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Einleitung
Heiko Haumann

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Im Januar 1923 blickte Vladimir I. Lenin, der bereits schwer erkrankte erste sowjetische Regierungschef, noch einmal auf die Oktoberrevolution von 1917 zurück. Dabei setzte er sich mit dem Vorwurf auseinander, die Bolschewiki seien zu überstürzt an den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung herangegangen. Russland sei noch nicht „reif“ für den Sozialismus gewesen, habe noch ein zu niedriges Kulturniveau, eine zu wenig entwickelte Zivilisation gehabt. Dem hielt er entgegen: „Wie aber, wenn die völlige Ausweglosigkeit der Lage, wodurch die Kräfte der Arbeiter und Bauern verzehnfacht wurden, uns die Möglichkeit eines anderen Übergangs eröffnete, um die grundlegenden Voraussetzungen der Zivilisation zu schaffen, als in allen übrigen westeuropäischen Staaten? […] Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist (obwohl niemand sagen kann, wie dieses bestimmte ‚Kulturniveau‘ aussieht, denn es ist in jedem westeuropäischen Staat verschieden), warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau zu erringen […].“ Revolutionen würden nicht nach dem Lehrbuch gemacht. Man habe nicht alle Einzelheiten der Entwicklung voraussehen können, aber, wie schon Napoleon geschrieben habe: „On s’engage et puis … on voit. In freier Übersetzung bedeutet das etwa: ‚Zuerst stürzt man sich ins Gefecht, das weitere wird sich finden.‘“1

Und auch die deutsche Kommunistin polnisch-jüdischer Herkunft, Rosa Luxemburg, die 1918 von den Bolschewiki eine stärker sozialistisch orientierte Politik und die Freiheit auch „des anders Denkenden“ eingefordert hatte, hob hervor, dass die russischen Kommunisten dem internationalen Proletariat vorangegangen seien und als bis jetzt einzige ausrufen könnten: „Ich hab’s gewagt!“2 Beide Zitate zeigen, welche [<<13] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe weit über Russland hinausreichende Bedeutung der Umsturz im Oktober 1917 hatte. Er war die Folge einer sich radikalisierenden Entwicklung gewesen, ihm hatte kein fest umrissenes Programm für den Aufbau des Sozialismus zur Verfügung gestanden, und es war nicht alles so gelaufen, wie die Kommunisten es sich erhofft und wofür sie so viel gewagt hatten. Bei Lenin spüren wir sogar ein wenig Resignation und das trotzige „Dennoch!“, den Sozialismus doch zu erreichen – eine Erwartung, die spätestens im Terror des Stalinismus versinken sollte.

Dass die Bolschewiki überhaupt in die Lage versetzt wurden, sich zu entscheiden, ob sie den Umsturz wagen sollten, ging auf den Verlauf des Jahres 1917 zurück. Am Anfang stand die Februarrevolution, mit der die Zarenherrschaft gestürzt und eine republikanisch-demokratische Gesellschaftsordnung errichtet wurde. Innerhalb weniger Monate gipfelten die Vorgänge in einer neuen Umwälzung: Zwei Revolutionen verschmolzen in einem Prozess. In diesem Buch sollen die Ursachen dieses revolutionären Prozesses ebenso dargelegt werden wie die wichtigsten Ereignisse des Jahres 1917, seine Folgen und Ergebnisse, die Hoffnungen und Enttäuschungen, die langfristigen Utopien und die Resonanz in der Welt.

Für viele Menschen in Russland bildete die Revolution zunächst einmal keinen besonderen Einschnitt – das Ernteergebnis oder die Hochzeit waren viel wichtiger. Zahlreiche Beamte und Fachleute arbeiteten in ihren Ämtern, Unternehmen und sonstigen Einrichtungen auch unter den neuen Vorgesetzten weiter, früher entworfene Projekte und Pläne wurden nach wie vor erörtert und teilweise verwirklicht. Die beschleunigte Industrialisierung, die durchgängige Kollektivierung und die Diktatur Iosif V. Stalins seit Ende der 1920er-Jahre verwandelten das Land tiefgreifender als die Revolution von 1917. Trotzdem bedeutete diese einen Bruch, für Russland wie für die Welt.

Die Autorinnen und Autoren dieses Buches haben sich zum Ziel gesetzt, die Kapitel gut lesbar und spannend zu schreiben. Obwohl der Umfang zum Verzicht auf zahlreiche Einzelheiten zwingt, sollen die Vorgänge so nachgezeichnet werden, dass sich die Leserinnen und Leser ein eigenes Urteil bilden können. Die Autorinnen und Autoren wollen deutlich machen, dass eine Vielfalt von Sichtweisen möglich ist, ja sich notwendigerweise aus der Vielfalt der damaligen Anschauungen und der Vielschichtigkeit der Strukturen ergibt. Wir kennen immer nur Fragmente des geschichtlichen Geschehens. Und wir wissen, dass sich nichts zwangsläufig vollzog, dass die Entwicklung offen war und auch ein anderes Ergebnis hätte haben können. Deshalb müssen wir Alternativen in die Untersuchung einbeziehen und danach fragen, warum sie keinen Erfolg hatten.

Um unsere Vorüberlegungen umzusetzen, halten wir den Ansatz für geeignet, aus dem Blickwinkel der Menschen, der historischen Akteurinnen und Akteure, die geschichtlichen Vorgänge zu betrachten, ihre Lebenswelten in den Mittelpunkt zu [<<14] stellen. In diesen bündeln sich individuell-persönliche und übergreifend-strukturelle Faktoren. Die Bedingungen des jeweiligen Handelns werden ebenso fassbar wie Sehnsüchte, Hoffnungen, Erinnerungen. Wahrnehmungen, Erfahrungen, Fühlen, Denken und Handeln werden nachvollziehbar und erhalten einen Bezug zu uns selbst, zu unserem Leben, ermöglichen uns deshalb eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir es mit der Erinnerung an die Geschichte – in diesem Fall an die Russische Revolution – halten und welche Schlüsse wir daraus ziehen.

Das russische Reich bzw. die Sowjetunion in den Grenzen von 1914 und 1923. Der Übersichtlichkeit halber fehlen Teile Sibiriens und die Gebiete des Fernen Ostens. [Bildnachweis]


Immer wieder versuchen die Autorinnen und Autoren, im Sinne dieses Ansatzes die Begebenheiten durch das Handeln einzelner Menschen zu verdeutlichen. Selbstverständlich hätten wir auch andere Akteure und Akteurinnen zu Wort kommen lassen können. Die Auswahl ist im Zusammenhang unserer Forschungen entstanden, in jedem Fall aber vor dem Hintergrund unserer Analysen der Verhältnisse zu verstehen. [<<15]

Unsere Darstellung setzt ein mit den Verhältnissen im Zarenreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und sie endet mit dem Übergang der Sowjetunion in den Stalinismus. Mit dem Beginn der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts und mit den damit verbundenen neuen Sozialbeziehungen, mit den Veränderungen auf dem Land, mit der Formierung revolutionärer Bewegungen und den Prägungen, die diese durch das Leben zahlreicher Persönlichkeiten im Exil erhielten, wurden besondere Voraussetzungen geschaffen, die zur Revolution von 1917 führten – auch wenn selbstverständlich noch weiter zurückliegende Faktoren nachwirkten. Das neue Machtsystem des Stalinismus bedeutete das Ende der Versuche, in der Sowjetunion die Ziele der Revolution von 1917 zu verwirklichen. Etwas völlig anderes war Realität geworden, als es sich die Menschen 1917 erhofft und die sozialistischen Revolutionäre erträumt hatten. Von nun an musste man von neuen Bedingungen ausgehen, um eine bessere, eine gerechte Gesellschaft anzustreben – auch wenn viele Menschen noch lange weiter hofften und die Ideen von 1917 bis heute lebendig sind.

Ein hoher Stellenwert kommt im Buch den Hoffnungen, Erwartungen und Utopien zu, die mit der Russischen Revolution verbunden waren. Sie gaben zahlreichen Menschen eine Zukunftsperspektive, brachten diese dazu, die Umwälzungen und die sich anschließende Politik zu unterstützen. Je tiefer dann die Kluft zwischen den Ansprüchen und den tatsächlichen Verhältnissen wurde, desto größer fiel die Enttäuschung aus, aber auch die Versuchung, die Macht mit Gewalt zu sichern, um unter besseren Umständen später einmal zu den ursprünglichen Zielen zurückzukehren. Sie wurden allmählich zu Versprechungen für eine ferne Zukunft, die die Menschen dazu anhalten sollten, sich doch noch mit allen Kräften für die neue Gesellschaft einzusetzen – bis dann sogar behauptet wurde, das Ziel, der Kommunismus, sei greifbar nahe, es brauche nur noch wenige Anstrengungen, um ihn zu erreichen.

Die Revolution und ihre Folgen haben unzählige Menschenleben gekostet, und sie haben Bewusstsein und Erinnerung der Menschen in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, ja weit darüber hinaus nachhaltig geprägt. Das kann im Einzelnen nicht Gegenstand dieses Buches sein. Umso wichtiger ist es, sich mit den Ursachen dieses Prozesses zu beschäftigen, die ursprünglichen Zielsetzungen, Hoffnungen, Zukunftsentwürfe und Utopien in ihren konkreten geschichtlichen Rahmenbedingungen wieder ins Gedächtnis zu rufen und zu fragen, wie wir heute damit umgehen. Dazu leistet dieses Buch einen Beitrag. [<<16]

1 W. I. Lenin: Über unsere Revolution. In: ders.: Werke. Bd. 33. Berlin 1962, 462–467, Zitate 464–465, 466.

2 Rosa Luxemburg: Die russische Revolution. In: dies.: Politische Schriften. 3 Bde. Hg. von Ossip K. Flechtheim. Bd. 3. Frankfurt a. M., Wien 1968, 106–141, Zitate 134, 141.

Die Russische Revolution 1917

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