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Tief in Gedanken überhöre ich fast Nancys Schritte. Der Raum wird schlagartig sehr hell, dann wieder dunkler. Ich schrecke hoch, erhebe mich. Die Lichtstärke kann mit einem Regler seitlich der drei Stufen zum Zimmer verändert werden.

Nancy geht zu der dunkelbraunen Holzverkleidung der linken Wand mit kaum erkennbaren mittelgroßen Klappen darin. Beim Öffnen einer davon leuchtet in der Aussparung ein gelbliches Licht auf. Nach zwei oder drei Handgriffen erlischt das schwache Licht.

Mit allem rechne ich, nur nicht damit.

Nancy wendet sich mir zu.

Plötzlich ist der Raum erfüllt von Musik. Ein Klangerlebnis, das mir geradewegs unter die Haut geht. Die Musikanlage muss sehr gut sein. Ausgerechnet dieses Musikstück. Mit den ersten Harmonien der Klavier-Symphonie Nr. 9 von Antonin Dvorák werden mir die Knie weich.

Die Musik wird meine Rettung.

Meine musikalischen Ansprüche erfüllt gefällige, rockige Popmusik. Klassische Musik meide ich; dabei fühle ich mich zuverlässig einsam und werde traurig. Opernarien, zumal mit weiblichem Gesang, grenzen für mich an seelische Folter.

Nur ein klassisches Stück ist die große Ausnahme.

Damals, als unser winziges Claudia-Mädchen blutverschmiert in einer Geburtsklinik in Königstein im grünen Licht des Raumes erschien und munter loszuquäken begann, spielte im Hintergrund dieses Stück. Zufällig. Gleichgültig, wo ich mich aufhalte – seitdem kommen mir wie von selbst die Tränen, wenn ich die Musik „Aus der Neuen Welt“ höre. Aus Freude, Rührung, Ergriffenheit; was weiß ich.

Das Stück verwandelt mich.

Was sich anschließend abspielt, betrachte ich immer noch als das Rätselhafteste, Verrückteste, was geschehen konnte. Die Ereignisse an der Florence-Treppe, „Central North Beach“, „Hall of Justice“, das Abendessen in der Küche dieses Hauses; meine Gedanken, Gefühle und Entschlüsse – auf magische Weise umschließt die Musik den ganzen Tag. In einer Traumgestalt von ergreifender Tiefe und Schönheit. Wie eine fühlbare Energiewolke umhüllt sie mich. Mit banger Freude, Anerkennung und der Bestätigung, das Richtige zu tun.

Der Musik-Traum begleitet mein Handeln. Es geschieht beinahe von selbst, ohne planvolle Überlegung und dennoch folgerichtig. Keine Sekunde kommt mir der Gedanke, ich könnte mich lächerlich machen oder in meinem Vorhaben scheitern. Unwillkürlich gehe ich auf Nancy zu. Sie schaut mich an, erst verwundert, dann beinahe erschrocken. Ich wische mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht, erkläre mit etwas verquetschter Stimme:

„Entschuldige, Nancy, ist nicht schlimm. Das passiert mir immer bei der Musik. Sie erinnert mich an die Geburt unserer Tochter. Geht gleich vorbei.“

„Das konnte ich nicht wissen ... soll ich ausschalten?“

„Nein, im Gegenteil, bitte lass sie laufen. Vielleicht etwas leiser.“

Es wird stiller im Raum, doch mein entrückter Zustand bleibt.

Mit halbwegs klarer Stimme bringe ich heraus:

„Nancy, was ich sagen möchte, ist wichtig. Bitte gib mir die Zeit dafür.“

„Na denn, mach,“ antwortet sie unsicher.

„Vorweg, als Du heute Mittag aus dem Auto gestiegen bist, offen gesagt, dein Aussehen hat mich beinahe umgehauen, deine ganze Ausstrahlung. Deine Erscheinung verwirrt mich immer noch. Entschuldige meine Geradheit; ich finde dich sehr ... so viel Schönheit und Anmut ... das ist sehr faszinierend. Aber jetzt ist es Nebensache.“

Sie sieht mich ruhig an, als überhört sie mein Bekenntnis. Ihr Blick wird milder, teilnahmsvoller.

Die Worte kommen von allein. Mir ist, als habe ich einen fertigen Text darzubieten, bei dem ich überzeugend, glaubwürdig sein muss.

„Ich war vier Stunden lang bei der Polizei, erst in ,North Beach’, dann in der Bryant-Straße.“

Nancy sieht mich weiter mit kaum erkennbarem Nicken an.

„Oh ... kay?!“

„Am Ende gab es im Police-Hauptquartier ein unerwartetes Vorkommnis. Es hat mich wie ein Schlag getroffen und zum Nachdenken gezwungen. Dadurch ist mir einiges klar geworden.“

Nancy tritt ein Stück näher, nickt ermutigend.

„Heute draußen auf der Florence-Treppe ... das Ungewöhnliche daran ... Erst im Rückblick habe ich das begriffen.“

Fast erschrecke ich über das, was ich sagen muss.

„Während des Kampfs mit dem Chinesen ... hatte ich keine Angst um mich. Ich habe allein Angst um das Kind gehabt.“

Ihre Augen werden größer, sie steht mit halboffenen Mund da.

„Nur die Entschlossenheit, es zu schützen. Verstehst Du? Ich hatte panische Angst um ein kleines, mir vollkommen fremdes Mädchen, das schlagartig da war. Kein Gedanke an mich selbst, nur an das Mädchen. Es war bloß da, hat nichts getan außer mir zu vertrauen.“

Die Musik im Hintergrund trägt mich weiter. Als mir wieder ein paar Tränen kommen, lasse ich sie unbeachtet.

„Der Vorfall bei der Polizei hat mir den tieferen Sinn bewusst gemacht. Seitdem weiß ich: Diesem fremden Kind verdanke ich eine wertvolle Erfahrung, die sehr beglückend ist. In dem Augenblick hat mir das Mädchen alles bedeutet. In dem sicheren Gefühl, das Richtige zu tun.“

Es fühlt sich unglaublich gut an, Nancy das zu sagen.

Mir läuft es prickelnd über den Rücken.

„Das Erlebnis bedeutet mir mehr, als Worte ausdrücken können. Deshalb bin ich hierher gekommen, ... um dir das zu sagen. Ob andere Leute das verstehen, ist mir egal. Ich muss mit niemandem darüber sprechen, auch nicht mit deinem Vater. Dass Du es weißt, nur das ist mir wichtig.“

Wie wichtig, begreife ich erst, als ich es sage.

Nancy schaut mich mit großen Augen an. Und verändert sich.

Mir ist, als begegnen wir uns neu. Vor mir steht eine Frau, der ich einfach vertraue. Ihr Aussehen ist bedeutungslos. Ich fühle mich ihr verbunden, mit Herz, Seele, Kinderliebe oder was auch immer. Durch meinen Kampf um ihr Töchterchen. Ich blinzele erstaunt, reiße mich von der überraschten Empfindung los.

Geschafft! Aber erst der halben Weg.

Sie will etwas sagen. Ich hebe flüchtig die Hand, will mich nicht abbringen lassen von dem, was noch zu tun ist.

„Wenn Du verstehst, was mir das bedeutet, musst Du etwas für mich machen, Nancy. Es ist wichtig für uns beide. Bitte, sag noch nichts. Unsere Begegnung war reiner Zufall. Der Grund hinter dem Geschehen ist unklar, hat uns in Angst versetzt. Dich und mich auch. Und misstrauisch gemacht.“

Sie nickt stille Zustimmung, ihre Mundwinkel bewegen sich ein wenig aufwärts. Anspannung und Verdruss sind aus ihrer Miene verschwunden. Nancy strahlt Einverständnis, Offenheit und wieder die Nähe von vorhin aus, als uns der „Shushi“-Tiger an der Scheibe begrüßt hat.

Ihr verhaltenes Lächeln lässt mich weitersprechen.

„Auch wenn jetzt etwas völlig Irres kommt, es muss sein. Du bist eine fremde, verheiratete Frau; ich bin für dich ein fremder Mann. Das ist mir bewusst, das achte ich. Gerade deshalb: Bitte, mach mit. Versprochen, ich wahre großen Abstand zu dir und verhalte mich vollkommen gesittet. Du musst nur anwesend sein und hinschauen. Das ist alles, worum ich bitte. Du brauchst nichts weiter zu tun, versprochen. Anschließend darfst Du mich verfluchen oder auslachen.“

Ohne einen Augenblick zu zögern erklärt sie:

„Einverstanden. Aber sei gewarnt, ich beherrsche den Dritten Dan, habe einen schwarzen Karate-Gürtel.“

„Deine Tugend wird in jeder Hinsicht gewahrt. Können wir bitte in dein Badezimmer gehen und dort zwei Minuten ungestört sein? Damit niemand auf falsche Gedanken kommt.“

Nancy verblüfft mich erneut.

„Komm mit, ich gehe vor.“

Sie zieht ein Taschentuch aus ihrer Gesäßtasche und reicht es mir. Obwohl meine Tränen bereits getrocknet sind.

Die Chinesische Mauer

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