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Mein kleines Glück mitten in der Großstadt. Eine gute halbe Stunde sitze ich auf einem schrägen Stück Gras jenseits der flachen Vallejo-Mauer. Tief durchatmen, den Ort fühlen, die Seele baumeln lassen, sich ziellos umschauen. Ein paar Gedanken an meinen Beitrag zu unserem Workshop melden sich von allein.

Von der Wiese schlendere ich die kurze Stichstraße Florence entlang. Erst später erinnere ich mich an eine Kinderstimme. Unbewusst nehme ich sie von unterhalb heraufklingend wahr, während ich die schmale Steintreppe zum Oberen Broadway hinabsteige.

„Janey, schnell, lauf weg, nach oben zum Eingang!“

Die Treppenstufen sind steil; ich achte auf meine Schritte abwärts. Und bekomme die Bewegung mit. Über den Rand der steinernen Treppenbegrenzung hinweg rechts unter mir. Aufwärts, mir entgegen, ein vorgebeugter Kopf mit kurz geschnittenem schwarzem Bürstenhaar, ein Stück männlicher Oberkörper, mit dunkelrotem T-Shirt bekleidet. Ein Mann kommt die Treppe hinauf.

Der Mann hat es eilig.

Noch ehe er den Treppenabsatz erreicht, ist wie ein Schatten eine Bewegung vor mir. Etwas stößt gegen mein linkes Knie. Nicht schmerzhaft; trotzdem erschrecke ich. Ein hörbar schnell atmendes, längliches, schwarzgelbes Bündel. Für einen Sekundenbruchteil denke ich an einen Hund.

Es ist ein Kind.

Geduckt und eben noch verdeckt durch die steinerne Treppenbegrenzung muss es um die Ecke des scharf gewinkelten Treppenabsatzes gewetzt sein. Ein kleines Mädchen. Es zuckt zurück, stolpert, greift dabei nach meinen Beinen. Keucht: „Hilf mir!“

Ein kleines, gehetztes Stimmchen.

Das Ganze braucht kaum zwei Augenblicke.

Ich greife zu, um mich selbst vor dem Stolpern zu bewahren. Mit der rechten Hand in einer leichten Verbeugung nach dem eisernen Handlauf an der Mauer. Mit der Linken fange ich instinktiv das Mädchen, um es vor dem Zurückfallen auf den Treppenabsatz zu bewahren.

Das Kind rennt davon, durchzuckt es mich.

Es wird verfolgt.

Gleichzeitig kommt der schwarzhaarige Mann um den Mauerwinkel des Treppenabsatzes, dreht sich in meine Richtung, setzt zum Sprung die nächsten Stufen hinauf an. Er schaut hoch, sieht mich, hält überrascht für einen Sekundenbruchteil inne. Wahrscheinlich bringt mich sein entschlossener Blick dazu; ich greife auch mit der rechten Hand nach dem Kind, erwische es unter dem Po. Schwups. Das Mädchen hängt, beide Arme um meinen Hals gehakt, vor meiner Brust. Ehe ich es richtig begreife.

Der Mann ist sofort an uns, zwei oder drei Stufen unter mir. Er packt meine rechten Hand, erwischt mit der anderen ein strampelndes Bein des Kindes. Er ist höchstens dreißig Jahre alt, hat asiatische Gesichtszüge, eine sportliche Figur mit strammen Muskeln an den Oberarmen und unter dem T-Shirt. Er stößt einen keuchenden Laut aus. Ich spüre, wie mein Arm nachgibt und das Mädchen ein Stück abwärts rutscht.

Der Mann zieht ruckartig an uns beiden.

Er tut es kräftig.

Beinahe entgleitet mir das Kind. Aber es hält fest, klammert sich an mich. Intuitiv lehne ich mich zurück und trete zu. Nicht fest genug, aus Angst, selbst die Treppe hinabzufallen. Ich erwische den Mann irgendwo unten am Brustkorb. Sein Zug an meiner Hand lässt nach.

Das Mädchen heult auf:

„Aua, lass los, aua!“

Zum Glück.

Ihr Schrei löst einen Schub Entschlossenheit in mir aus.

Ich trete erneut zu. Der Kerl hat es geahnt, lässt das Mädchen los und schlägt mit der rechten Handkante auf meinen Oberschenkel. Ein spitzer, heftiger Schmerz durchfährt mich. Mein Bein fühlt sich einen Augenblick lang wie taub an. Ich kippe vorwärts, zwei Stufen hinab, dem Mann entgegen. Mit dem weinenden Kind vor mir sehe ich nur einen Teil seiner Gestalt. Im Fallen drehe ich mich seitwärts, suche Halt an dem eisernen Handlauf an der Mauer, greife ins Leere, spüre flüchtig einen unangenehmen Zug im Nacken. Das Kind klammert sich an mich, mit aller Kraft.

Von unserem Fall überrascht versucht der Mann auszuweichen. Doch die Begrenzungsmauer des Treppenabsatzes lässt ihm keinen Raum. Ich gebe mir zusätzlichen Schwung, falle von der vorletzten Stufe mit der linken Schulter voll gegen den Kerl, er stöhnt, verdreht kurz die Augen, ruckt sogleich seinen Brustkorb empor und greift erneut nach dem Mädchen. Unsere Blicke treffen sich; schwarze asiatische Augen, durchdringend, verächtlich; dicht vor mir. Mich packt pure Angst. Schrecksekunde. Womöglich ist der Mann kampfsportgeübt. Wenn der voll in Fahrt kommt, sind das Kind und ich geliefert.

Bleib dran an ihm, möglichst dicht!

Völlig wehrlos bin ich nicht, will es nicht sein. Ich spanne meinen Körper an, gedankenlose Vorwärtsbewegung. Der Mann zieht sein Knie hoch, stößt mäßig schmerzhaft gegen meinen linken Oberschenkel. Wir hängen zu nah aneinander. Er versucht einen Kopfstoß, trifft das Mädchen an der Schulter. Mit dessen Aufschrei übernimmt heiße Wut in mir das Kommando. Du Scheißkerl! Sie befeuert mich. Ich beuge mich ein wenig zurück, schwinge meinen linken Arm, der das Mädchen am Rücken fasst und an mich drückt, ruckartig nach außen. Mein Ellbogen trifft den Mann voll auf die Nase. Mir ist, als knirscht etwas unter meinem Unterarm. Sofort quillt ein Blutstrom aus seiner Nase, unerwartet stark. Ich richte mich auf, umfasse den Rücken des Mädchens wieder, weiche einen Schritt zurück, überrascht, dass ich beinahe außer Atem bin.

Der Schwarzhaarige hebt ruchartig seinen Kopf in den Nacken, betastet kurz seine deutlich verformte Nase, zieht eine Grimmasse des Schmerzes. Starrt mich an, blanker Hass in den Augen. Und greift in seine Hosentasche. Panik in mir. Wenn er ein Springmesser zieht ... Wie ferngesteuert, eher ungeschickt, trete ich ihm zwischen die Beine. Er hat den Tritt erwartet, schnappt meinen Schuh. Immerhin fühle ich seine Weichteile am Fuß. Der Mann verzieht das Gesicht – vor Schmerz oder in hämischer Wut grinsend –, ergreift meinen Schuh auch mit der anderen Hand. In Panik schlage ich ihm erneut den Ellbogen auf die Nase. Dieses Mal spritzt ihm Blut in die Augen, er stöhnt in sich hinein, wirkt orientierungslos, ich rucke mein Bein nach unten, bekomme meinen Fuß frei und torkele rückwärts.

Die Begrenzungsmauer der Treppe fängt mich seitlich hart auf.

Der Angreifer wischt sich über die Augen, seine Hand fährt wieder in die Hosentasche. Ich trete ihm gegen den Oberschenkel, schlage erneut nach seiner blutenden Nase. Doch er weicht aus, reißt seinen Arm hoch, zieht dabei an drei Fingern einen grobgewirkten gelben Lappen aus der Hosentasche. Während er die Hand zum Gesicht führt, spannt er seinen Oberkörper an, wirft sich gegen uns, duckt sich nach rechts, rennt in mehreren federnden Sprüngen die Treppe hinab und verschwindet links unterhalb der Treppenbegrenzungsmauer. Etwas Hellblaues rutscht beim ersten Sprung aus seiner Hosentasche – ich sehe es nur zufällig –, prallt von seinem Oberschenkel ab und bleibt ein paar Stufen tiefer liegen.

Ich schnaufe heftig, kann kaum aufrecht stehen. Und habe ein bebend weinendes, fremdes Kind im Arm. Das sich an meinem Hals festklammert. Zwischen seinem Schluchzen wird mir das grell jaulende und zwischendurch trötende Signal eines näher kommenden Polizeiwagens bewusst. Der Angreifer muss es früher als ich wahrgenommen haben. Wohl deshalb hat er die Flucht ergriffen.

Als das Signal erkennbar in die Sackgasse hineinklingt, gehe ich – mit unsicheren Schritten und einem ziehenden Schmerz im Oberschenkel – langsam den unteren Absatz der Florence-Treppe hinab zu dem freien Platz vor der niedrigen Broadway-Mauer.

Dem Polizeifahrzeug entgegen.

Da stehen wir jetzt.

Die Chinesische Mauer

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