geht man in ihren Biografien etwas weiter zurück, ist festzustellen, dass sie meist irgendwo irgendwie miteinander verwandt sind. Diese Verwandtschaftsverhältnisse sind nicht immer einfach für die Beteiligten. Da kann man nicht einfach was sagen über jemand, denn es ist doch die Base von dem dabei, über den man an der Kaffeetafel heute so gerne geschimpft hätte. Etwas über den Acker, den die eigene Enkelin so gerne geerbt hätte, der jetzt aber in den falschen Händen gelandet ist. Wegen einer Tante, die sich von irgendeiner Seite einschmeicheln konnte.

„Jetzt gibt der doch denen den Acker. Der hat mal meinem Großvater g’hört. Den haben die dem abg’schwatzt für ein paar Kartoffelernten.“ „Von denen halt ich gar nichts mehr.“ „Komm mir bloß net mit der Sippe!“

Oder: „Mei Schwägerin, die Klara, hat doch scho lang gwusst, dass mei Mann a Verhältnis mit der Nachbarin hat. Des Luder! Aber mir hat sie natürlich nix davon erzählt. Kein Sterbenswörtle hat sie verlauten lassa. So isch die! Sie hat mi net aufrega wolla, hat sie mir gsagt. Ha, Ha! Des kennt mr jo! Vorne rum freindlch, henda rum schwätza. Wenn du recht gucksch, hat die sich no gfreit do drüber. Des Luder!“

Ist die Verwandtschaft sich aber einig über einen Eindringling von außen, klingt es natürlich ganz anders. Wie ein Bollwerk wird zusammengestanden und undurchdringlich abgeschottet. „Mir wisset nix und mir saget nix. Mir lasset nix raus. Brauchsch gar net weiterfragen. Ein Reingschmeckter erfährt von uns sowieso nix.“

Über eine geteerte, breitere Straße und mehrere kleine Seiten- und Feldwege ist der Ort aus jeder Richtung leicht zu erreichen. Steile Wege führen aus allen Richtungen auf den Berg. Wollten die Menschen ins Tal, gab es spezielle Abkürzungen, die steil oder schräg durch die Wälder nach unten führten. Die schmalen Trampelpfade kannte jeder schon von Kindheit an. Sie wurden weitergegeben von Generation zu Generation, wurden über die Jahre genutzt von Eltern und Großeltern. Jeder wusste sofort, was gemeint war, wenn jemand vom Schülerwegle, dem verschwiegenen Schleichweg der Jäger oder der alten Steige sprach. Während es auf der Teerstraße viele Kilometer nach unten ging, konnte man den unteren Ort auf diesen Spezialwegen in zehn Minuten erreichen.

Vor allem das Schülerwegle war ein stark frequentierter Abflugweg für die Schulkinder, die die ersten Klassen der Dorfschule besuchten. Oben, am Anfang des Weges wurde Aufstellung genommen, die Arme wie die Tragflächen eines Flugzeugs ausgebreitet, und ab ging es mit lautem Fliegergebrumm auf schnellstem Weg ins Tal. Der Schulranzen, der auf den Rücken geschnallt war, hüpfte mit, mehr oder weniger hoch, je nachdem, wie kräftig die Sprünge seines Trägers waren. Nach Schulschluss ging es wieder den Berg hoch. Jetzt aber über die Abkürzungen der Abkürzungen, immer in der Hoffnung: „Wenn ich dabei die Teerstraße quere, könnte jemand vorbeikommen, der mich mitnimmt.“

Der Wechsel der Jahreszeiten mit seinen heißen Tagen oder seinen Wetterunbilden wurde von Jung und Alt akzeptiert, so wie er war. Jedermann machte das Beste daraus mit den Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen.

Den Winter überstehen halfen festes Schuhwerk, warme Teddyjacke, handgestrickte Handschuhe und Schals, den Sommer kurze Hosen, Röcke, Hemd und Bluse, Sandalen oder barfuß.

Besondere Tage und unvergessene Höhepunkte des Sommers waren die Badetage im Fluss, der lebhaft plätschernd am Dorf vorbeiströmte. Das Wasser mal flach, mal tief. Jeder konnte sich seine Badestelle aussuchen. Wundervolle Nachmittage waren das. Die Freunde waren da, die ersten Mädchenblicke kamen bei den Jungen an, mal scheu, mal spitzbübisch frech.

Es gab die spannende Zeit des Kennenlernens, der kleinen Eifersüchteleien, später die großen Eifersuchtsdramen, am Ende die Schlägereien. All das gehörte zum Dorfleben. Keiner war deswegen ein geistig Gestörter oder gar ein Gewalttäter. Nein, sie waren Kameraden, Schulkameraden, wurden Freunde und blieben es oft ein Leben lang.

Und im Winter? Schlittenfahren war jetzt angesagt. Die ersten Skiversuche. Aber wer hatte damals schon Skier? Einige Auserwählte, die Besseren sozusagen. Doch es war für uns nicht wichtig, zu diesen Besseren zu gehören. Es war auch nicht wichtig, Ski zu fahren. Schneehäuser bauen war wichtig. Sich gegenseitig mit Schnee einseifen war herrlich.

Der Höhepunkt jeden Winters, überhaupt des ganzen Jahres, war aber Weihnachten. Bei diesem Fest war man sicher, dass es nie ausfiel, dass es das einfach immer gab. Niemand konnte es abbestellen, egal was geschah. Man hatte halt vorher brav zu sein. Das konnte man aber getrost auf die letzte Woche vor Heiligabend verschieben, das galt dann so, als wäre man es immer schon gewesen.

Der Christbaum mit dem alten Schmuck, den bereits die Oma gehabt hatte, wurde feierlich aufgestellt. Die Silberkugeln, die Goldzapfen, die weißen Vögelchen, alles schon etwas vergilbt und abgeblättert. Mit Wachsspuren darauf, die von jahrzehntelangem Gebrauch den Glanz verdeckten. Lametta, Jahre alt, zusammengeklebt, leicht kraus und trotzdem auf geheimnisvolle Weise prächtig anzusehen, wurde in jedem Jahr aufs Neue gebügelt und funkelte am Baum. Dem Zauber, der von der geschmückten Weihnachtstanne ausging, konnte sich keiner entziehen. Alles passte.

Oma und Mutter weinten ein bisschen, wenn ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ gesungen wurde. Papa schnäuzte sich mindestens zwei bis dreimal ins Taschentuch. Opa klopfte mit dem Stock ungeduldig auf den Boden. Er wollte sein Essen und sein Geschenk. Das waren oft eine neue Pfeife oder Zigarren. Kaum hatte er es ausgepackt, lief Opa zu Hochform auf. Jedes Jahr wurde die ganze Familie eingehend belehrt über den rechten Umgang, wie die Pfeife zu stopfen war und die Zigarren vorschriftsmäßig angezündet werden mussten. Noch hinzuzufügen wäre: Nach ein paar Tagen hing wieder die alte Pfeife im Mundwinkel, abgenützt, verrußt mit angeknabbertem Mundstück.

Und für die anderen? Was das für Geschenke waren? Eine Haartrockenhaube für die Mutter, ein paar Filzhausschuhe für die Oma, gefüttert, mit Reißverschluss vorne. Sie war ja mittlerweile schon vierundsechzig Jahre alt. Eine Strickjacke zum Beispiel für Vater, patentgestrickt aus guter Schurwolle, filzfreudig, meistens braun, immer ein kleines bisschen zu eng. Aber das Strickmuster wuchs mit Vaters Umfang mit. Sie wurde nie abgelegt, hielt Jahr um Jahr. Vater und seine braune Jacke waren in der Erinnerung unzertrennlich.

Und die Kinder? Bunte Teller. Die mussten sein, mit Brötle, Mandarinen, Nüssen, einem Weihnachtsmann aus Schokolade. Dazu gab es eine Mütze, mit passenden Handschuhen und Schal. Selbstgestrickt natürlich, aus Wolle! Echte Schafwolle, die erbarmungslos auf der Haut kratzte. Herrlich jedoch waren andere Dinge: ein Bilderbuch, eine Puppe, Stofftiere, ein Ball, ein rotes Feuerwehrauto aus Blech, eine Eisenbahn zum Aufziehen.

Die Welt war in Ordnung auf dem Berg und im kleinen Dorf am Fluss und in den Familien. Na ja, fast! Was es halt so gibt, wenn alltägliche Dinge nicht immer passen, wo Menschen nah zusammen wohnen, aber trotzdem jeden Tag miteinander auskommen müssen und am Ende doch zusammenhalten und wissen, wo sie hingehören.

Es war gut, so wie es war. Bis, ja, bis zu jenem schrecklichen Tag im Mai vor vielen Jahren, als es geschah. Dieses Ungeheuerliche! Ohne jede Vorwarnung war es da, veränderte in wenigen Stunden diese kleine Welt und die ganze Umgebung. So schrecklich, dass heute noch, über vier Jahrzehnte danach, sofort wieder alles lebendig wird, was man glaubte, erfolgreich in der Schublade „Es war einmal …“ verstaut zu haben.

Mai-Schnee

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