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Der Anfang vom Ende

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Sie wird nicht zur Beerdigung ihrer Großmutter gehen.

Romy Schneiders Flugticket von Paris nach Wien ist erst für ein paar Tage nach dem Ereignis gebucht, damit sie allein am Grab Abschied nehmen kann. Ihre Anwesenheit beim Festakt, das weiß sie, würde zu viele Paparazzi anlocken, die sich weniger für ihre Anteilnahme als für ihr nahezu öffentliches Privatleben interessieren und damit Romy und nicht Rosa zum Zentrum des Anlasses machen: „Ich will nicht im Mittelpunkt dieser Trauerfeier stehen, die durch mein Erscheinen ihre eigentliche Bedeutung verlieren würde. Das hätte Großmama nun wirklich nicht verdient.“1 Erst ein Jahr zuvor war das Begräbnis ihres Exmannes nach dessen Selbstmord ein willkommener Anlass dafür, Jagd auf Fotos der trauernden Romy zu machen. Die Augen hinter großen Sonnenbrillen nur notdürftig verborgen, sich an einer Zigarette und ihrem Handgepäck festhaltend, navigiert sie sich wie per Autopilot gesteuert durch ein auf sie eröffnetes Blitzlichtgewitter. Mit ihren verweinten Augen lässt sich mittlerweile gutes Geld verdienen – und der Höhepunkt dieser Konjunktur, ihr Horrorjahr 1981, steht noch bevor. Beruflich befindet sich Romy Schneider in jener Zeit zwischen zwei Filmarbeiten und kurz vor einem körperlichen Zusammenbruch, ausgelöst durch zu viel Arbeit und eine ungesunde Kombination aus Alkohol und Medikamenten.

Beerdigungen machen ihr Angst, wie das bei den meisten Menschen der Fall ist. Beerdigungen zwingen dazu, Bilanz zu ziehen. Man sieht sich ungewollt mit der Endlichkeit des eigenen Lebens konfrontiert und muss lernen, damit umzugehen, dass man einen anderen Menschen nie wieder sehen wird. Das Ereignis bedingt ein Familientreffen, so freiwillig oder erzwungen wie bei anderen großen, unvermeidlichen Anlässen. Die Verwandtschaft demonstriert Geschlossenheit, Verbundenheit. Die geweinten Tränen sind zumeist echt, die gesprochenen Worte salbungsvoll, würdigend und pathetisch. Die Hinterbliebenen können heimlich Rechenspiele veranstalten, wer von ihnen der oder die Nächste sein könnte, je nach statistischer Wahrscheinlichkeit oder Gutdünken.

Begräbnisse bringen auch mit sich, dass sich eine Familie wieder mit sich selbst beschäftigt, sich Fragen stellt, wer der oder die Verstorbene war, wer man selbst ist. Es ist also ein guter Zeitpunkt, sich einer bestimmten Familie zu nähern. Besonders schmerzhaft sind solche Abschiede bei Menschen, die in jungen Jahren aus dem Leben gerissen werden – und die Leserschaft wird im Laufe dieser Geschichte an einige, allzu früh ausgehobene Gräber geführt werden. In diesem Falle, wir schreiben Mittwoch, den 3. September 1980, kann man in den zahlreichen Nachrufen auf die Verstorbene jedoch vom stolzen Alter von 105 Jahren lesen. Ort der Handlung ist die Ehrengrab-Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs, die, an der von der Kirche zum heiligen Karl Borromäus abgehenden Hauptallee angesiedelt, eher einem Freilichtmuseum denn einer Nekropole gleicht. Der größte Friedhof Österreichs scheint zu wissen, was er der Fremdenverkehrswirtschaft schuldig ist. Zahlreiche Touristinnen und Touristen besichtigen die dort aufgestellten steinernen Visitenkarten für die Ewigkeit, fotografieren die Ruhestätten gefeierter Musiker wie Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Johann Strauß, Hugo Wolf, Arnold Schönberg, aber auch von bekannten Schauspielern wie Hans Moser, Theo Lingen, Werner Krauss, Albin Skoda, dem Regisseur Georg Wilhelm Pabst. Die heute zu Grabe Getragene ist demnach prominent, viele der deswegen Anwesenden tragen ebenfalls bekannte Namen.


Im Vordergrund Trude Marlen, Magda Schneider und Wolfdieter Albach bei Rosas Begräbnis auf dem Wiener Zentralfriedhof. 3. 9. 1980. Die Grande Dame einer Schauspieldynastie ist nicht mehr.

„Tempus fugit – Die Zeit flieht“, das könnten aufmerksame Betrachter anstelle von Ziffern als Buchstabenfolge an der Uhr der berühmten Jugendstilkirche im Hintergrund der Begräbnisszene ablesen, und doch scheint sich Romy Schneiders Großmutter, wegen der man sich heute hier eingefunden hat, dieser Tatsache lange erfolgreich widersetzt zu haben. „Meine Großmutter hat noch mit 80 Theater gespielt. Ich möchte nicht so wie sie arbeiten und auch nicht 105 Jahre alt werden“2, wünscht sich Romy zwei Jahre später in ihrem letzten Interview, das bereits postum erscheint. Die verstorbene Greisin hieß Rosa Albach-Retty, war Burgschauspielerin, bis 1918 sogar k. u. k. Hofschauspielerin. Ihr biblisches Alter brachte es mit sich, dass sie nicht nur Kolleginnen und Kollegen, sondern schon manchem Familienmitglied ins Grab hinterher blicken musste. „Mit der habe ich noch gespielt“, das wird ebenso im Laufe der Jahre zu einer Phrase ihrer Erzählungen wie die erstaunte Feststellung, sie überlebt zu haben. „Am Ende ihres Lebens“, erzählt ihre Urenkelin Patrizia Albach über Rosa, „hat sie immer wieder zu meinem Vater, der Arzt ist, gemeint, 105 Jahre seien genug. Sie sei allein, alle ihre Bekannten und Freunde tot, ob er ihr nicht etwas geben könne, damit es schneller geht […] Das hat ihn einerseits belastet, andererseits konnte er sie mit seinem Humor wieder umstimmen.“3 Rosas Argumente zu entkräften ist freilich unmöglich. Ihr Mann starb 1952, ihr einziger Sohn, Wolf Albach-Retty, Romys geliebter Vater, 1967. Nur sie selbst ging aufrecht, diszipliniert und fast unverwundbar anmutend durch die sich unbarmherzig wandelnde und letztlich doch entfliehende Zeit. Ihre Villa in Wien hat sie schon vor Längerem aufgegeben, sie lebt seit Jahren in einem Künstlerheim in Baden. Die nur wenige Kilometer entfernte Bundeshauptstadt scheint ihr seither so fern wie New York.

Ihre Eltern sind schon lange tot, haben nur die Anfänge der außergewöhnlichen Dynastie erlebt, die sie mitbegründet haben. Dennoch ist der nun Verblichenen ihre Mutter vor fast sechs Jahren erschienen: an ihrem 100. Geburtstag am 26. Dezember 1974. Eine Szene, die sich in ihrer Kindheit abgespielt hat, kommt ihr an diesem Tag plötzlich in den Sinn. Gegen die ihr aufgezwungene Zucht und Ordnung rebellierend, fläzte sie sich als Dreizehnjährige neben ihren Vater mit übergeschlagenen Beinen zuhause in einen Sessel. Das war zu jener Zeit eine für ein wohlerzogenes Mädchen verbotene Haltung, denn eine Dame saß mit geradem Rücken an der Stuhlkante, winkelte ihre Beine schräg zur Seite ab, wobei Knie und Knöchel stets schicklich beieinander blieben. Die dazukommende Mutter herrscht ihr Kind daher an, sich nicht so „unanständig“ zu benehmen – die Jugendliche befolgt pikiert die Anordnung. Aus unbegreiflichen Gründen steht der Hundertjährigen die lang zurückliegende, fast vergessene Begebenheit an diesem düsteren Wintertag wieder vor Augen. Vielleicht weil sie den Anblick ihrer früh verstorbenen Mutter auf deren Totenbett im Jahr 1898 für immer als eine sie traurig stimmende Erinnerung in sich trägt, mit ihm alles verloren schien, was an ihrer Kindheit schön, heiter und unbeschwert war. An diesem runden Geburtstag kann sie die Mutter nun wieder deutlich wahrnehmen, spüren, riechen, hören, bittet sie deshalb laut um Verzeihung, streckt eine Hand nach der ihren aus. Jetzt, fast neunzig Jahre später, löst sich alles in Versöhnung auf, nimmt die Mutter die Entschuldigung an, lächelt ihr verständnisvoll und alles Ungemach der Vergangenheit aufhebend aus der Ewigkeit zu. Die Tochter fühlt eine vertraute Hand zärtlich über ihr Haar streichen, so wie damals, in Berlin, im Jahr 1887 …

Romy spielt sich frei

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