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5 Ist Christentum weder Religion noch Mystik?

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Während Moses und Mohammed unbezweifelbar Religionsstifter waren und sich daher Juden und Muslime zu Recht auf ihre Propheten berufen, verhält es sich bei Jesus anders. Der Glaube der Christen ist auch nach Ansicht der kirchlichen Institution keine Religion. Frühestens im 2. Jahrhundert wurde aus der Gemeinschaft der Glaubenden an Jesus Christus eine Religionsgemeinschaft. Weil Christen aus der jüdischen Religion ausgeschlossen und viele heidnische religiöse Praktiken als unmenschlich angesehen wurden, bildete sich langsam eine eigene Religionsgemeinschaft heraus, die in Konkurrenz zu anderen Religionen trat. Jesus selbst, der die „falsche“ jüdische Religion praktizierte, hat nie zu einem Religionswechsel aufgerufen. Als um das Jahr 50 erstmals der Begriff des Christen auftauchte, übten Heiden und Juden, die ihr Leben nach Jesus Christus ausrichteten, ihre eigene Religion aus. Allerdings erzielten sie beim sog. Apostelkonzil einen Minimalkonsens, um friedlich miteinander leben zu können, nämlich: kein Götzenopferfleisch, keine Tempelprostitution und Enthaltung von Ersticktem und Blut (Apostelgeschichte 11,26). Wenn diese Spielregeln eingehalten werden, von denen bald nur noch der Verzicht auf Tempelprostitution blieb, können Heiden- und Judenchristen ihrer jeweiligen Religion angehören. Kein Religionswechsel ist notwendig, um Christ zu werden. Wohl aber wird dadurch jede Religion ihres Absolutheitsanspruches beraubt, relativiert, d.h. bezogen auf das jesuanische Geschehen. Religiöse Vorstellungen und kulturelle Eigenarten können beibehalten werden. Noch um 200 n. Chr. lesen wir im Diognetbrief, dass sich Christen nicht durch eine eigene Religion von anderen Menschen unterscheiden, normal im gesellschaftlichen Kontext leben, jedoch die Leibesfrucht nicht abtreiben.17 Die Achtung vor dem Leben ist das Merkmal der Christen. Daher verweigerten sie auch den Kriegsdienst. Im 3. Jahrhundert argumentiert Origenes, dass kein jüdischer oder heidnischer Priester Soldat wird. Christen sind alle Priester – der Unterschied zwischen Priester und Laien existierte bei den Christen nicht – und darum verweigern sie den Dienst an der Waffe, da ein Christ nicht tötet. So ist für jeden Christen die Todesstrafe absolut verpönt.

Im historischen Rückblick können wir erkennen, dass Christsein nicht heißt, einer bestimmten Religionsgemeinschaft anzugehören, aber für das menschliche Leben einzutreten und es nicht einem Götzen zu opfern, indem man sich einer Gottheit unterwirft oder sich für diese prostituiert. Noch im 4. Jahrhundert spricht Chrysostomus von einer „Christenheit“, die sich in der Friedfertigkeit und Nächstenliebe erweist und nicht durch ein Religionssystem. Da Jesus Christus keine neue Religion gegründet hat, ist es offenkundig, dass sich Religionsgemeinschaften nicht auf ihn berufen können. Damit ist nicht gesagt, dass sich nicht auch Kirchen und Gemeinschaften bilden konnten. Solange sie der Vermenschlichung des Einzelnen und der Gesellschaft dienen, sind sie nicht gegen die Intention Jesu Christi. S.Kierkegaard meinte jedoch im 19. Jahrhundert, dass alle Kirchen „Christentum mit Preisnachlass“ seien, sich in die bürgerliche Gesellschaft eingenistet hätten und Machtinteressen folgten, anstatt „Existenzmitteilung“ zu sein, d.h. den konkreten Menschen ernst zu nehmen. E. Cardenal, der suspendierte Befreiungstheologe, sieht im Christentum ebenfalls keine Religion. „Das Christentum ist in Wirklichkeit keine Religion. Wenn wir es Religion nennen wollten, dann müssten wir es die Religion der Menschenliebe nennen.“18

Nicht zufällig wurden die Christen ursprünglich von den Römern Atheisten (A-theoi) genannt, weil sie Gott nicht zur Begründung eines Religionssystems heranzogen. Der Philosoph S. Žižek sagt: Christentum ist „Überwindung der Religion schlechthin und damit des großen Anderen“.19 Das heißt nicht, dass uns Jesus Christus statt auf den Weg der Religion auf den Weg der Mystik geschickt hat. Weder lehrte er, dass eine Religion heil macht, noch eine Meditation und Innerlichkeit erlösend wirken. Nie empfiehlt er, in den eigenen Seelengrund einzukehren und dort Gotteserfahrung zu empfangen, sondern alles Wesentliche verwirklicht sich in zwischenmenschlicher Beziehung.

Die Frage jedoch bleibt: Warum hat Jesus keine Religion und keinen Ashram (Meditationsgemeinschaft) gegründet? Weil er in allen Systemen die Gefahr der Verkürzung des Menschseins sah. Denn jedes System konstituiert sich durch Abgrenzung und Ausschluss. Die ausgeschiedene Existenz wird annulliert. Aus dem Verhalten und den Worten Jesu können wir erkennen, dass er sich gerade um den ausgeschlossenen Rest in der Gesellschaft kümmert. Sein Anliegen ist es, dass die Armen, die die Kosten für den Wohlstand der Reichen zahlen, im Mittelpunkt stehen. So sagt Papst Franziskus in der Enzyklika Evangelii gaudium: „Die Armen sind die ersten Adressaten des Evangeliums“ (Nr. 48). Daher ist „für die Kirche die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie“ (Nr. 198). Von der Botschaft Jesu her sind „die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben“ (Nr. 202). Die Sünder, die Deklassierten, die Prostituierten und alle, die glauben, dass sie ihr Leben verpfuscht haben, sind die Bevorzugten, die Gesuchten und die in Liebe Angenommenen. Auch für den Feind gilt dies. Auf diese „allumfassende Liebe“ (Sun Yat-sen) lässt sich kein System aufbauen. Ausschlussverfahren werden durch Jesu Botschaft grundsätzlich verwerflich. Die Sonne geht über Gute und Böse auf. Jeder soll eine Chance haben. Alle religiösen und mystischen Systeme sind der Liebe unterzuordnen. Nie hat die Freiheit einem System zu dienen.

Es wäre jedoch falsch anzunehmen, Jesu Botschaft richte sich grundsätzlich gegen jede Religion, Mystik und staatliche Gesetze. Genau diese Haltung wäre wieder ein System, auf das Menschen verpflichtet werden. Selbst einen grundsätzlichen Gewaltverzicht lehnt Jesus ab, auch wenn er stets vor Gewalt warnt. Jesus tritt „gewaltig“ für die Wehrlosen in der Gesellschaft ein und treibt die religiösen Ausbeuter aus dem Tempel hinaus. Niemand gibt Gott die Ehre, wenn er Menschen zu religiösen oder staatlichen Zwecken ausnutzt. Jesus lehrt im Hinblick auf alle Systeme einen absoluten Relativismus, weil alle Gesetze und Normen nur gelten, wenn sie dem konkreten Menschen dienen. Die Weisheit Spartas ist falsch: Wanderer, kommst du nach Sparta, so verkünde, du habest uns hier liegen gesehen, wie uns das Gesetz es befahl. Gesetze können tödlich und tötend sein. Daher gibt es für Jesus kein absolutes Gesetz und keine absolute Norm. Sie alle sind relativ, d.h. auf die Würde des Menschen bezogen. Genau das ist die „Diktatur des Relativismus“, die Benedikt XVI. anprangert. Der konkrete Mensch in seiner Einmaligkeit und Würde ist das „Diktat“, das die jesuanische Verkündigung ausspricht und damit jede Diktatur, auch jede religiöse, wie die katholische Kirche, zunichte macht.

Paulus meint, dass uns Christus zur Freiheit befreit hat (Galater 5,1). Niemand darf Opfer eines Systems werden. Der Inhalt der guten Botschaft sind Freiheit und Liebe, die auch den Feind einschließt. Das ganze Gesetz hat nur Sinn, wenn es zur Nächstenliebe beiträgt. Dort, wo Jesu Botschaft zu einem System wird, wie in den Kirchen und Religionsgemeinschaften, verführt sie. Das hat ungeheures Unglück über die Menschheit gebracht. Insofern Jesus gerade die Verknechtung durch ein System aufheben wollte, war er kein Verführer, sondern ein Befreier der Menschen. Gott ist nicht zu finden in einem religiösen Herrscher über uns, noch in einer Innerlichkeit in uns, sondern nur in freier, liebender Hinwendung zum Nächsten. In ihr erschließt sich das, was wir Gotteserfahrung nennen dürfen. Dazu ist eine Grundhaltung nötig, die wir Vertrauen oder auch Glauben nennen.

Ohne Vertrauen ist keine menschliche Beziehung möglich und verdirbt unser Leben. Ein Christ, der sich an der Lebensform Jesu Christi orientiert, erkennt, dass weder Religion noch Meditation Nachfolge Christi bedeutet, sondern Nächsten- und Feindesliebe. Jeder, der will, kann sich der Religion und Meditation bedienen, wenn sie ihm helfen, ein freies, selbstbestimmtes und solidarisches Leben zu führen. Ist die befreiende Liebe das Stichwort für die Würde des Menschen und sein Verhaltensmuster, dann bewährt sich der christliche Mythos der Menschwerdung Gottes; im Menschen können wir Gottes Wirklichkeit begegnen. Wenn die jesuanische Botschaft als Licht bezeichnet wird, das jeden Menschen erleuchtet, damit er seine Würde und Freiheit erkennt, dann kann dieses Licht in dunkler Zeit verschiedene Farben annehmen. Religionen kann man mit dem Regenbogen vergleichen. Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus, Konfuzianismus usw. als Religionen sind unterschiedliche Einfärbungen. Keine Farbe sollte fehlen und doch bilden sie alle den einen Regenbogen, der seine Leuchtkraft durch die Brechung des einen Sonnenlichtes erhält. Die Vielfalt der Kulturen und Religionen ist ein Segen für die Menschheit. Sie wird aber zum Fluch, wenn ein System behauptet, das Licht selbst zu sein. Kein Mensch verwirklicht alle Möglichkeiten, die in ihm sind. Keine religiöse Gemeinschaft kann absoluter Maßstab des Menschseins sein. Sie ist und bleibt stets eine Zugabe und kann hilfreich sein, wenn sie zur Verwirklichung des Menschseins beiträgt, aber auch zerstörerisch, wenn sie Menschen in Ketten legt.

Glaube ohne Denkverbote

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