Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 7

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Das Mädchen in Zeitlupe vor mir auf den Boden stellen, das müsste ich tun. Um dem Beamte meine freien Hände zeigen zu können. Nur, die Kleine klammert sich fest seitlich an meinen Nacken. Dreht dem Beamten vorsichtig den Kopf zu, ängstliche Neugier in den Augen.

„Zum letzten Mal ... lass das Kind los, Mann!“

„Brian!“

Der Polizeibeamte schreckt zurück. Unvermittelt kreischt die Kleine los, fuchtelt mit ihrem rechten Arm vor meiner Schulter.

„Wo hast du denn gesteckt, Brian?,“ kräht sie, ihr Gesicht dicht neben meiner Nase. Schlagartig strahlend, immer noch mit Tränen an den Augenwimpern, erklärt sie mir: „Brian ist mein großer Bruder.“

Der Beamte ist ebenso überrascht wie ich.

In einen Anflug von Erleichterung denke ich, mit dem Kind vor meinem Bauch schießen die Beamten nicht so schnell.

Eine makabere Form der Sicherheit.

In der angedeuteten Richtung, zwischen zwei schräg geparkten Autos, einige Meter hinter dem Polizeiwagen, steht ein vielleicht achtjähriger Junge, leicht gebückt, blass, erkennbar verschüchtert.

Der Zuruf seiner Schwester hat ihm Mut gemacht. Er richtet sich auf, winkt linkisch, läuft beinahe hüpfend los. An den Autos vorbei hin zu dem Beamten, der mich angesprochen hat.

Der Mann entspannt sich sichtlich.

„Mister Police Officer,“ sagt der Junge höflich und zugleich bestimmt.

„Sie machen einen großen Fehler. Der da ist einer der guten Kerle.“

Zum Betonung winkt er erneut in meine Richtung.

Der Beamte schaut kurz zu seinem Kollegen neben der Beifahrertür, dessen Pistole zwar noch in meine Richtung weist, aber wenigstens nicht mehr in Schusshaltung.

„Erkläre das, Junge. Du meinst, der da ist ein guter Mann. Wieso das?“

„Oh Mann, der Kidnapper ist der Böse!“

„Der Kidnapper? Also doch er da?“

„No way! Der nicht! Der Kidnapper ist schon weg. Abgehauen. Da ... die Treppe runter.“

Der Beamte dreht sich dem Jungen ganz zu und fragt geduldig weiter.

„Das heißt, der Kidnapper ist ein anderer?“

„Ja klar, das sage ich die ganze Zeit. Der Mann da hat Janey geholfen. Er hat sie gerettet, bestimmt.“

Jetzt erkenne ich die Stimme des Jungen. Er hatte vorhin gerufen, dass die Kleine weglaufen soll.

Der Beamte nickt kurz und ruft über mich hinweg:

„Okay, Brüder, alles ist cool! Danke, aber bleibt noch da!“

Ich schaue hinauf zum oberen Anfang der Florence-Treppe. Dort stehen zwei weitere Polizisten mit gezogenen Pistolen. Einer von beiden grüßt mit der Hand an der Dienstmütze und steckt seine Waffe weg.

„Hey, Herr Polizist,“ spricht Brian den Beamten vor mir wieder an, „der Kidnapper ist weg. Aber sein Auto steht noch da.“

Ich wage zwei langsame Schritte auf die beiden zu.

Der schmale, schlanke Junge – in Jeans und hellgrauem Sweatshirt – hat bemerkenswert schwarze Augen in einem offenen, ovalen Gesicht mit einer asiatischen oder mexikanischen Anmutung. Seine mit sorgfältigem Scheitel gezogenen schwarzen Haare schwingen seitlich ein wenig über die Stirn; ein gutaussehender, wohlerzogener, aufgeweckter Bursche.

„Ah ja, und welches Auto ist das?“

Brian dreht sich zur Seite und deutet auf einen älteren Ford Taurus.

„Da, der graue Schrotthaufen. Da hat er böse Mann drin gesessen. Wir haben da vorn gespielt. Wir malen gern mit Kreidestiften oben auf die Steinmauer. Der Kerl hat uns erst beobachtet. Seine Schrottkiste stand eine Zeitlang da.“

Der Junge zieht die Schultern hoch und errötet. Er schaut verlegen zu Boden. Schließlich überwindet er sich und erklärt mit leiser Stimme:

„Als er ausstieg und zu uns lief, wusste ich sofort, der Mann bedeutet Ärger. Wie der geguckt hat, vor allem auf Janey. Ich habe es leider zu spät kapiert.“

Als er zu dem Beamten aufschaut, glänzen Tränen in seinen Augen.

„Ich hätte besser auf Janey aufpassen müssen. Es tut mir leid.“

Ein prima Junge, denke ich.

Und der Beamte? Er nickt knapp, greift links über seine Brusttasche, nimmt seinen vergoldeten Polizei-Stern ab und reicht ihn dem Jungen.

„Das war sehr klug von dir. Du hast dich versteckt, scharf wie ein Adler beobachtet und mir bei der Arbeit geholfen. Schenken kann ich ihn dir nicht, Junge. Aber als kleine Anerkennung für deinen Mut darfst Du ihn halten und dir anschauen.“

„Oh, Mann, wirklich?! Ein echter Polizei-Stern?! Cool! Danke, Herr Polizist, vielen Dank.“

Der Junge greift erfreut zu.

Der Beamte gibt ihm einen Klaps auf die Schulter und tritt ein paar Schritte näher zu mir.

„Ich bin Officer Clayton. Sagen Sie mir Ihren Namen bitte.“

„Robert Berkamp.“

Zur Sicherheit buchstabiere ich meinen Nachnamen noch einmal langsam. Das Mädchen auf meinem Arm dreht sein Gesicht weg.

„Gut, Danke, Herr Berkamp. Die Sache ist die. Wir haben einen Anruf bekommen. Da oben, auf dem Balkon in dem Haus nebenan. Jemand hat beobachtet, wie die beiden Kinder erst hier gespielt haben und dann ein Mann das Mädchen schnappen wollte. Deshalb sind wir hier. Jetzt wollen wir natürlich wissen, wie Sie zu dem Kind kommen. Sie können sich ausweisen?“

Also schildere ich das unerwartete Zusammentreffen mit dem Mädchen und dem Mann bis zu seiner Flucht. Clayton hört aufmerksam zu, schaut kurz zur Treppe.

„Dann sind wir also gleich danach hier eingetroffen, richtig?“

„Stimmt. Man kann fast sagen, Sie haben die Kindesentführung verhindert.“

„Wir? Verstehe ich nicht. Sie hatten doch das Kind.“

„Richtig, als der Kampf zu Ende war. Der Kerl war kräftig und wirkte entschlossen ... ich habe Angst gekriegt, dass er ... wenn das länger gedauert hätte, ... ich weiß nicht, wie es ausgegangen wäre.“

„Gut, Herr Berkamp. Ich bin froh, dass die Sache dieses Ende genommen hat und soweit gut aussieht. Allerdings müssen Sie hier bleiben für eine förmlich Befragung mit Protokoll. Eigentlich sollten wir zunächst die Kinder befragen. Am besten unabhängig voneinander. Aber ohne deren Eltern ist das praktisch ausgeschlossen. Das könnte uns rechtlich in Teufels Küche bringen.“

Wie der redet betrachten die Beamten den Vorfall als schwerwiegend genug, um eine offizielle Meldung zu erstellen. Statt sich freundlich zu verabschieden und davonzufahren.

Officer Clayton dreht sich nach dem Jungen um.

„Mein junger Freund, komm mal her.“

Wir gehen zu dem schwarzweißen Polizeiwagen, wo der Junge, mit dem Dienst-Stern winkend, neugierig in das Innere schaut.

„Du, sag mir noch mal deinen Namen?“

„Ich heiße Brian.“

„Okay, Brian. Und wie weiter?“

„Wong. Ich heiße Brian Wong.“

Der Beamte nickt sehr langsam, als fühlte er eine Ahnung bestätigt.

„Und deine Schwester, wie heißt die?“

„Ich heiße Janey Wong,“ tönt die Kleine über meine Schulter hinweg. Dann richtet sie sich auf, dreht ihren Kopf zu dem Polizeibeamten und erklärt mit größter kleinkindlicher Selbstverständlichkeit:

„Ich heiße Janey Wong und wir wohnen da oben. Vielen Dank, Herr Polizist, dass Sie uns geholfen haben. Ich mag trotzdem keine Polizei. Bist Du mir jetzt böse?“

„Mann, Janey, Du spinnst, so etwas sagt man nicht,“ fährt Brian seine Schwester mit gutgemeintem Tadel an.

„Wieso?,“ gibt die wie bestellt zurück, „wenn es doch stimmt! Außerdem, Brian, Du sollst nicht dauernd an mir nörgeln. Ich warne dich, wenn ich groß bin, nörgele ich an dir zweimal soviel.“

Officer Clayton lacht erheitert.

*

Zum ersten Mal, seit es mir in die Beine gelaufen ist, nehme ich das Bündel Mädchen richtig wahr. Janey Wong. Sie steckt in einem goldgelben Ringelpulli und einer schwarzen Jeanshose. Sie ist schlank, zierlich und leicht auf meinem Arm, wirkt aber nicht zerbrechlich. Tiefschwarze, glänzende Mandelaugen und ein herzförmiges Gesicht ähnlich einem jungen Kätzchen deuten wie bei ihrem Bruder auf eine chinesisch-asiatische oder indianische Abstammung hin. Dazu passt das über der Stirn schräge Pony in einem Mopp aus kurzen, schwarzen Haaren, die sich in der Andeutung eines Scheitels seitwärts der Mitte teilen. Ein niedliches Mädchen mit wachen Augen. Mit seiner unbekümmert direkten Art fällt mir spontan das Wort „kleiner, goldiger Schatz“ ein. Jetzt schaut sie triumphierend auf ihren Bruder herab.

Der verdreht nur wissend die Augen und wendet sich wieder dem Streifenwagen zu.

„Hey, Janey, magst Du auch runter?,“ frage ich sie.

Sie schüttelt entschieden den Kopf.

„Ich mag zu meiner Mammi. Und lieber hier oben bleiben. Wir können doch zu ihr gehen. Herr Polizist, wollen Sie bitte mitkommen?“

„Mammi ist noch gar nicht da, Dummy,“ erklärt Brian von Fenster des Wagens her.

„Selbst Dummy,“ gibt seine Schwester prompt zurück. „Dann kommt sie eben gleich.“

Der Beamte auf der Beifahrerseite ist inzwischen eingestiegen und schreibt auf der Tastatur des stoßgeschützten Data-911-Laptop-Computers, der serienmäßig bei diesen Dienstfahrzeugen mit dem Funkgerät über der Mittelkonsole eingebaut ist.

Brian schaut interessiert zu.

„Junge, komm mit, lass uns sehen, ob eure Mutter zu Hause ist.“

Wir gehen auf die Florence-Treppe zu. Brian folgt einige Augenblicke später wieder hüpfend und laufend nach.

„Hier, bitte, ich möchte Ihren Stern zurückgeben, damit er heile bleibt. Und danke noch mal. Das war toll.“

Sogleich übernimmt der Junge die ortskundige Führung.

„Wir können leider nicht hier unten reingehen. Da geht es zum Arbeitszimmer meines Vaters. Ist heute abgeschlossen, weil er auf Reisen ist. Geschäftlich.“

Brian läuft einige Schritte voraus zum linken Ende der flachen Broadway-Quermauer und der Aussparung, durch die der Kidnapper die Steigung hinab geflohen ist.

Links wird die Aussparung von einer dicht mit üppigen grünen Hängepflanzen bewachsenen Grundstücksmauer begrenzt. Den Anfang der Grundstücksmauer bildet ein dicker, ebenfalls begrünter, viereckiger Steinpfosten mit einer weißen Abschlussplatte darauf. Der Pfosten trägt links eine schmale, mannshohe Tür aus schmiedeeisernem, schwarzem Gestänge mit einem kunstvoll geformten Wappen oben in der Mitte. In all dem Grün der großen Mauerflächen voller Hängepflanzen kann Tür leicht übersehen werden.

Officer Clayton geht zu der Tür, findet sie verschlossen, betrachtet den schmalen Gang hinter der eisernen Gittertür. Der Gang führt direkt an wuchtigen, ebenfalls grün bewachsenen meterhohen Fundamentmauern entlang zur Rückseite des mehrgeschossigen, links in den Bergfelsen hineingebauten Hauses.

„Sage ich doch, Herr Officer. Mein Vater ist verreist. Wir müssen die Treppe nehmen hoch zu unserem Vordereingang. Deswegen musste Janey vorhin da hinauf, als sie vor dem Mann weglaufen wollte.“

Die Chinesische Mauer

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