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Mittwoch, 5. Oktober

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Ich lasse mir Zeit mit Aufstehen und Rasieren, genieße das Strecken und die Kraftübungen sowie das Tagträumen beim Duschen. Bis ich mein Müsli-, Obst- und Teefrühstück beende, denken andere Leute schon über das Mittagessen nach. Mit dem Beschluss, es ausfallen zu lassen, begebe mich aufs Klo.

Bekanntlich ist das ein zuverlässiges Mittel, das Telefon zum Klingeln zu bringen. Winny, eine charmante Chinesin am Hotelempfang, ist geduldig genug, es lange läuten zu lassen.

„Mister Robert, hier ist ein Besucher für Sie.“

Dann leiser: „Wie ist Ihr Name bitte? Pika ..., Paul ... Pikatzo. Mr. Pikatzo sagt, Sie wollen ein paar Freunde besuchen.“

Schöne Freunde, die der Herr Polizeikünstler meint. Obendrein stört er meine Sitzung. Eine Frechheit.

Paul ist mit einem graubraunen Ford Crown gekommen. Auch ohne Zusatzlampen und Aufschriften verraten der Autotyp und vier kleine schwarze Stabantennen hinten auf dem Fahrzeugdach: Polizei.

„Hey, Biercamp, an die Arbeit. Ich hoffe Du bist gut drauf.“

Paul parkt den Wagen unter einer breiten Hochautobahn auf dicken Betonpfeilern hinter dem grauem „Justice“-Betonblock. Von der Rückseite her, vorbei am Eingang zum „Medical Examiner“, auf Deutsch Rechtsmedizin, gelangen wir direkt zu den Fahrstühlen. Pauls elektronischer Türschlüssel erspart mir die Sicherheitskontrolle.

Auf dem Weg zu seiner Arbeitsbucht erklärt er:

„Die Software vermisst das Gesicht unseres Freundes von gestern; Stirnbreite, Abstand der Wangenknochen, Augenumfang, Mundwinkelstellung und, und, und. Und durchsucht die vorhandenen Dateien nach Gesichtern mit den gleichen Messwerten.“

Das ist mir zwar bekannt; doch ich gönne „Picasso“ seinen Stolz.

„Also kein stundenlanges Sitzen vor einem Fotoalbum.“

„Exakt. Nur bei stark deformierten Gesichtern liefert der Computer oft wirres Zeug. Die menschliche Wahrnehmung ist ein Wunderwerk an Genauigkeit. Nur im Fernsehen sind Computer unfehlbar.“

„Was ist mit dem Tattoo?“

„Dafür nutzen wir andere Datenbanken. Wenn es sein muss quer durch die USA. Die Jungs beim FBI haben die umfangreichsten Dateien. Wenn es sehr künstlerische Tätowierungen sind, fragen wir bei den einschlägigen Studios in der Stadt nach.“

Während er in seinen Erklärungen schwelgt, klickt „Picasso“ unseren Phantom-Chinesen auf das Bildfeld und gibt einen Startbefehl.

„Den Berechnungsvorgang kann man sichtbar machen, die Markierungspunkte und die Verbindungslinien. Im Fernsehen macht sich das gut. Das schenken wir uns. Was hältst Du von Frau Wong?“

Fragt er ganz direkt. Erst durchfährt mich ein Schreck.

Weiß er, dass ich gestern Abend dort war? Dann ergänzt er:

„Du hast sie doch bestimmt getroffen, nachdem der Angreifer das Weite gesucht hatte? Sie ist schließlich die Mutter des Mädchens.“

Ich atme erleichtert auf.

„Ja, sie kam kurz danach. Die Frau sieht gut aus, sehr attraktiv, wirkt selbstbewusst und klug. Wie sie mit den Kindern umgeht, gefällt mir.“

„Und die Sache selbst, der Angriff? Hat der sie schockiert?“

„Paul, ich bitte dich?! Gibt es eine Vorschrift, wie eine Mutter mit einer solchen Erfahrung umgehen muss? Auf mich wirkte die Frau gefasst, besorgt, aber nicht hysterisch, wenn Du das meinst?“

„Vielleicht zu gefasst, nicht wirklich überrascht?“

„Frag mich etwas Leichteres.“

„Ist dir nie der Gedanke gekommen, sie selbst könnte dahinter stecken, Biercamp?“

Was stellt der denn für Fragen?

Vorsicht, Robert! Bisher habe ich angenommen, „Picasso“ ist überwiegend kriminaltechnisch an dem Fall beteiligt. Möglicherweise hat er mehr mit den Ermittlungen zu tun.

„Wer weiß? Dem Gefühl nach halte ich es für ausgeschlossen.“

„Dem Gefühl nach? Bisschen dünn, findest Du nicht?“

„Komm schon, Paul? Soll sie überdreht herumtanzen? Um Betroffenheit vorzuspielen? Die Frau wirkte ehrlich besorgt, aber beherrscht.“

„Hat sie von ihrem Gangster-Vater. Oder sie ist ein eiskaltes Miststück, geschäftlich knallhart und vielleicht nicht ganz sauber?“

Beide, „Picasso“ und Nancy haben einen chinesischen Familienhintergrund. Beachtlich, wie der Mann über sie spricht. Noch dazu als an den Ermittlungen beteiligter Beamter. Eiskaltes Miststück?! Nancy, die mir neckisch in die Boxershorts späht, im Schlafzimmer Familienbilder zeigt, freimütig über ihren Vater und die tote Mutter spricht.

Als Verhaltenscoach habe ich gelernt, freundlich dreinzuschauen, selbst wenn mein Gegenüber flegelhaft daherredet.

„Ist sie das, eiskalt und knallhart?“

„Ehrlich gesagt, ich kenne die Frau nicht. Aber man macht sich seine Gedanken. Und natürlich wird hier getratscht. Sagen wir so; für viele Leute bringen wir mehr Mitgefühl auf, wenn ihnen etwas zustößt. Diesen Fall gehen wir etwas ruhiger an.“

Huh! Was halte ich denn davon?!

„Ich dachte, vor dem Gesetz sind alle gleich. Und Menschen mit chinesischen Familienwurzeln sind ein wenig gleicher in dieser Stadt?“

Paul verzieht den Mund abfällig.

„Biercamp, mein Großvater stammt aus Chengdu in Westchina. Also komm mir nicht so. Genau andersrum wird ein Fahrrad daraus. Hat Michael dir gesagt, wer der alte Wong ist? Ich schätze, Nancy Wongs allseits geachteter Pappi hat längst zum Telefon gegriffen und seinen Bürgermeister angepisst. Damit der dem Polizeichef Beine macht. So läuft das hier. Und das mögen wir nicht besonders gern.“

„Geht das so einfach?“

„Mann, auch bei Chinesen geht es zu wie unter Menschen. Ohne den alten Wong säße der Herr nicht auf seinem Stuhl im Rathaus. Beide wissen das und verhalten sich entsprechend.“

Während Pauls Grundkurs in politischer Beziehung erscheint auf dem Computerrahmen ein graues Feld mit der Mitteilung: Keine Entsprechung gefunden.

„Pech gehabt. Zu dem Tattoo haben die Kollegen auch nichts Brauchbares reingeholt.“

„Und was nun, Paul?“

„Sei so nett und fahr mit dem Taxis zurück. Wir haben noch andere Dateien. Da steige ich demnächst ein; später oder morgen. Ich melde mich wieder. Mach ’s gut.“

Seinen Computern zugewandt winkt er über die Schulter good-bye.

Ein wenig vor den Kopf gestoßen fühle ich mich schon.

Für dieses magere Ergebnis schleppt „Picasso“ mich hierher?! Ist das der übliche Gang der Dinge? Mit kleinen Darbietungen den Eindruck emsiger Ermittlungsarbeit erwecken?

Oder wollte er etwas ganz anderes? Mir klar machen, was es mit der Familie Wong auf sich hat? Mich unverfänglich vor ihr warnen?

Im Fahrstuhl abwärts kommt mir ein überraschender Gedanke. Vielleicht wollte Paul mir einen Gefallen tun? Mit einem unverblümten Hinweis auf die wahren Treibkräfte in diesem Haus. Dass im „Auge des Tornados“ nicht Ruhe sondern – bei bestimmten Fällen – rasender Stillstand herrscht. Pauls Bemerkungen könnten auch als Warnung vor falschen Erwartungen an ein schnelles Ermittlungsergebnis verstanden werden. Vielleicht ist der Mann heimlich auf Nancys Seite?!

*

Vor der „Hall of Justice“ ist es zwar sonnig, aber windig und kühl. Das Treffen eben hat wenig zu meiner Erheiterung beigetragen. Also ist Bewegung angesagt. Beim Laufen denkt es sich leichter; eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich zu erfolgreichem Multi-Tasking fähig bin. Außerdem brauche ich Stoff gegen meine Frustgefühle.

Wie geht die Polizei mit einem Fall um, der zunächst klein erscheint, aber unvermutete Sprengkraft entfaltet?

Berkamp, Du denkst falsch!,“ ruft meine Intuition dazwischen.

Es gibt nicht „die“ Polizei. Polizei sind Personal- und Finanzpläne in der Stadtverwaltung, Gebäude, über die Stadt verteilt, Geräte, Autos und Menschen. Mach dir gefälligst die Mühe, zu unterscheiden.

Danke, meine liebe Klugscheißerin!

Dennoch; der Vergleich ist verblüffend: Clayton und Anderson an der Florence-Treppe haben sich entschlossen und zugleich umsichtig verhalten, mir, den Kindern und der Mutter gegenüber. Korrekt, ohne Ansehen der Person.

Ganz anders Contreras.

Der lässt sich erst mal dafür feiern, dass er Detective ist.

Selbst wenn er sachkundig und erfahren ist; in seinen Aussagen über das Geschehen und mögliche Hintergründe schwingt Voreingenommenheit mit. Gleich als Auftakt ein weitschweifiger Vortrag über Organisierte Kriminalität? Als ob er andere Gründe hinter dem Kidnapping-Versuch ausschließt.

Zum Beispiel eine unglückliche Verwechselung?! Oder eine üble Dummheit, hinter der ein großer Blödkopf steckt; etwa ein heimlich verschuldeter Ehemann des treuen Hausmädchens Carmen?

Vielleicht ist Contreras nicht bewusst, wie er daherredet.

Mit Zwischentönen, gerade in Bezug auf Nancy Wong.

Gut, es war keine gewöhnliche Straftat. Natürlich ist es unschön, dass sie geschah. Nur: Wen sie triff, ist nicht gleichgültig. Wir von der Polizei machen da feine Unterschiede. Auch Paul „Picasso“ denkt so. Den Wongs ist irgendwie recht geschehen. „Es“ hat die Richtigen getroffen.

Zumindest sind sie mitschuldig an der Sache auf der Treppe. Das haben sie nun davon. Reichtum schützt nicht vor Neid und Missgeschick, zumal wenn er vermutlich aus ungesetzlichen Quellen entspringt. Nebenbei, wer lässt heutzutage seine Kinder unbeaufsichtigt vor dem Haus spielen, sichere Wohngegend hin oder her. Es gibt doch Computerspiele.

Möglicherweise hat der alte Herr Wong berechtigte Zweifel am Aufklärungswillen der Beamten. Falls ihm sein Enkelkind am Herzen liegt. Politische Einflussnahme? Für den Mann dürfte das Teil seiner gewohnten Denk- und Arbeitsweise sein. Wenn er tatsächlich im Hintergrund Druck macht? Den Ermittlungseifer der zuständigen Beamten wird das kaum beflügeln. Ziemlich unschöne Vorstellung.

Der Mann lädt mich zu sich nach Hause ein?!

Was ist mir dir, Berkamp?! Hältst Du dich für unvoreingenommen? Stimmt, niemand ist unvoreingenommen.

Mit seinem Gerede über Organisierte Kriminalität wollte Contreras mich nicht nur auf meine Bedeutung als Zeuge hinweisen. Er wollte meine Gefühle aufstacheln, für Anstand und Recht und ... gegen? Wogegen eigentlich? Gegen eine kriminologische Beschreibung, einen rechtlichen Begriff mit der Abkürzung O.K..

Aber?! Ja, aber!

Dumm nur, dass mir die Abkürzung O.K. nicht über den Weg läuft.

Sondern wirkliche Menschen.

Ich bekenne mich schuldig, Detective. Was Familie Wong angeht, bin ich voreingenommen. Von Anfang an. Dafür hat die kleine Janey gesorgt, in dem Augenblick, als sie mir gegen die Beine stolperte.

Und das eiskalte Miststück? Gestern Nacht hat Nancy einen festen Platz in meinem Herzen erobert.

Bin ich jetzt im Bunde mit dem Verbrechen?

Und Contreras macht mir noch etwas klar. Zeugen sind nicht nur wertvoll. Sie sind auch gefährlich. Für die Gegenseite. Für einen Kidnapper und seinen Auftraggeber.

Der Herr Detective will mir Angst machen.

Wenn ich länger darüber nachdenke, könnte ihm das gelingen.

Die Chinesische Mauer

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