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1 Gibt es eine Offenbarung Gottes?

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Religionen bezeichnen mit „Offenbarung“ eine verbindliche Rede Gottes, die über Heil und Unheil des Menschen entscheidet. In monistischen Religionen (z.B. Buddhismus) besitzt Offenbarung keinen großen Stellenwert. Die Einkehr in sich selbst führt zum „Erwachen“, zum Heil. Naturreligionen sehen im Naturgeschehen selbst eine göttliche Dimension. In den sog. prophetischen Religionen, die dualistisch denken (Judentum, Christentum, Islam), ist die Offenbarung eines transzendenten Gottes der Angelpunkt. Gott offenbart sich in einem Volk (jüdischer Auserwählungsgedanke) oder in einer Person (Jesus Christus, der selbst als göttlich verstanden wird) oder in einem Propheten (Mohammed). Jede dieser Religionen behauptet ein anderes Zentrum der „Offenbarung“ Gottes. Die Juden beteuern, dass die Thora bzw. die hebräische Bibel (AT) Gottes Offenbarung sei; die Christen meinen, mit dem Neuen Testament (NT) sei Gottes Offenbarung abgeschlossen; die Muslime glauben, dass die Offenbarungsgeschichte ihren Höhepunkt mit dem Koran erreicht habe.

So endet entweder vor Christus oder mit ihm oder nach ihm – mit Mohammed (7. Jahrhundert n. Chr.) – Gottes Rede an die Menschen. Von Anbeginn der Menschheit soll Gott also zu den Menschen gesprochen haben, aber vor 1400 Jahren sei er verstummt. Ist das nicht äußerst merkwürdig? Jahrtausende redet Gott, dann plötzlich schweigt er! Freilich ist es ein beredtes Schweigen, denn die Thoragelehrten, der Papst und andere christliche Führungspersönlichkeiten oder die islamischen Rechtsgelehrten sprechen immer wieder, so sagen sie, im Auftrag und Namen Gottes. Ihre gesamte Autorität beziehen sie von der Offenbarung. Zwar sei Gottes Wort ewig wahr und unveränderlich, aber das Verständnis seines Wortes sei menschlich und interpretationsbedürftig. Damit das Verständnis nicht in Beliebigkeit abgleitet, ist eine Autorität von Gott gesetzt. Rabbiner, Bischöfe und Imame sprechen, so behaupten sie, im Auftrag Gottes und verkünden seine Offenbarung. Ungehorsam ihnen gegenüber ist somit eine Infragestellung des Gotteswortes. Daher schreiben sie vor, was Gläubige zu denken und zu tun haben. Viele mögen dies im „guten Glauben“ tun, andere jedoch, um ihre Machtbesessenheit ausspielen zu können. Aber jede Offenbarung, die als nicht hinterfragbare Autorität auftritt, beschädigt zutiefst den Menschen in seiner Freiheit als denkendes Wesen. Durch das Gehorsamsprinzip, mit dem die Offenbarung steht oder fällt, wird der Mensch im Innersten ausgehöhlt und der Vernunft Einhalt geboten. Ein Gott überrumpelt die Menschen und schlägt sie in die Fesseln des Gehorsams. Moses und Mohammed fordern Gehorsam, Jesus allerdings nie. Nachfolge meint im Inbild Jesu also, seinen eigenen Lebensentwurf zu wagen und sich nicht an eine Idee – und sei sie noch so göttlich – zu verkaufen. Die Autoritätshörigkeit, die die christlichen Kirchen fordern, lässt sich durch die Botschaft Jesu nicht rechtfertigen.

In der jesuanischen Tradition fällt auf, dass nur einmal vom Gehorsam des Gottesvolkes gesprochen wird und dieser Gehorsam den Tod Jesu bedeutet: „Ans Kreuz mit ihm!“ Dieser Ruf schallt durch die Jahrhunderte der sog. monotheistischen Religionen. Gehorsam jedoch, der nicht durch eigenes Denken im verantwortlichen Handeln eingelöst wird, verurteilt Menschen zum Infantilismus und schickt sie in ein religiöses Erziehungslager. Durch nichts lässt sich eine autoritäre Rede Gottes, eine Offenbarung aufweisen, geschweige denn beweisen. Sie ist immer eine Fiktion der Religionsstifter, die sie selbst oft glauben.

Auch hier ist Jesus eine Ausnahme. Er beruft sich auf keine Offenbarung, sondern er verweist auf den Sinn seiner Rede oder – wem das nicht genügt – auf seine Taten. Er evoziert die Vernunft und Güte bei seinen Hörern. Nichts also von Gottes Offenbarung, nichts vom Gehorsam! Wenn nun christliche Kirchen erklären, dass Jesus selbst die Offenbarung Gottes sei, dann wird wieder eine Autorität eingefordert und Jesu Botschaft gründlich missverstanden. Wenn Jesus als Offenbarer, wie im Johannesevangelium, auftritt, dann ist er wie einer, der einen Vorhang aufzieht, damit die Menschen einen klaren Blick bekommen. Es geht um keine Geheimlehre, um keine Einengung eigener Denk- und Handlungsvollzüge, sondern um eine Befreiungserfahrung, die Menschen im Umgang mit Jesus machten. Bei den Synoptikern freut sich das Volk, dass er den Schriftgelehrten und Pharisäern, also den Religionsbehörden, das „Maul“ stopft und es endlich in Freiheit aufatmen kann. Solche Reden und Taten geschehen für die Menschen und halten sie nicht klein. Geld, Macht und soziale Strukturen können immer wieder ein Mittel sein, Unterdrückung und Ausbeutung hervorzurufen. Und welche Religion hat nicht Menschen unterdrückt und ausgebeutet?

Jesus war kein Religionsstifter, er hat nie zu einer bestimmten Religion oder einem Religionswechsel aufgerufen. Er scheint von Religionen nicht viel gehalten zu haben, obwohl er sie nicht radikal ablehnte. Religionen haben nur eine relative Bedeutung. Sie sind nur sinnvoll, wenn sie zur Vermenschlichung beitragen. Regeln können das Zusammenleben erleichtern. Glaubensregeln haben, wie Verkehrsregeln, vorübergehende Bedeutung, um Unglück zu vermeiden. Sie sind aber für den Glauben nie konstitutiv, sondern lediglich Orientierungshilfen, die nützlich oder auch schädlich sein können. Das gilt selbstverständlich ebenso für die sog. Heiligen Schriften, in denen, so sagen die Kirchen, Gottes Offenbarungen endgültig festgelegt seien. Es ist eine leere Behauptung, dass etwa die Bibel oder der Koran Gottes Wort seien. Außer den heutigen Fundamentalisten (vor allem in amerikanischen Sekten und religiösen Erweckungsbewegungen) wagt kein christlicher Theologe mehr zu behaupten, die Bibel sei Gottes Wort. Vielmehr wird aufgrund des 2. Vatikanischen Konzils nur festgehalten, dass in der Bibel Gottes Wort gefunden werden könne.

Trotzdem behauptet das Lehramt der katholischen Kirche, dass die Dogmen Gottes Offenbarung wiedergeben und authentisch interpretieren. Diese Ansprüche sind grundlose Behauptungen. Alle Heiligen Schriften, seien es die Veden oder Upanischaden, Lun Yü oder Tao-Tê-King, der Pali-Kanon oder die Thora, die Bibel oder der Koran oder wie immer sie heißen mögen, sind zu vergleichen mit verschiedenen Seen, in die Schmutzwasser unterschiedlicher Herkunft eingeleitet wurde. Von ihnen trinken, um leben zu können, darf man nur, nachdem die Gewässer durch eine Kläranlage gereinigt wurden. Wer ungefiltert das Wasser trinkt, wird krank oder stirbt daran. Ob aus allen Seen die Giftstoffe entfernt werden können, ist nicht sicher, auch nicht, ob die dadurch verursachten Epidemien oder Pandemien vermieden werden. Sicher jedoch ist, dass der Name der Kläranlage Vernunft und Liebe ist bzw. Mitmenschlichkeit oder noch allgemeiner: Humanität. Nur reines Seewasser gibt Lebensmöglichkeiten. Ohne Liebe ist jedes Wort der Heiligen Schriften tötender Buchstabe. Das ändert sich auch nicht, wenn das 2. Vatikanische Konzil Gottes Offenbarung nicht mehr vorrangig als eine autoritäre Belehrung (Instruktion durch die Bibel) versteht, sondern als eine personale Selbsterschließung Gottes. Dadurch wächst nur der Druck auf die Gläubigen. Wer kann denn einem Gott, der sich in seiner Person liebevoll offenbart und erschließt, widersprechen? Nur selbstgefällige und böswillige Personen können das! In dieser dualistischen Konzeption: der Mensch hier – der unendliche Gott dort, die den prophetischen, monotheistischen Religionen zugrunde liegt, werden die sog. mystischen Religionen nicht als Offenbarungsreligionen bezeichnet. Wenn Gott in uns ist und er in der Meditation gegenwärtig wird, ist eine externe Offenbarung nicht zu erwarten. Der „Gott“ in uns gibt keine Gebote oder Verbote von außen. Im Schweigen, in der Versenkung in sich selbst, ist letzte Wirklichkeit zu erfahren. Offenbarung ist, in diesem Verständnis, die dem Menschen geschenkte Erleuchtung. Beide Wege, eine Annäherung an Gott, entweder durch Gottes Handeln selbst oder durch das Sich-Versenken, sind Projektionen des eigenen Selbst. Beide sind vom Subjekt hervorgerufene Selbstbegründungen und Selbstbestätigungen. Einmal durch Unterwerfung, ein andermal durch Einkehr in sich selbst. Sie führen nur zu Illusionen. Sie verkürzen das Menschsein. Im Falle der abrahamitischen Religionen lässt sich der Mensch objektivieren und wird, wie ein Kind, klein gehalten. Im Fall der Mystik wird der Mensch so subjektiviert, dass sich in seinem Wesen ein Gott als Urquell und Existenzgrund manifestiert.

Offenbarung ist jedoch völlig anders zu verstehen. Wir sprechen nicht zu Unrecht: Das oder jenes war für mich eine Offenbarung, und wir meinen damit, dass wir im Umgang mit Sachen und vor allem mit Menschen eine Erfahrung gemacht haben, die uns etwas zeigt, wodurch wir klüger, „erfahrener“ geworden sind. Es können Enttäuschungen des Lebens sein, aber auch beglückende Momente. In ihnen erschließt sich uns die Wahrheit eines Sachverhaltes. Eine solche Erschließungserfahrung nennen wir zu Recht „Offenbarung“. Sie ist weder eine persönliche Begegnung mit einem jenseitigen Gott noch eine Selbsterfahrung im Rückgang auf das eigene Innenleben. Erschließungserfahrungen können uns aufatmen lassen oder niederschmettern. Ein wahrer Sachverhalt kann für uns bereichernd sein, aber auch eine schöne Illusion zerstören. Wahrheit öffnet die Augen. Ein offenbarender Gott macht uns hingegen blind, denn blinder Gehorsam ist gefordert. Gott sieht dann alles, nichts ist ihm verborgen, er aber verbirgt sich oder zeigt sich, wie er will – als Zürnender oder Liebender. Offenbarung liefert uns letztlich einem Überwachungsgott aus, wenn er nicht in der Meditation als letzte Leere oder Fülle versinkt. Die Kontemplation ist ein Abwehrmechanismus gegen die obszöne Nacktheit des gläsernen Menschen. Der Basiliskenblick eines Gottes wird in der Meditation zum Blick meines Ichs auf mein Selbst. Die göttliche Fremdbestimmung wird unschädlich gemacht.

Der Maßstab der Offenbarung kann jedoch nur die Wahrheit sein, die ich im Leben erfahre, nicht die ich in mir entdecke oder die mir vom Jenseits her vermittelt wird. Zur Wahrheit muss aber noch die Liebe „hinzutreten“, damit von einer positiven Offenbarung gesprochen werden kann. Wahrheit ohne Mitgefühl ist hart und unmenschlich, Gefühl ohne Wahrheit verleitet zur Gefühlsduselei. Die Offenbarung ereignet sich nicht in der Leere oder durch ein Jenseits, sondern nur im Umgang der Menschen miteinander und mit der Natur. Sie ist der Horizont der Erfahrung. Die Bibel zeigt verschiedene Dimensionen auf, durch die uns neue Lebensperspektiven erschlossen werden. Im Umgang mit Jesus werden Menschen von der Gesetzeslast befreit, sie schöpfen Hoffnung für ihr Leben. Wo Menschen liebend miteinander umgehen, wird Lebenswahrheit offenbar. Offenbarung ist an den zwischenmenschlichen Umgang gebunden.

Die Bibel kann hier Hilfe leisten, nicht als autoritäre Vorgabe, sondern als eine Erzählung von Erfahrungen, die den Sinn des Lebens erschließen. Ein Beispiel sind die Emmaus-Jünger. Sie wurden durch den Tod Jesu in Verzweiflung gestürzt, all ihre Hoffnungen wurden begraben, aber sie akzeptierten einen Fremden und luden ihn zu sich nach Hause ein. Beim Teilen des Brotes, der Lebensgrundlage, geht ihnen der Sinn des Lebens auf, wird ihnen eine Erschließungserfahrung zuteil, Wahrheit und Liebe werden für sie offenbar. Ähnliches widerfährt Maria Magdalena, als sich ihr im Umgang mit dem Gärtner eine Dimension erschließt, die ihr bewusst macht, dass Jesus lebt. Umgekehrt geht Paulus bei Damaskus „ein Licht auf“ – er stürzt vom hohen Ross der Einbildung. Gott wird nicht geehrt, wenn man Menschen jagt und tötet, sondern wenn man ihnen in Liebe begegnet. So erkennt er die „Herrlichkeit Christi“ (Apostelgeschichte 22,11). Im liebenden Umgang mit dem Mitmenschen kann Gotteserfahrung möglich werden, d.h. Offenbarung. Sie ist Erschließungserfahrung des Guten, des Heilenden für Mensch und Völker. Heil geschieht, wo Wahrheit in Liebe erfahren wird.

Heilserfahrung ist Offenbarung. Dort, wo diese entscheidende, ja endgültige Bedeutung für Mensch und Menschheit erlangt wird, ist es möglich, von Gotteserfahrung zu sprechen oder davon, dass Gott sich zeigt, offenbar wird. Darin liegt zugleich das Kriterium: Offenbarung geschieht dort, wo Menschen heilende Kraft erfahren. Nicht irgendein Gott offenbart uns Inhalte oder seine „Person“, sondern in den Lebenserfahrungen können Wahrheit und Liebe erschlossen werden, die das Leben lebenswert machen und die in ihrer entscheidenden Bedeutung als sich offenbarende göttliche Dimension verstanden werden können. Damit ist unter dem Topos Offenbarung die Aufhebung der Entfremdung des Menschen gemeint. Für den Christen ist Jesus Christus die bestimmende Offenbarungsgestalt. Nicht weil er „vom Himmel herabgestiegen“ ist, sondern weil sein zwischenmenschliches Verhalten biblisch als Heilserfahrung gesehen wurde. Jesus Christus ist ein Maßstab für humanes Dasein, weil er für Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe eintrat. Seine Existenzform kann für den Christen Hilfe sein, in der Nachfolge (nicht Nachahmung!) Nächstenliebe zu verwirklichen. Die positive Erfahrung, die Jesus Christus vermittelt, ist im christlichen Sinne Offenbarung. Offenbarung ist daher ein Solidaritätsprinzip. Es hat ohne unseren Vollzug keinen Bestand, ist aber auch ein Geschenk, weil wir es nicht aus uns selbst produzieren können. Offenbarung ist der Weg auf das wahrhaft Menschliche hin. Wo Weg, Wahrheit und Leben erschlossen werden, wo Liebe gegenwärtig wird, ereignet sich Offenbarung. Wo sie eine entscheidende Bedeutung für die Menschen erlangt, kann von Gotteserfahrung gesprochen werden.

Weil in der christlichen Mythologie Gott Menschengestalt annimmt, also Mensch wird, gibt es keine jenseitige Offenbarung, sondern sie geschieht im zwischenmenschlichen Bereich. Wo die Liebe diesen bestimmt, wird Gottes Wirklichkeit offenbar. Für Christen ist der privilegierte Ort Jesus Christus als Mensch für andere. Offenbarung, vermittelt durch Jesus Christus, ist ein zwischenmenschliches Geschehen, in dem Wahrheit und Sinn des Lebens durch Liebe als Geschenk und Gestaltungsmöglichkeit meiner Existenz erschlossen werden. Jede Religion, jeder Glaube, jeder Gott, der als Autorität auftritt und Menschen zum Gehorsam seiner Botschaft nötigt, ist betrügerisch. Offenbarung als nicht hinterfragbarer Machtanspruch ist Betrug. Wer sich auf eine solche Offenbarung beruft, ist ein Betrüger, weil er den Sinn des Menschseins im Gehorsam gegenüber der göttlichen Autorität sieht. Ebenfalls ist es eine menschliche Projektion, wenn die Kontemplation als Weg zu Gott oder einer letzten Wirklichkeit gehalten wird. Im eigenen Ich oder Selbst Gott zu finden, ist eine Illusion.

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