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EINLEITUNG

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Von JOCHEM HENNIGFELD

Ein Band, der mit dem Titel ›Philosophen der Gegenwart‹ erscheint, setzt sich sogleich Missverständnissen und – damit verbunden – nicht erfüllbaren Ansprüchen aus: Die Auswahl von dreizehn Philosophen kann selbstverständlich nicht annähernd Vollständigkeit beanspruchen.1 Ebenso wenig wird suggeriert, es handle sich bei den Ausgewählten um diejenigen, die in der Philosophenzunft unstrittig die maßgeblichen Positionen einnehmen. Vielmehr soll der vorliegende Band eine repräsentative Auswahl bieten – repräsentativ für unterschiedliche Methoden und Themen, in denen sich das philosophische ‚Rechenschaftgeben‘ (lógon didónai) über die zentralen Probleme unserer Zeit niederschlägt. Wie bei den beiden Bänden2, an die sich die nun vorgelegte Publikation anschließt, wurde das Hauptgewicht auf deutschsprachige Autoren gelegt, ergänzt durch exemplarische Ansätze englisch- und französischsprachiger Philosophen. Es muss wohl nicht betont werden, dass dies nicht als Rangordnung zu verstehen ist.

Eine scharfe Trennlinie zwischen den ›Philosophen des 20. Jahrhunderts‹ und denen der Gegenwart zu ziehen, ist unmöglich – es sei denn, man würde etwa einen bestimmten Geburtszeitraum willkürlich als Kriterium festsetzen oder sich an den Todesdaten orientieren. Folglich kann es nur darum gehen, die im früheren Band vorgestellten Ansätze zu ergänzen3 und zu ‚verjüngen‘.

Der vorliegende Band soll in gegenwärtige Problemstellungen und Diskussionen der Philosophie einführen. Die Autoren stellen zentrale Themen der jeweiligen Philosophen dar und zeigen die Begründungszusammenhänge auf der Grundlage wichtiger Werke auf. Die Einleitung greift darauf zurück; sie versucht, anhand einiger Leitgedanken eine erste Orientierungshilfe zu geben und zur selbständigen Auseinandersetzung anzuregen.

1. Zeitkonstellationen

a) Politisches

„Was das Individuum betrifft, so ist […] ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit […].“4 Dieses oft zitierte Diktum Hegels verweist nicht nur auf den neuzeitlichen Individualitätsgedanken; sondern es wiederholt auch die alte Einsicht, dass der Mensch ebenso ursprünglich das vernunftbegabte (zóon lógon) wie das politische Lebewesen (zóon politikón) ist. Deshalb spiegeln sich in den Denkwegen der Philosophen politische Verhältnisse, auch wenn ein direktes politisches Engagement nicht dokumentiert ist. Das kann hier nur stichwortartig angezeigt werden.5

H.-G. Gadamer – politisch zurückhaltend – habilitierte sich 1929 und wurde 1939 ordentlicher Professor an der Universität Leipzig; die akademische Karriere hätte sich beschleunigen lassen, wenn er dem NS-Dozentenbund beigetreten wäre. Unter der sowjetischen Besatzungsmacht übte er, da nationalistisch nicht verstrickt, 1946 / 47 das Amt des Rektors aus. Der willkommene Ruf nach Frankfurt a. M. (1947) und dann nach Heidelberg (1949, als Nachfolger von K. Jaspers) ermöglichte es ihm, das eher stille Leben des Gelehrten zu führen. – K. R. Popper war als Jugendlicher für sehr kurze Zeit (1919) bekennender Kommunist. Die Brutalität, die er bei der Auseinandersetzung zwischen Polizei und Demonstranten in Wien erlebte, ließen ihn früh zum Antimarxisten werden – eine Haltung, die er später ausführlich theoretisch begründete.6 Aufgrund der unruhigen und bedrohlichen politischen Umstände wanderte er nach Neuseeland aus, wo er in Christchurch eine Dozentur für Philosophie wahrnahm. Nach dem Krieg (1946) folgte er einem Ruf an die London School of Economics.

Als Jude war H. Jonas direkt von den Gräueltaten der Nationalsozialisten betroffen. Seine Mutter wurde nach Auschwitz deportiert, was er erst im Nachhinein (1945) erfuhr. 1933 emigrierte Jonas, zunächst nach England, dann (1935) nach Palästina. Er war während des Krieges (1940 – 45) Mitglied der englischen und von 1948 – 49 der israelischen Armee. 1949 übersiedelte er nach Kanada, wo er in Montreal und Ottawa lehrte. 1955 übernahm er eine Professur an der New School für Social Research in New York, die er bis 1976 innehatte. – Auch für E. Levinas war die Schoah von wahrhaft existenzieller Bedeutung. Seine Eltern, die Geschwister und weitere Familienangehörige fielen in ihrer Heimat Litauen der Judenverfolgung zum Opfer. Levinas schloss sein Studium, das er 1923 in Straßburg begonnen hatte, mit einer preisgekrönten Dissertation (1930) ab. 1931 wurde er französischer Staatsbürger. Als französischer Offizier geriet er 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Unter unmenschlichen Bedingungen überlebte er in einem ‚Stammlager‘ in der Lüneburger Heide; Frau und Tochter konnten sich in einem Kloster bei Orléans verbergen. Ab 1946 arbeitete Levinas als Lehrer an der Ecole Normale Israélite Orientale. Erst sehr spät übernahm er eine akademische Lehrtätigkeit, zunächst in Poitiers (1961), dann (1962) als Professor in Paris-Nanterre, schließlich an der Sorbonne (1973 – 76).

Anders als Levinas, der eine direkte politische Wirksamkeit ablehnt, plädiert P. Ricœur für ein politisches Engagement. Dies zeigt sich etwa an seiner Sympathie für die Volksfront und die linke Gewerkschaftsbewegung, vor allem aber in hochschulpolitischen Auseinandersetzungen. Nach Professuren in Straßburg (ab 1948) und an der Sorbonne (1957) wechselte er 1966 an die reformoffene Universität Paris-Nanterre. Als Rektor (1969 / 70) trat er 1970 zurück, resigniert angesichts der Forderungen der revoltierenden Studenten einerseits und der staatlichen Eingriffe in die Freiheit der Universitäten andererseits. Ricœur übernahm eine Professur in Chicago, lehrte aber auch immer wieder in Paris.

Durch die nationalsozialistischen Rassengesetze als ‚Halbjude‘ eingestuft, erfuhr H. Blumenberg bereits als Schüler Ausgrenzung und Diskriminierung. Die früh erfahrenen Hindernisse in der Entfaltung eigener Lebensmöglichkeiten haben wohl ein Gefühl verlorener Zeit bewirkt. Blumenberg zog sich immer mehr vom gesellschaftlichen und akademischen Leben zurück; er wurde zum strikten Nachtarbeiter. – Auch J. Derrida erfuhr während seiner Schulzeit die Repressalien des Antisemitismus. 1942 musste er das Gymnasium in El-Biar (nahe Algier) verlassen, weil die Anzahl jüdischer Schüler sieben Prozent nicht überschreiten durfte. Während des Algerienkrieges erteilte er als Soldat Französisch- und Englischunterricht. Sein vielfältiges Engagement für verfolgte Intellektuelle hatte u. a. zur Folge, dass er 1980 in Prag verhaftet wurde.

Wenn auch nicht direkte Opfer des politischen Terrors, so bleibt doch für viele ‚Intellektuelle‘ die in der Jugend erfahrene Pervertierung von Moral und Recht ein treibendes (wenn auch nicht immer ausgesprochenes) Motiv ihres denkenden Rechenschaftgebens. So intendiert etwa K.-O. Apels Idee der Letztbegründung eine universelle Ethik, die moralische und politische Normen (‚Menschenrechte‘) in ihrer allgemeinen Verbindlichkeit aufweisen soll. Darin dokumentiert sich ein aufklärerisches Interesse. – Auch N. Luhmann fühlte sich der Aufklärung verpflichtet. Im Sinne von Kants Forderung, ‚von der Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen‘7, hat Luhmann oft zu aktuellen politischen Streitfragen Stellung bezogen. Das gilt ebenso – und vielleicht noch entschiedener – für seinen wissenschaftlichen Kontrahenten J. Habermas, der – um ein markantes Beispiel anzuführen – 1986 den ‚Historikerstreit‘ (über die geschichtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus) provozierte.

Es muss kaum betont werden, dass J. Rawls’ Programm der Gerechtigkeit keine Theorie im „luftleeren Raum“ ist; sie hat für den Theoretiker des Politischen praktische Konsequenzen. „Politische Philosophen sollen Friedensstifter im Kulturkampf sein, sie sollen als Schlichter tätig werden und Positionen formulieren, auf die sich die Parteien als Basis für weitere Kooperation einigen können.“8 – Ist die öffentliche Auseinandersetzung ein Kennzeichen der Intellektuellen, dann trifft dies in hohem Maße auf J. R. Searle zu; er gehört zu den „streitbarsten Philosophen unserer Zeit“.9 Nach seinem Wechsel von Oxford nach Berkeley engagierte er sich dort bei der in den sechziger Jahren aufkommenden Studentenbewegung; entsprechend beriet er die Nixon-Regierung Anfang der siebziger Jahre. – Sehr eng sind bei P. Singer akademische und gesellschaftlich-politische Aktivitäten verknüpft. Spätestens seit Probleme der ‚angewandten Ethik‘ (z. B. Umwelt-, Bioethik) zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden sind und in der Tagespresse auftauchen, steht Singer oft im Zentrum der (meist polemischen) Diskussionen. Das hat bis zu Redeverboten und Gewaltandrohungen geführt.

b) Wechselwirkungen

‚Kinder ihrer Zeit‘ sind die Philosophen auch insofern, als sie sich wechselseitig beeinflussen und miteinander streiten. Einige Beispiele seien genannt: Ende der sechziger Jahre kam es zu einer lebhaften Debatte zwischen Gadamer und Vertretern der ‚Ideologiekritik‘, vor allem Apel und Habermas. „Ansatzpunkt hierfür bot Gadamers Versuch, die Rehabilitierung des Vorurteilsbegriffs mit einer radikalen Aufklärungskritik zu verbinden, wohingegen die Ideologiekritik für sich in Anspruch nahm, das Erbe der Aufklärung zu vertreten.“10 In die lebhafte Diskussion über Gadamers Hermeneutik und deren Universalitätsanspruch haben sich z. B. auch Ricœur und Derrida eingeschaltet. – Zeitweise erregte der ‚Positivismusstreit‘ – zwischen Popper und Albert auf der einen, Adorno und Habermas auf der anderen Seite – große Aufmerksamkeit.11 Dem Vorwurf eines sich selbst verkennenden Positivismus an die Adresse des kritischen Rationalismus stand der Verdacht eines Irrationalismus der Frankfurter Schule gegenüber.

Jonas ist – was sich durch die Biographie und die früheren Forschungsschwerpunkte (Gnosis, Naturwissenschaften) erklären lässt – verhältnismäßig spät wahrgenommen worden. Das änderte sich fast schlagartig mit dem Erscheinen von ›Das Prinzip Verantwortung‹. Dieser ‚Versuch einer Ethik‘ forderte die Auseinandersetzung mit anderen moralphilosophischen Konzepten geradezu heraus.12

Ricœur hat sich intensiv und immer wieder mit den geistigen Zeitströmungen des 20. Jahrhunderts (u. a. Psychoanalyse, Strukturalismus) auseinander gesetzt, um seine eigenständige Position zu entwickeln. So greift er z. B. Überlegungen von Levinas und Derrida auf.13 Auch zu Rawls’ ›Theorie der Gerechtigkeit‹ ließen sich mühelos Bezüge herstellen.14 Bemerkenswert ist vor allem Folgendes: Zwei grundlegende Werke der Hermeneutik des vorigen Jahrhunderts erschienen im selben Jahr (1960), Gadamers ›Wahrheit und Methode‹ und Ricœurs ›Finitude et culpabilité‹. Umso erstaunlicher ist es, dass es zwischen beiden Hauptvertretern der Hermeneutik nicht zu einem ‚hermeneutischen Gespräch‘ kam, zumal sie sich auch begegneten.15 – Die Rehabilitierung der Metapher bei Ricœur (›La métaphore vive‹, 1975) und Blumenberg (›Paradigmen zu einer Metaphorologie‹, 1971; ›Paradigma einer Daseinsmetapher‹, 1979) ließe vermuten, dass es eine Wechselwirkung zwischen beiden Ansätzen gegeben habe. Hierfür gibt es jedoch kaum Anhaltspunkte.

Apel – zusammen mit Habermas Begründer der ‚Diskursethik‘ und Befürworter einer Konsenstheorie der Wahrheit – ist ein äußerst engagierter Teilnehmer im philosophischen Streitgespräch der Gegenwart. Schon ein flüchtiger Blick auf die Namenregister seiner Werke belegt dies auf eindrucksvolle Weise. Er setzt sich ebenso mit Popper, Luhmann oder Searle auseinander – wie (später) mit Rorty, Derrida oder Lyotard. In diesem Diskurs fehlt natürlich – bei aller Nähe – auch nicht die Auseinandersetzung mit der Hermeneutik.

Luhmanns Hauptkontrahent auf dem Feld soziologischer Theoriebildung ist sicherlich Habermas. Diese Auseinandersetzung findet ihren ersten Niederschlag in dem von ihnen gemeinsam herausgegebenen Band ›Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie‹ (1971). Die Publikation war Anlass zu einer – nicht nur im akademischen Umfeld zur Kenntnis genommenen – permanenten Kontroverse zwischen ‚Systemtheorie‘ (Luhmann) und einer ‚kritischen Theorie‘, die zu einer ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ erweitert wurde (Habermas). Dabei lässt sich durchaus ein gemeinsamer Ausgangspunkt für beide Ansätze markieren: Für die Aufklärung gesellschaftlicher Zusammenhänge ist der Kommunikationsbegriff von grundlegender Bedeutung. An diesem Begriff jedoch entzündet sich der Streit. „Wo […] Habermas sich an kommunikativer Verständigung orientiert, setzt Luhmann auf den systemrelativen Begriff der kommunikativen Autopoiesis.“16

Für Derridas eigene Position ist die Auseinandersetzung mit Levinas von großer Bedeutung. Das wird greifbar an der Erfahrung „einer irreduziblen Vorzeitigkeit des Anderen, wie sie insbesondere für den ‚späteren‘ Derrida im Anschluss an […] Levinas bedeutsam geworden ist“.17 Auch für Derrida ist dies eine grundlegende ethische Erfahrung. Allerdings: „Die ethische Erfahrung wird [nach Derrida] fundiert durch eine Andersheit, die nicht – wie bei Levinas – exklusiv dem menschlichen Anderen vorbehalten ist.“18 In den achtziger Jahren kam es zu einem Treffen und zu einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Derrida und Gadamer, ohne dass man sich wirklich verständigen konnte. Das mag insofern überraschend sein, als – worauf J. Grondin hingewiesen hat – „die Begriffe der Hermeneutik und der Destruktion, auf die Gadamer und Derrida abhoben, bei Heidegger beinahe Synonyma waren“.19

c) Husserl, Heidegger und Wittgenstein

Zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts, die Wege für den philosophischen Diskurs der Gegenwart vorbereitet haben, zählen zweifellos Husserl, Heidegger und Wittgenstein. Für Popper freilich sind damit Hauptgegner benannt. Bei aller Abgrenzung gegen die Vertreter des Wiener Kreises teilte er wohl doch deren kritisch-resignative Auffassung, dass Philosophie nur noch als Wissenschaftstheorie im Sinne einer ‚Logik der Forschung‘ sinnvoll betrieben werden könne. Der Deutsche Idealismus war für ihn ein Abweg, dem auch „Husserls Essentialismus“ und der ‚moderne Existentialismus‘ gefolgt sind.20 Bei einer Begegnung mit Wittgenstein am Anfang von Poppers Londoner Tätigkeit soll es fast zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung gekommen sein.21

Der Einfluss Heideggers auf seinen Schüler Gadamer liegt offen zutage; Gadamer selbst hat immer wieder darauf hingewiesen.22 – Jonas hat 1921 in Freiburg bei Husserl und Heidegger studiert; 1924 folgt er Heidegger nach Marburg. Seine frühe Auseinandersetzung mit der spätantiken Gnosis steht im Horizont von Heideggers Daseinsanalyse. Auch in der späteren Verknüpfung von Ethik und Ontologie mag man noch heideggersches Erbe erkennen. – Levinas gehörte ebenfalls zu den Schülern von Husserl und Heidegger (1927 – 28 in Freiburg). 1930 promovierte er mit einer Arbeit über Husserl und übersetzte 1931 (mit G. Pfeiffer) die ›Cartesianischen Meditationen‹ ins Französische. Damit hatte er entscheidenden Einfluss auf die Rezeption der Phänomenologie in Frankreich. Die Entwicklung seines eigenen Standpunktes vollzieht sich in permanenter Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger. Das lässt sich an einigen seiner Buchtitel bereits ablesen, z. B. ›En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger‹ (1949). – Zwar erhält Ricœur seine ersten philosophischen Impulse durch G. Marcel und K. Jaspers; aber schon früh studiert er gründlich die Schriften Husserls. 1950 erscheint die Übersetzung (mit Einleitung und Kommentar) der ›Ideen I‹. Offenkundig ist auch die Auseinandersetzung mit Heidegger.23

Blumenberg hat sich 1950 mit einer Arbeit über Husserl habilitiert (›Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls‹). Auch in späteren Werken (z. B. ›Lebenszeit und Weltzeit‹) bleibt die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie wichtig.– Für Apels Entwicklung der Transzendentalpragmatik sind Husserl, vor allem aber Heidegger und Wittgenstein von großer Bedeutung. Apel kommt das Verdienst zu, der Rezeption Wittgensteins in Deutschland einen starken Impuls gegeben und die unüberbrückbare Kluft zwischen Heidegger und Wittgenstein als Vorurteil der Schulen entlarvt zu haben.

Deutliche Spuren der Phänomenologie sind selbst in der Systemtheorie Luhmanns auszumachen. Vor allem der Begriff des Sinns im Zusammenhang einer Weltkonstitution und die Betonung des Verweisungszusammenhangs für eine Phänomenologie der Wahrnehmung markieren deutliche Berührungspunkte. – Obwohl als Student durchaus mit Heideggers Philosophie vertraut und ihr auch verbunden, hat sich Habermas bereits Anfang der fünfziger Jahre klar von Heidegger distanziert. Habermas kritisierte zu Recht, dass sich Heidegger nach dem Krieg nicht deutlich von nationalsozialistischen Äußerungen distanzierte. Heideggers Seinsgeschichte vernachlässigt für Habermas sträflich das moralische Bewusstsein. Selbst der hochgeschätzte Gadamer muss sich von Habermas sagen lassen, dass er „die großartigen Einsichten“ von ›Wahrheit und Methode‹ „durch Nachgiebigkeit gegenüber der seinsgeschichtlichen Suggestion wieder gefährdete“.24

Derrida kann man ebenfalls in den Kontext der französischen Phänomenologie einordnen. Er übersetzt Husserls ›Vom Ursprung der Geometrie‹ (1962), und seine ersten Bücher nehmen Husserl als Ausgangspunkt: ›La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl‹ und ›De la Grammatologie‹ (beide 1967). Allerdings: „Sein Denken setzt dort an, wo die Phänomenologie sich in ihren Angeln bewegt und wo sie aus den Angeln zu heben ist.“25 Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt für Derridas ‚Dekonstruktivismus‘ ist Heidegger. Grundlegende Begriffe (z. B. ontologische Differenz, Ereignis) werden in diesem Zusammenhang jedoch eigenwillig uminterpretiert.26

Für den englischen Sprachbereich war (und ist) Wittgenstein und die sich auf ihn berufende (sprach-)analytische Philosophie von maßgebender Bedeutung. Der anfängliche Streit darüber, ob die Analyse sich an einer formallogischen Idealsprache oder an unsrer Alltagssprache (Ordinary Language) zu orientieren habe, spielt heute kaum mehr eine Rolle. – Searles Sprachtheorie steht noch ganz im Dienst einer Analyse und Systematisierung unseres normalen Sprachgebrauchs. Für die später konzipierte Theorie des Geistes erweist sich der Horizont einer analytischen Philosophie jedoch als zu eng. – Ethik ist für die analytische Philosophie vor allem Metaethik, d.h. Analyse unseres moralischen Urteilens, ohne damit einen normativen Anspruch zu erheben. Dass diese kritische Grenzziehung überschritten werden muss, um die Prinzipien des rechtlichen und moralischen Handelns rational zu rechtfertigen, wird durch die Überlegungen Rawls’ und Singers aufgewiesen.

2. Auseinandersetzungen mit der (metaphysischen) Tradition

Seit ihrem Beginn – das lässt sich spätestens bei Platon und Aristoteles belegen – ist die Philosophie auch immer Auseinandersetzung mit der Tradition, mit überlieferten Meinungen und Theorien. Denn die Tradition „ist nicht ein unbewegtes Steinbild, sondern lebendig und schwillt als ein mächtiger Strom, der sich vergrößert, je weiter er von seinen Ursprüngen aus vorgedrungen ist“.27 Was ‚lebendiger‘ Umgang mit der Tradition heißt, lässt sich an den vorgestellten Philosophen der Gegenwart aufzeigen.

Dass und in welcher Weise die Hermeneutik eine lebendige Aneignung der Tradition realisiert, hat Gadamer in seinem Werk (und in zahllosen Gesprächen) imponierend aufgewiesen. Der Bogen seiner Interpretationen spannt sich von den Vorsokratikern bis zum Deutschen Idealismus und darüber hinaus. Kritikern, die darin eine Schwäche des eigenen Philosophierens zu sehen glaubten, hat er entgegengehalten: „Sicher ist es aber eine noch größere Schwäche des philosophischen Gedankens, wenn einer sich einer solchen Erprobung seiner selbst nicht stellt und vorzieht, den Narren auf eigene Faust zu spielen.“28 Von besonderer Bedeutung für Gadamers eigenen Verstehungsprozess ist die lebenslange Auseinandersetzung mit den platonischen Dialogen.

Für Popper hingegen ist Platon ein ‚Feind der offenen Gesellschaft‘, da dessen Entwurf des idealen Staats die von Sokrates gelebte Gedankenfreiheit des Einzelnen verraten habe. In der Neuzeit finden sich nach Popper solche Ansätze zum Totalitarismus bei Hegel und Marx. Popper selbst hat sich als Erbe der Aufklärungsphilosophie Kants gesehen. Kant habe eine zweifache kopernikanische Revolution vollzogen.29 Als Kronzeugen für sein Konzept des kritischen Rationalismus beruft sich Popper u.a. auf Sokrates, Xenophanes, Thales, Nikolaus von Kues und Erasmus von Rotterdam.30

Bereits die frühen Arbeiten von Jonas, die der spätantiken Gnosis und Augustinus gewidmet sind, versuchen, tradiertes Gedankengut für das Verstehen der Gegenwart fruchtbar zu machen. Die späteren Entwürfe einer philosophischen Biologie – ausgehend von Problemstellungen der modernen Physik (Quantenmechanik) – stehen in der Tradition romantischer Naturphilosophie. Und auch der ‚Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation‘ setzt sich durchgehend mit der betreffenden Ideengeschichte auseinander – sei es im Blick auf frühere Ethikentwürfe (z. B. Aristoteles, Kant), sei es im Blick auf die Analyse des Nihilismus (z. B. Nietzsche, Camus). – Ist für Jonas die Auseinandersetzung mit der Gnosis von prägendem Einfluss, so für Levinas die Herkunft aus der jüdischen Tradition und ihr spannungsreiches Verhältnis zur abendländischen Philosophie. Von besonderer Bedeutung für Levinas’ eigenen Weg war allerdings der in Deutschland wenig beachtete Franz Rosenzweig (1886 – 1929).

Die für die Philosophie charakteristische Einheit von historischer und systematischer Forschung wird auch bei Ricœur offenkundig. Er ordnet sich selbst in die Tradition der neuzeitlichen Reflexionsphilosophie ein. In diesem Kontext spielt auch Kant eine zentrale Rolle. Das prinzipielle Problem einer Bewusstseinsphilosophie wird jedoch in der Auseinandersetzung mit Marx, Nietzsche und Freud erörtert (›De l’Interpretation‹, 1965). Aber Ricœurs hermeneutische Phänomenologie greift auch auf die großen Entwürfe der antiken und spätantiken Metaphysik zurück. Sei es die platonische Wiedererinnerung (anámnesis), sei es Aristoteles’ Begriff der Nachahmung (mímesis) oder Augustinus’ Zeitanalyse im elften Buch der ›Confessiones‹ – dies und vieles andere wird in den umfänglichen Streit der Interpretationen einbezogen.

Blumenbergs Arbeiten sind ebenso philosophiegeschichtlich wie geschichtsphilosophisch angelegt und umspannen den großen Bogen von der Antike bis zur Gegenwart. Die ›Legitimität der Neuzeit‹ (1969) thematisiert – um nur Weniges zu nennen – den gnostischen Dualismus und den aristotelischen Glücksbegriff, die philosophische Theologie bei Augustinus und Nikolaus von Kues, die Grundlegung des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses durch Bacon und Descartes. ›Die Arbeit am Mythos‹ (1979) greift u. a. Schellings Philosophie der Mythologie auf, kritisiert freilich zugleich dessen (späte) These von der geschichtlichen Vergangenheit des Mythos. Eine absolute Metapher für das Eigentümliche menschlichen Daseins findet Blumenberg in Platons Höhlengleichnis (›Höhlenausgänge‹, 1989).

Rawls’ Gerechtigkeitstheorie stellt sich bewusst in die Tradition neuzeitlicher Vertragstheorien, angefangen von Hobbes, über Locke und Rousseau, bis hin zu Kant. Den bei Rawls feststellbaren Wandel „vom politischen Philosophen zum Konsensherstellungstechniker“ kann man sogar als Rückwende „von Kant zu Hobbes“31 verstehen. Sofern Rawls’ politische Philosophie einen moralisch-praktischen Anspruch erhebt, setzt sie sich auch mit ‚klassischen‘ ethischen Positionen auf originelle Weise auseinander.32

Apel hat – besonders bei seinen sprachphilosophischen Studien – in vielfältiger Weise die Tradition mit einbezogen und sich von ihr anregen lassen. Die für ihn entscheidende ‚Transformation‘ vollzieht er im Anschluss an Kants Transzendentalphilosophie. Den Vorwurf, dass Kant die Sprachgebundenheit der menschlichen Vernunft übersehe, teilt Apel u. a. mit W. v. Humboldt, den er ebenso rezipiert wie die Humboldt-Adaption L. Weisgerbers. Den entscheidenden Anstoß aber erfährt Apel durch Peirce.

Seinem Selbstverständnis als Soziologe gemäß blickt Luhmann weniger auf die philosophischen ‚Klassiker‘. Seine systematische Theorie des Sozialen kann sich auf E. Durkheim, den Gründervater der Soziologie, berufen. Anknüpfungspunkte sind ebenso bei A. Smith und H. Spencer zu finden. Die grundlegende philosophische Vorarbeit für Luhmann – wie für seinen Lehrer T. Parsons – liefert E. Cassirers ›Substanzbegriff und Funktionsbegriff‹.33 – Anders als Luhmann entwickelt Habermas seine Theorie in ständiger Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition. Das belegt bereits die breit angelegte Dissertation über Schelling. Kant, Hegel und Marx stehen im Zentrum der vielfältigen Auseinandersetzungen. Aber auch Aristoteles und Hobbes, Comte und Mach, Nietzsche und Freud u.v. a. m. werden in die ‚kritische Theorie‘ einbezogen. Hinzu kommen die sozialphilosophischen Entwürfe von E. Durkheim, G. H. Mead und M. Weber.

Für Derrida besteht eine wesentliche Aufgabe der gegenwärtigen Philosophie in der permanenten Dekonstruktion klassischer Texte, mit dem Ziel, den Logo- bzw. Phonozentrismus (Vorrang des gesprochenen vor dem geschriebenen Wort) der abendländischen Metaphysik zu überwinden. Das führt er u.a. an Platon, Rousseau, Hegel, Marx und Nietzsche vor – durchaus eigenwillig und oft befremdlich.

Eine intensive Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition lässt sich bei Searle und Singer nicht ausmachen. Aber Spuren kann man feststellen. In Searles ›Intentionalität‹ z. B. werden Locke, Leibniz und Kant zumindest gestreift; und Singers ethisches Konzept führt den von J. Bentham begründeten Utilitarismus in seine äußersten Konsequenzen.

Angesichts der angeführten Beispiele wird man die gängige Formel vom ‚Ende der Metaphysik‘ und die Charakterisierung unserer Zeit als ‚postmetaphysisch‘ differenzierter beurteilen müssen. Zwar ist der Traum von einer Vollendung des Wissens im absoluten System ausgeträumt; aber die alten Themen bleiben erhalten und fordern in der Auseinandersetzung mit der Tradition neue Lösungsmöglichkeiten heraus. Auch die Metaphysik im Sinne einer Ontotheologie ist nicht grundsätzlich obsolet geworden. Das zeigt sich in aller Deutlichkeit bei Jonas.34 – Entschiedener noch als Jonas bekennt sich Levinas zur Metaphysik. Gegen die abendländische Tradition (und Heidegger) verteidigt er „Metaphysik und Ethik gegen den Primat der Ontologie“.35 Sofern sich das Philosophieren auf die Idee des Unendlichen zu richten habe, müssen auch die Fragen nach Gott und Unsterblichkeit gestellt werden. – Eine im Feuer der Kritik geläuterte Metaphysik hat auch im Denken Ricœurs ihren Platz – etwa im Rückgriff auf die Antike: „In spekulativ-metaphysischer Hinsicht greift die Hermeneutik des Selbst auf die großen platonischen Meta-Kategorien des ‚Selben‘, des ‚Anderen‘ und des ‚Analogen‘ zurück. In dieser Hinsicht spricht Ricœur von einer ‚Funktion Meta‘ […].“36

Bei Jonas, Levinas und Ricœur werden die Bezüge zur Metaphysik offen angesprochen. Ob auch bei anderen Philosophen der Gegenwart metaphysische Motive virulent bleiben, muss hier nicht entschieden werden. Vielleicht könnte Blumenbergs Einstellung zur Metaphysik Richtschnur für unseren Umgang mit der Tradition sein: „Sosehr sein [Blumenbergs] Werk den Nachweis führt, dass und wie sich die menschliche Vernunft gegen Überforderungen durch die großen Fragen der Metaphysik zu behaupten weiß, so wenig lässt er sich von Verabschiedungsgesten gegenüber einer vermeintlich ‚alteuropäischen‘ Tradition beeindrucken. Blumenberg steht für einen nachdenklichen Umgang mit den zentralen Themen der Metaphysik […].“37

3. Die großen Themen

a) Sprache

Man hat einen ‚linguistic turn‘ als Charakteristikum für die Philosophie des 20. Jahrhunderts konstatiert.38 Damit verband man wohl auch die Hoffnung, endlich ein einigendes Band für die heterogenen Disziplinen und Schulen gefunden zu haben. Gleichzeitig war jedoch nicht zu übersehen, dass die Sprache auf sehr vielfältige Weise thematisiert und für philosophische Problemstellungen nutzbar gemacht wurde. Diese Vielfalt spiegelt sich auch bei den hier vorgestellten Philosophen wider.

Nach Gadamer hat die Hermeneutik von folgender Einsicht auszugehen: „Alle Welterkenntnis des Menschen ist sprachlich vermittelt.“39 Oder in einer provozierenden Formel aus ›Wahrheit und Methode‹: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“40 Grundlegend für diesen Prozess des Verstehens ist ein Vorwissen; in diesem Sinne bedarf es einer ‚Rehabilitierung der Vorurteile‘. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden: der jeweilige Sprachgebrauch (bei Text und Interpret) und die inhaltlichen Vormeinungen. Beide Merkmale sind notwendige Bedingungen, „unter denen sich ein Interpret mit der Intention auf adäquates Sinnverstehen einem auszulegenden Sachverhalt zuwendet“.41

Auch für den Hermeneutiker Ricœur ist die Sprache von vorrangigem Interesse, und zwar zunächst unter dem Aspekt einer Symbolik des Bösen. „Unter dem Druck der Einsicht, dass diese [symbolische] Sprache zwar philosophisch interpretiert […] werden muss, sich aber niemals durch einen philosophischen Diskurs über das Böse ersetzen lässt, verwandelt sich die Reflexionsphilosophie in eine Hermeneutik der Symbolik des Bösen.“42 Dann kann zwar der Selbstbegründungsanspruch des Ich-denke nicht mehr aufrechterhalten werden; wohl aber ist das kritische Geschäft der Vernunft zu bewahren, indem die Wahrheitsansprüche des Mythisch-Symbolischen geprüft werden.43 Dieses Konzept erweitert Ricœur in den siebziger Jahren durch eine ‚Texthermeneutik‘.

Bei Apel wird die sprachphilosophische Orientierung bereits durch den Titel seiner Habilitationsschrift angezeigt: ›Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico‹. Systematisch geht es Apel um eine Korrektur der in weiten Teilen der Tradition herrschenden Auffassung, nach der die Sprache bloß Instrument der Mitteilung für eine sprachunabhängige Vernunft ist. Ein angemessener Begriff von Sprache lässt sich nach Apel nur gewinnen, wenn die klassische Tradition um eine pragmatische Dimension erweitert wird. Die apelsche Transzendentalpragmatik geht von einem zweifachen Apriori der Sprache aus. Zum einen: „Jedes Vernunftsubjekt ist immer schon Mitglied einer geschichtlich gewordenen realen Kommunikationsgemeinschaft, mit der es eine konkrete Sprache […] teilt […].“44 Zum anderen: „Jedes Vernunftsubjekt ist zugleich Mitglied einer universalen Argumentationsgemeinschaft […].“45 – Auch Habermas geht von der Sprachgebundenheit der menschlichen Vernunft aus. „Sitz der Vernunft sind nicht naturbelassene Sachen (‚Idee‘), nicht imaginierende Personen (‚Subjekt‘), sondern argumentative Diskurse (‚Sprache‘).“46 Dementsprechend vertritt Habermas – wie sein Freund Apel – eine konsenstheoretische Wahrheitstheorie.47 Die Möglichkeit einer transzendentalen Letztbegründung wird von Habermas jedoch bestritten.

Ohne den durch Sprache eröffneten Verweisungszusammenhang ist der ‚dekonstruktive‘ Ansatz Derridas (‚Poststrukturalismus‘) überhaupt nicht zu verstehen. „Zeichen, Schrift und Text, schließlich der durch fortlaufenden Gebrauch fast in ein Markenzeichen verwandelte Begriff la différance versammeln entscheidende Bedeutungen, durch die sich insbesondere das ‚frühe‘ Werk Derridas erschließt.“48 – Das Spezifische der Zeichen liegt darin, dass sie uns auf etwas verweisen. Darin liegt ihr Sinn bzw. ihre Bedeutung. Wir verstehen ein Zeichen dann, wenn wir die in ihm gleichsam hinterlegte Bedeutung vergegenwärtigen. Auf diese Weise sind die Zeichen „Hüter der Präsenz des Präsenten“.49 In der Wiederholbarkeit der Zeichen offenbart sich jedoch die ‚Dialektik‘ der Präsenz; denn eine Wiederholung in absoluter Identität ist unmöglich. In diesen Zusammenhang gehört der Begriff der différance (mit dem Doppelsinn von ‚Unterscheidung‘ und ‚Aufschub‘); die différance verweist auf ein ursprüngliches Bedeutungsspiel, auf einen „Ur-sprung, der Selbigkeiten entstehen lässt, indem er sie endlos mit Andersheiten durchsetzt“.50

Searle, der Derrida terminologische Willkür vorgeworfen hat51, gilt – mit seinen frühen Werken – als typischer Vertreter einer ‚Philosophie der normalen Sprache‘ (Ordinary Language Philosophy). Die von Austin entwickelte Sprechakttheorie wurde von Searle ausgearbeitet.52 Sie geht von der Einsicht aus, dass Sprechen nicht in erster Linie ein bloßes (theoretisches) Beschreiben und Feststellen ist, sondern Vollzug von (unterschiedlichen) Handlungen. Dass Searle von dieser sprachphilosophischen Aufgabenstellung zur Entwicklung einer Theorie der Intentionalität überging, ist folgerichtig. Denn: „Jede Antwort auf die Frage, was sprachliche Bedeutung ist oder wie Sprache sich auf die Welt bezieht, muss auf geistige Phänomene wie das Meinen, Verstehen, Beabsichtigen und Glauben verweisen – also auf intentionale Geisteszustände.“53

Auch da, wo die Sprache nicht im Zentrum des philosophischen Fragens steht, wird ihre wichtige Funktion für das menschliche Erkennen und Handeln anerkannt. Popper etwa folgt einer sprachkritischen Tradition, die sich auf Lockes ›Essay Concerning Human Understanding‹ berufen kann. Wie Locke wendet sich Popper gegen einen sprachlichen ‚Essentialismus‘. „Damit ist die Auffassung gemeint, sprachliche Begriffe, etwa politische Begriffe wie ‚Gerechtigkeit‘, ‚Freiheit‘, ‚Staat‘, ‚Demokratie‘, müssten eine wahre, wesentliche oder eigentliche Bedeutung besitzen. […] Diese Vorstellung ist aus der nominalistischen Perspektive von Poppers Aufklärungskonzeption falsch […].“54

Bei Levinas ist die Sprache für die Erfahrung des Anderen konstitutiv. „Denn der Blick des Anderen ereignet sich als Sprache.“55 – Blumenberg sieht in der bannenden Kraft der Namenssetzung und im Erzählen von Geschichten (Mythen) eine entscheidende Leistung im Aufbau der Kulturen.56 Während die Tradition ihr Augenmerk vor allem auf die Begriffsbildung als Urakt der Vernunfttätigkeit richtet, betont Blumenberg die erschließende Kraft der Metaphern.57

b) Moral

Man hat als Kennzeichen für die gegenwärtige Philosophie immer wieder eine Hinwendung zur praktischen Philosophie betont – ja sogar von ihrer Rehabilitierung58 gesprochen. „Die philosophische Ethik hat in den achtziger Jahren sowohl innerhalb der Universität als auch über den universitären Bereich hinaus mehr und mehr an Beachtung gewonnen, nachdem jahrzehntelang die Disziplinen der theoretischen Philosophie […] die praktische in den Hintergrund gedrängt hatten.“59 Dass die Ethik – als Theorie des moralischen Handelns – eine zentrale Position in der Philosophie der Gegenwart einnimmt, lässt sich auch an den hier vorgestellten Autoren belegen.

Poppers Aufklärungsdenken ist grundlegenden Werten verpflichtet: Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik, Anerkennung von Freiheit und Würde der menschlichen Person.60 Der Standpunkt kritischer Rationalität muss allerdings eine mögliche Revidierbarkeit moralischer Normen offen halten. Daraus folgt für Popper die Akzeptanz eines Wertepluralismus.

Jonas stellt sich mit seiner Ethik den besonderen Problemen und Anforderungen einer ‚technologischen Zivilisation‘. Denn von der modernen Technik geht eine ungeheuere Bedrohung aus, der mit traditionellen Konzepten nicht zu begegnen ist. „Was der Mensch heute tun kann und dann, in der unwiderstehlichen Ausübung dieses Könnens, weiterhin zu tun gezwungen ist, das hat nicht seinesgleichen in vergangener Erfahrung.“61 Der neue Imperativ, der unsere praktische Vernunft zu bestimmen hat, könnte nach Jonas so formuliert werden: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“62 Dabei ist zu beachten, dass die geforderte Übernahme der Verantwortung nicht nur auf die Menschen gerichtet ist, sondern die gesamte Natur einschließen soll. Gegen dieses Konzept ist mancherlei Kritik vorgebracht worden: das Problem des naturalistischen Fehlschlusses (Übergang vom Sein zum Sollen), der Rückgriff auf Metaphysik und Religion. Dabei wird oft übersehen, dass Jonas „keine Absolutheitsansprüche“63 erhebt.

Levinas’ Philosophie des Anderen lässt sich in folgendem Sinne als „Fundamentalethik“64 verstehen: Das Erscheinen des Anderen zerstört die vermeintliche Selbstgenügsamkeit des Subjekts und fordert zu einer wechselseitigen Beziehung auf, zu einer Übernahme der Verantwortung im moralischen Handeln. Denn der Andere tritt mir entgegen mit der Forderung: Du sollst mich nicht töten. Zwar kann ich das Auftauchen des Anderen auch als ‚Kriegserklärung‘ verstehen und ihn zu ermorden versuchen. Aber: „Ich soll ihn [den Mord] nicht begehen, da der Andere in seiner Sinnlichkeit mögliches Opfer ist; ich kann ihn nicht begehen, da die Andersheit des Anderen jenseits der Reichweite meines Vermögens liegt.“65

Ricœurs späte ‚Hermeneutik des Selbst‘ gelangt zum Entwurf einer Ethik, die sich an drei Leithinsichten orientiert: Selbstschätzung (im Sinne von Selbstinterpretation), Fürsorge und Gerechtigkeitssinn. Seine Analyse der aristotelischen und kantischen Ethik kommt zu dem Ergebnis, dass Konflikte zwischen unserem Streben nach einem geglückten Leben und dem universellen Anspruch einer deontologischen Moralphilosophie unvermeidlich sind. Ricœur versucht, diesen Gegensatz durch die Forderung nach praktischer Weisheit zu vermitteln.66

Das Besondere der apelschen Diskursethik liegt in ihrem Anspruch auf Letztbegründung. „Ziel der Diskursethik in ihrem harten Kern ist, eine rationale, metaphysikfreie transzendentale Letztbegründung der Moralität […] und ihres normativen Inhalts vorzulegen.“67 Die Transzendentalpragmatik geht davon aus, dass die Menschen als Wesen der Sprache immer schon Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft sind. Auf dieser Grundlage lässt sich folgende Letztbegründungsformel aufstellen: „Was man ohne aktuellen Selbstwiderspruch nicht bestreiten […] kann, das ist in der Argumentationssituation und d.h. überhaupt nicht hintergehbar für uns. Es gilt schlechthin, weil wir hinter das, was wir beim Bestreiten schon in Anspruch genommen haben, weder begründend noch bestreitend zurückgehen können.“68

Vor allem in der Auseinandersetzung mit Levinas werden die ethischen (und rechtsphilosophischen) Implikationen von Derridas Dekonstruktivismus deutlich. Grundlegend dafür ist die Erfahrung von Andersheiten, die allerdings nicht von anderen Menschen ausgehen müssen. „Diese Erfahrung eines Anderen, dessen Urheber ich nicht bin, ist für Derrida eine ethische Erfahrung, da sie am Anfang aller spezifischen Überlegungen steht, die sie immer schon voraussetzen und ohne sie sinnlos blieben.“69

Singer vertritt eine utilitaristische Ethik. Dabei geht er von folgenden Leitsätzen aus70: 1. Auch Tiere, sofern sie empfindungsfähig sind, sollen aus moralischen Gründen geschützt werden. 2. Glück ist der Maßstab für den Wert des Lebens; Glück ist dabei zu verstehen als die Erfüllung von Wünschen, die je nach Art (und Situation) verschieden sind. – Das eigentlich Provozierende des singerschen Ansatzes liegt in seiner Bestimmung des Begriffs ‚Person‘. Der Person-Begriff wird nämlich nicht – wie in der Tradition – an die Vernunft gekoppelt und kann deshalb nicht nur von der Gattung Mensch beansprucht werden. Lüthe kommt in seiner kritischen Abwägung dieser äußerst strittigen Position Singers zu folgendem Resultat: „Die Einführung dieses [Person-]Begriffs in die ethische Argumentation erleichtert zwar die Begründung von Singers Forderung nach einem erheblich verbesserten Tierschutz; sie trägt aber ohne logische Fehler nichts bei zur Begründung seiner Einschränkung des Schutzes menschlichen Lebens.“71

Eine Philosophie des Rechts oder des Sozialen baut auf ethischen Prinzipien auf oder impliziert moralische Normen. Sofern Rawls von Gerechtigkeitsprinzipien ausgeht, verweist er bereits in diesen Zusammenhang. Habermas’ Rechtskonzeption ist ebenfalls an diskursethische Überlegungen gebunden. Und auch Luhmann erkennt eine eigene normative Kraft der Moral an.72

c) Recht und Gesellschaft

Aufgabe und Gegenstand der ‚Disziplinen‘ Rechtsphilosophie, Politische Philosophie und Sozialphilosophie sind nicht scharf voneinander abzugrenzen, sofern es bei allen um die normativen Grundlagen menschlichen Lebens in der Gemeinschaft geht.73 Deshalb ist auch bei den in diesem Band vorgestellten Theorien eine scharfe Abgrenzung nicht sinnvoll.

„Da Poppers Konzeption der kritischen Rationalität aufs Engste mit bestimmten gesellschaftspolitischen Vorstellungen verbunden ist, hat seine Philosophie auch eine gesellschaftliche und politische Relevanz: dies sowohl für die Kritik an autoritären und totalitären politischen Systemen und deren Rechtfertigungsstrategien als auch für die Legitimierung des politischen Systems der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie.“74 Poppers eigene Leitidee ist die offene Gesellschaft75 – ein Begriff, der zeitweise sogar auf der politischen Bühne reüssierte.

Ausgangspunkt für Rawls’ politische Philosophie ist die Idee des Gesellschaftsvertrags. Demnach kann staatliche Herrschaft nur dann vernünftig legitimiert werden, wenn sie auf einen ursprünglichen Vertrag zurückgeführt wird, dem alle unter fairen, d. h. unparteilichen Bedingungen hätten zustimmen können. Das Ziel gerechter Güterverteilung lässt sich nach Rawls erreichen, wenn man von folgenden Gerechtigkeitsprinzipien ausgeht: dem Gleichheits- und dem Differenzprinzip. „Das erste Gerechtigkeitsprinzip verlangt zum einen gleiche Verteilung von Grundfreiheiten und politischen Rechten [z. B. Wahlrecht] und zum anderen eine Maximierung der individuellen Freiheit [z. B. Recht auf persönliches Eigentum].“76 Das zweite Prinzip betrifft die wirtschaftliche und soziale Stellung der Gesellschaftsmitglieder. Konflikte zwischen dem ersten (politischen) und dem zweiten (ökonomischen) Bereich sind unvermeidbar; ihre Lösung hat sich nach dem uneingeschränkten Vorrang des ersten Prinzips zu richten. – Diese Gerechtigkeitstheorie berücksichtigt allerdings zu wenig den Normen- und Wertepluralismus der modernen Gesellschaften. Deshalb hat Rawls in seinen letzten Arbeiten eine pragmatische Wende vollzogen.77

Für Luhmanns Gesellschaftstheorie ist der Begriff der Funktion grundlegend (‚funktionale Systemtheorie‘). Das heißt: Die Gesellschaft ist nicht zu beschreiben als ein Seiendes mit bestimmten Eigenschaften, sondern als System mit bestimmten Zuordnungsfunktionen. Das Gesamtsystem der Gesellschaft ‚funktioniert‘ durch die einzelnen Subsysteme (Erziehung, Wirtschaft, Recht etc.). Diese Subsysteme haben keine Rangordnung; vielmehr bestehen sie als geschlossene Systeme nebeneinander. „Die anderen Systeme sind für ein System Umwelt. Ein System setzt selbst die Grenzen zur Umwelt, bestimmt selbst, was zu ihm gehört, konstituiert und erhält sich selbst dadurch, dass es die Grenzen aufrechterhält und nur das unternimmt, was der eigenen Systemerhaltung dient.“78 Damit das Gesamtsystem der Gesellschaft im Zusammenspiel der Subsysteme funktioniert und so erhalten wird, bedarf es der Interaktion. „Damit Interaktion gelingen kann, müssen die Wahlmöglichkeiten des Handelnden begrenzt werden, so dass jeder weiß, was er von dem anderen erwarten kann, und seine Erwartungen nicht enttäuscht, sondern erfüllt werden.“79

Zwei Leitideen – so hebt Brunkhorst hervor80 – prägen das Werk von Habermas: 1. Kommunikation ist das Spezifikum der Gesellschaft; ihr Zusammenhang wird konstituiert durch kommunikatives Handeln. 2. Die gesellschaftlichen Systeme sind abhängig von einem Konsens, der in zwangloser Kommunikation gestiftet wird. Diese beiden Grundsätze können nur dann verknüpft werden, wenn sich Philosophie (als Erkenntniskritik) und Gesellschaftstheorie verbinden. So besteht die besondere Leistung der kritischen Gesellschaftstheorie von Habermas in „der vorranglosen Integration des […] Unbedingtheitsanspruchs der kommunikativen Rationalität von […] Sprechakten in eine starke, empirisch kontrollierbare und vom kontingenten Fortgang des wissenschaftlichen Diskurses abhängige Theorie der Gesellschaft […]“.81 Der Begriff der kommunikativen Rationalität bestimmt auch die habermassche Rechtstheorie.82

Derridas Entdeckung der ethischen Erfahrung des Anderen hat auch Auswirkungen auf seine politische Philosophie.83 Die dekonstruktive Kritik von Gerechtigkeit und Recht intendiert nämlich keine totale Negation, sondern die Akzeptanz von Widersprüchen. Auch wenn wir z. B. davon ausgehen müssen, dass ein Zustand des Rechts nicht ohne Gewalt eingeführt werden kann, so darf daraus nicht die Konsequenz gezogen werden, das Prinzip der Gerechtigkeit aufzugeben, um etwa der Utopie von rechtloser Gewaltfreiheit anzuhängen. Das bedeutet für Theorie und Praxis des Politischen gleichermaßen: „Keine politische Theorie oder Aktivität darf sich gegen die Tatsache immunisieren […], dass ein Ereignis als Unvorhersehbares in der Geschichte immer möglich ist und dass eine Geschichte, die nicht auf ihr programmatisch feststehendes Ende hinsteuert, […] geradezu von diesem Moment des Bruchs und der Transzendenz konstituiert wird.“84

Wenn – wie in dieser Einteilung – Philosophen der Gegenwart nach nur drei systematischen Gesichtspunkten thematisiert werden, dann ist zugleich zu betonen, dass auch die Fragestellungen der anderen philosophischen Disziplinen weiterhin eine gewichtige Rolle spielen. Ästhetische Analysen (z. B. Gadamer, Ricœur, Blumenberg) stehen ebenso im Blick wie die Grundlagen von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie (z. B. Popper, Apel, Habermas). Die Geschichtsphilosophie (Blumenberg) ist nicht verstummt, und die Religionsphilosophie (Jonas, Levinas, Ricœur, Blumenberg) lotet die Grenzen endlicher Vernunft aus. Schließlich: Sofern sich – Kant zufolge85 – alles philosophische Suchen auf die Frage „Was ist der Mensch?“ bezieht, ist auch die Philosophie der Gegenwart anthropologisch – sei es in Gestalt der Hermeneutik oder des kritischen Rationalismus, als Gesellschaftstheorie oder Transzendentalpragmatik, in Form des Utilitarismus oder Dekonstruktivismus.

4. Wirkung

Wie die stetig anwachsende Sekundärliteratur belegt, haben die in diesem Band vorgestellten Philosophen über die Landes- und Fachgrenzen hinweg Resonanz gefunden. – Bei Gadamer setzt eine breite Wirkung verhältnismäßig spät ein. Nachdem er als Sechzigjähriger ›Wahrheit und Methode‹ veröffentlicht hatte und 1968 emeritiert worden war, entfaltete er eine reiche Vorlesungs- und Vortragstätigkeit, vor allem an amerikanischen Universitäten und in Italien. Das hat viel zu seiner internationalen Reputation beigetragen. Seine ‚Hermeneutik‘, die – trotz eigenen Widerspruchs – vor allem als Methode der Geisteswissenschaften verstanden wurde, ist vor allem für die Literaturwissenschaften, aber auch für Jurisprudenz und Theologie bedeutsam geworden. – Popper war nicht nur schulbildend (z. B. Albert, Bartley, Feyerabend, Lakatos); sondern seine Wissenschaftstheorie ist – in ihrem Für und Wider – in den Diskussionen über wissenschaftliche Methodologie fast allgegenwärtig. Schien Poppers ‚Logik der Forschung‘ zunächst nur für die Naturwissenschaften relevant zu sein, so ist mittlerweile der kritische Rationalismus ein exemplarisches Paradigma von Wissenschaft überhaupt (bis hin zur Theologie).86

Bei allen Kontroversen um die Begründungsproblematik der jonasschen Ethik ist doch die Eigenständigkeit (z. B. als Alternative zum Utilitarismus) und Aktualität des ‚Prinzips Verantwortung‘ anerkannt worden. Dass die Überlegungen von Jonas auch ein positives Echo in der Öffentlichkeit fanden, wird nicht zuletzt durch die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (1987) dokumentiert. – Der eigenwillige Denkstil Levinas’ stand einer breiten Rezeption zunächst im Wege. In den siebziger und achtziger Jahren wurde er aber zunehmend beachtet. Nicht mehr zu übersehen ist mittlerweile sein Einfluss auf die Theologie (unter dem Vorzeichen des jüdisch-christlichen Dialogs) und Religionsphilosophie.87 – Auch Ricœur kommt verhältnismäßig spät zur Geltung. Inzwischen wird er in der amerikanischen Diskussion über die Möglichkeit einer Hermeneutik (nach Strukturalismus und Poststrukturalismus) sehr stark wahrgenommen.

Blumenbergs Arbeiten aus den sechziger und siebziger Jahren (zum Roman, zur Poetik, zum Mythos)88 haben der Literaturwissenschaft wichtige Impulse gegeben, vor allem im Kontext der Auseinandersetzung mit rezeptionsästhetischen Ansätzen. Darüber hinaus sind seine groß angelegten Analysen des Mythos und der Gnosis, des Christentums und der Neuzeit für die Theologie (und die Religionsphilosophie) ebenso provozierend wie anregend.

Nicht nur in der englischsprachigen Welt gilt Rawls als einer der bedeutendsten politischen Philosophen der Gegenwart. Seine ›Theorie der Gerechtigkeit‹, die eine rationale Begründung des Sozialstaats zum Ziel hat, fand sehr bald nach ihrem Erscheinen ein großes Echo. Dabei stehen nicht nur Begriff und Tragweite des politischen Liberalismus zur Debatte, sondern ebenfalls Probleme der Marktwirtschaft, des zivilen Widerstands, der internationalen Kooperation – kurzum: das gesamte Spektrum politischen Handelns.

In dem Maße, in dem eine allgemein gültige Begründung von Normen als vordringliches Problem unserer Gesellschaft bewusst wurde, ist auch das Interesse an Apels Letztbegründungsversuch der Ethik gestiegen. Der Terminus ‚Diskursethik‘ gehört inzwischen zum bildungssprachlichen Vokabular, wobei man die Diskussion über subtile Argumentationszusammenhänge sowie die Differenzen zwischen Apel und Habermas allerdings den akademischen Fachleuten überlässt. – In ähnlicher Weise gilt dies auch für Luhmanns ‚Systemtheorie‘. Einerseits stehen Umfang und Schwierigkeitsgrad seiner Schriften einer breiten Rezeption im Wege. Andererseits hat die umfassende Beschreibung aller gesellschaftlichen ‚Subsysteme‘ zu intensiven Auseinandersetzungen z. B. in Theologie und Pädagogik, in Literatur- und Rechtswissenschaft geführt.

Die nationale und internationale Resonanz der Arbeiten von Habermas ist unübersehbar. Die Titel seiner frühen Sammelbände – ›Theorie und Praxis‹, ›Erkenntnis und Interesse‹ – sind in Lehr- und Studienpläne aufgenommen worden. Begriffe wie ‚kommunikative Kompetenz‘, ‚rationaler Diskurs‘, ‚Universalpragmatik‘ machen auch jenseits von Philosophie und Soziologie Karriere. Die Öffentlichkeit merkt auf, wenn Habermas in der überregionalen Presse zu politischen und gesellschaftlichen Problemen Stellung nimmt.

In Frankreich (und im übrigen Europa) lange Zeit umstritten, ist Derrida vor allem in Amerika (seit 1966) interessiert aufgenommen worden. Sofern sich die Dekonstruktion als methodische Anleitung im Umgang mit Texten versteht, kann es nicht überraschen, dass Derridas Ansatz besonders in der Literaturwissenschaft (literary criticism) beachtet wird. Die interdisziplinäre Ausrichtung seines Denkens wird u.a. dokumentiert durch das von ihm bis 1984 geleitete, fachübergreifend konzipierte Collège international de philosophie und durch seine Zusammenarbeit mit Architekten (z. B. P. Eisenmann).

Searles Weiterentwicklung der austinschen Sprechakttheorie ist für Linguistik und weite Teile der Sprachphilosophie zum Paradigma geworden. Heftige Kontroversen – die Publizität wurde durch Radio-Vorträge Searles in der BBC begünstigt – haben seine streitbaren Stellungnahmen zur ‚Künstlichen Intelligenz‘ (KI)-Forschung hervorgerufen. In diesem Zusammenhang hat das Gedankenexperiment vom ‚Chinesisch-Zimmer‘ geradezu Berühmtheit erlangt.89

Singers provozierende Thesen zur (Bio-)Ethik haben nicht nur in der Fachwelt für Aufregung gesorgt, sondern sind fast weltweit diskutiert worden. Einerseits kann Singers Position den Befürwortern von Tierrechten und umfassendem Tierschutz willkommen sein; andererseits wird seine Einschränkung der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens scharf kritisiert, weil man die Rechte von Behinderten bedroht sieht oder ihm gar ein neues Euthanasieprogramm unterstellt. So wird auch in diesem Zusammenhang deutlich, dass das vorbehaltlose Fragen der Philosophie gegenwärtig ebenso strittig ist wie am Anfang ihrer Geschichte.

Philosophen der Gegenwart

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