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HANS-GEORG GADAMER In der Spur des Verstehens

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Von HANS-HELMUTH GANDER

Sucht man nach den die philosophische Landschaft des 20. Jahrhunderts formierenden Kräften, so wird man neben Phänomenologie, Pragmatismus, der Analytischen Philosophie und dem Strukturalismus als weiteren Kandidaten für eine zureichende Antwort auf die Frage nach den philosophischen Grundströmungen der Gegenwart die Hermeneutik nennen müssen. Als einer ihrer produktivsten und international renommiertesten Vertreter gilt der in Marburg am 11. Februar 1900 geborene und am 13. März 2002 in Heidelberg verstorbene Hans-Georg Gadamer.1

Auf der Basis der von Martin Heidegger vollzogenen sogenannten ontologischen Wende der Hermeneutik, die mit der Ansetzung des Verstehens als einer existenzialen Grundstruktur menschlichen Seins eingeleitet wird und damit die Hermeneutik aus den traditionellen Grenzen einer Methode befreit, entwickelt Gadamer seine Konzeption einer philosophischen Hermeneutik.2 Gadamer selbst betont, dass er im Blick auf die heideggersche Ansetzung des Verstehens als ursprüngliche Vollzugsform des Daseins sein eigenes Projekt der Ausarbeitung dieses Aspekts des hermeneutischen Problems widmen wolle. In einer ›Selbstdarstellung‹ aus dem Jahre 19753 bekennt sich Gadamer daher unvoreingenommen zu dem, was er von seinem Lehrer Heidegger gelernt hat. Fasziniert ist er von dessen bilderstürmerischer Denkkraft; insbesondere seine Neuinterpretation des Aristoteles schlägt Gadamer in Bann. Gleichwohl erliegt Gadamer dieser Faszination nicht. In der produktiven Auseinandersetzung mit Heidegger eröffnet er sich vielmehr eigene Möglichkeiten, die ihm heideggersche Ansätze um- und fortzuschreiben erlauben und ihm so sein eigenes unverwechselbares Profil verleihen. Dieses Eigene wird in dem vielzitierten habermasschen Wort von der „Urbanisierung der Heideggerschen Provinz“4 kolportiert. Allerdings ist diese pointensichere und den souverän-verbindlichen Gestus der gadamerschen Persönlichkeit unterstreichende Formulierung für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen beiden Denkern vielleicht doch ein wenig zu maliziös, könnte es doch danach klingen, als würde der weltläufige Großbürgerspross Gadamer dem provinziellen Kleinbürgersohn Heidegger allererst die weite Welt zuführen. Gadamer selbst hat sich derlei Überheblichkeit bei aller Kritik an seinem philosophischen Lehrer nicht zu Eigen gemacht. Denn in seinem anhaltenden Bemühen um philosophische Eigenständigkeit bleibt zeitlebens das geistige Ringen mit dem heideggerschen Erbe bestimmendes wie belebendes Element, wobei es immer wieder Platon ist, der ihm hier gegen Heideggers Festlegungen den Weg ins Freie weist.

Mit der platonischen Philosophie ist Gadamer seit seinen frühesten akademischen Schritten vertraut. Mit einer Arbeit über das Wesen der Lust in Platons Dialogen wurde Gadamer 1922 von Paul Natorp promoviert, und auch die bei Heidegger angefertigte Habilitationsschrift von 1928 gilt Platon. Sie erscheint unter dem Titel ›Platos Ethik‹ 19315 und ist auf Jahrzehnte hinaus die einzige größere Schrift, die von ihm vorliegt. Gadamer selbst hat betont, dass ihm auf lange Zeit hin das Schreiben „eine rechte Qual blieb. Immer hatte ich das verdammte Gefühl, Heidegger gucke mir dabei über die Schulter“ (H II, 491). Schließlich aber reifte zwischen 1950 und 1959 Gadamers hermeneutische Konzeption, und 1960 gelangen die von ihm auf Wunsch des Verlegers nur im Untertitel so bezeichneten „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ unter dem von Seiten des Verlages attraktiver eingeschätzten Ersatztitel ›Wahrheit und Methode‹ zur Veröffentlichung. Gadamer ist bereits 60 Jahre alt, als sein Opus magnum erscheint, das nicht nur Habermas zu den bedeutendsten philosophischen Werken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt.

Im Folgenden wird es darum gehen, dem offenen Programm der gadamerschen Hermeneutik entsprechend einige Aspekte herauszugreifen und in ihrer Thematisierung die Frage des menschlichen Verstehens als sein philosophisches Grundanliegen zu profilieren. Die Abfolge der einzelnen Interpretationsschritte wird in der Auswahl dabei allerdings so gewählt, dass sie die Chronologie der gadamerschen Programmschrift durchkreuzt. Denn erst in einem letzten Teil der nachfolgenden Überlegungen (4.) wird abschließend und eher in Form eines Ausblickes auf das Verhältnis von Hermeneutik und Kunst – genauer: auf Gadamers Ontologie des Spiels – eingegangen werden, und zwar unter ausdrücklichem Rückbezug auf die zuvor behandelten systematischen Kernstücke von Gadamers Theorie der hermeneutischen Erfahrung, wie sie im Prinzip der Wirkungsgeschichte thematisch wird (3.). Gadamers Überlegungen zu Begriff und Funktion des Spiels können in gewisser und für eine Einführung auch geeigneter Weise den systematischen Gehalt der Theorie der hermeneutischen Erfahrung abrunden und zugleich die ontologische Relevanz der Kunst für eine hermeneutische Theorie erhellen. Den Einstieg allerdings in den so skizzierten Ablauf vollziehen Überlegungen zum Verstehensbegriff, wie ihn Gadamer im Anschluss an Heidegger ansetzt und im Unterschied zu ihm im Ausgang von einem Textmodell entwickelt (1.). Hier wird eine ungebrochene Produktivität des gadamerschen Ansatzes für eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik greifbar, die darin zugleich Grund und Ansatz einer hermeneutischen Philosophie konturiert, die über Einlassungen zur Vorurteilshaftigkeit allen Verstehens und in Verbindung damit zur Wahrheitsfrage (2.) zum hermeneutischen Prinzip der Erfahrung führt, wie es sich in Wirkungsgeschichte und wirkungsgeschichtlichem Bewusstsein artikuliert (3.).

1. Die ontologische Zirkularität des Verstehens im Blick auf Gadamers Textmodell

In Gadamers hermeneutischem Ansatz bedeutet Verstehen von seinem intentionalen Vollzugs- wie Gehaltssinn her gesehen, dass der Mensch, indem er etwas versteht – gleich, ob dies zweckrational normiert ist oder ob es sich um das Verstehen von Texten oder von Lebensäußerungen handelt –, immer zugleich auch sich selbst versteht. Das heißt: Er ist im Sinne einer unerschöpflichen Aufgabe existenziell dazu herausgefordert, in seinem Weltverständnis sein Selbstverständnis auszubilden. Damit folgt Gadamer in Abkehr von den als Kunstlehre bzw. Methodologie begriffenen Hermeneutik-Konzeptionen, wie sie sich mit Namen wie Wolff, Ast, Schleiermacher, Droysen oder Dilthey verbinden lassen, Heideggers existenzialontologischer Hermeneutik des menschlichen In-der-Welt-Seins. Hier ist Verstehen jene ausgezeichnete Seinsweise des Menschen, die in einem ontologischen Sinne sein Selbst- und Weltverhältnis im Ganzen charakterisiert, sodass der Mensch a priori verstehend aufgeschlossen ist für sich und in eins offen für die Welt.

Wenn aber Verstehen in diesem Sinne die unvordenkliche Vollzugsstruktur des menschlichen Lebens ist, bedeutet dies, dass sich damit zugleich der Anspruch der Hermeneutik mit Blick auf die Erkenntnis des menschlichen Seins universalisiert. Mit anderen Worten ist Verstehen nicht nur die spezifisch geisteswissenschaftliche Erkenntnisweise im Unterschied etwa zum Erklären, vielmehr ist es das alle Erkenntnisleistungen in ihrer Wissens- und Handlungskompetenz fundierende selbst- und welterschließende Geschehen der menschlichen Existenz. Dass die Universalisierung des hermeneutischen Erkenntnisanspruches keineswegs zu einem letzten und absoluten und von aller Erfahrung abstrahierenden Wissen führt, zeigt sich u.a. auch daran, dass mit der Universalisierung zugleich auch eine Historisierung des im Verstehen erhobenen Erkenntnisanspruches einhergeht und sich auf diesem Wege dann geradewegs auch die Endlichkeit wie Erfahrungsgebundenheit als konstitutiv für alle menschliche und also hermeneutische Erkenntnis erweist.

Eindrücklich zeigt sich dies an der ontologischen Struktur der Zirkularität des Verstehens, die Gadamer aus der produktiven Reibung mit Heideggers Konzept der existenzialen Vorstruktur des menschlichen Daseins heraus entfaltet und die darin zugleich eine Neuinterpretation des traditionell so genannten hermeneutischen Zirkels bietet. In ihm kennzeichnet z. B. Dilthey die Verwiesenheit des Geisteswissenschaftlers auf sein historisch bedingtes Vorverständnis bzw. Vorwissen, das alle Erkenntnis auf die vorgängige hermeneutische Situation des Auslegenden rückbindet. Während Dilthey aber diese Vorverständnisgebundenheit eher aporetisch begreift, ist entsprechend Heideggers existenzialontologischem Ansatz diese Vollzugsstruktur der Erkenntnis Ausdruck der existenzialen Vorstruktur des menschlichen Daseins überhaupt. Sie gliedert er in die drei Momente Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff, die zusammen das Vorverständnis bilden, das die hermeneutische Situation konstituiert, in dem sich sowohl das vortheoretische wie das theoretische Auslegen hält.6

Im Anschluss an den von Heidegger herausgearbeiteten ontologisch positiven Sinn der Zirkularität der menschlichen Verstehensleistungen entwickelt Gadamer an dem von ihm präferierten Textmodell eine originelle Neuformulierung des hermeneutischen Zirkels, mit der zugleich die geisteswissenschaftliche Hermeneutik eine neue Fundierung gewinnt. Als zentralen Kerngedanken formuliert Gadamer: „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht“ (H I, 271). Um die gadamersche Pointe zu sehen, ist ein weiterer Punkt zu beachten. Auch wenn nämlich der Text als Gebilde in der Gestalt eines intendierten fertigen Sinnganzen vorliegt, ist er dabei doch gleichwohl einbezogen in ein Geflecht von vor- und außertextlichen Voraussetzungen, die zumeist im Text selbst gar nicht mehr sichtbar werden. Was dasteht, hat, genauer betrachtet, immer schon eine Art Vorgeschichte. Wichtig ist zu sehen, dass es sich dabei keineswegs nur um ein spezifisches Problem von Texten handelt. Vielmehr kennzeichnet dies etwas, was für alles innerhalb der Grenzen der dem Menschen möglichen Erfahrung zutrifft. Ist das aber so, dann sind damit Texte selbst als Teil der menschlichen Erfahrungswelt ausgewiesen und lassen sich folglich als deren Objektivationen begreifen. Texte als, mit Dilthey gesprochen, ‚Objektivationen des geschichtlichen Lebens‘7 fungieren in diesem Sinne für Gadamer im Range eines Modells, an dem sich die hermeneutische Erfahrung in ihren Grundbestimmungen herauspräparieren lässt.

Hat man sich diesen Zusammenhang klargemacht, so wird deutlich, warum Gadamer die von Heidegger aufgewiesene existenziale Vorstruktur des Verstehens hermeneutisch anhand des Textverstehens exemplifizieren kann, er also keineswegs, wie bisweilen gemutmaßt wurde, die existenzialapriorische Weite des heideggerschen Ansatzes auf eine eher traditionell gefärbte Texthermeneutik reduziert. Denn der Text bietet im genannten Sinne der Objektivation des geschichtlichen Lebens das Modell, mittels dessen Gadamer Heideggers formal-anzeigenden Aufweis der Vorstruktur des Verstehens einer konkreten Analyse unterwirft. Das heißt für Gadamer: Das Vorverständnis wird zum Ausgangspunkt jeder Interpretation, die in ihrem Vollzug über die Stichhaltigkeit aller an den Text qua Sinnerwartung herangetragenen Vormeinungen entscheidet. Stichhaltigkeit nennt dabei jene Form von Objektivität, die als Bewährung der Vormeinung zu fassen ist. Das heißt: Das Verständnis für eine wissenschaftlich-methodisch sauber durchgeführte Verstehensleistung hängt am Kriterium der Bewährung, das mit Blick auf die geforderte Sinnadäquatheit des Verstehens darin einer Prüfung der Legitimität der Vormeinungen gleichkommt. Es geht also nicht einfach darum zu konstatieren, dass Menschen als verstehende Wesen nur unter Rückbezug auf ein Vorverständnis, also auf Vormeinungen, verstehen können. Die hermeneutische Aufgabe besteht vielmehr im Herausarbeiten dessen, was es mit diesen Vormeinungen strukturell auf sich hat. Das heißt: Indem auf das Vorverständnis des Interpreten reflektiert wird, gelingt es Gadamer, den Abstand bzw. die Differenz zwischen Text und Interpret so zu bestimmen, dass auf beiden Seiten, also Text wie Leser, die jeweiligen Vormeinungen als konstitutive Strukturmomente für ein sinnadäquates Verstehen sichtbar werden.

Mit Blick auf die Bedingung der Möglichkeit für eine methodisch saubere sinnadäquate Verstehensleistung hebt Gadamer in Bezug auf das, was Vormeinungen in diesem Kontext besagen, zwei Kennzeichen heraus. Zum einen nämlich meint Vormeinung in diesem Kontext Vormeinung des jeweiligen Sprachgebrauchs, und zwar in der Unterscheidung von Text und Interpret. „Wir erkennen […] die Aufgabe an, aus dem Sprachgebrauch der Zeit bzw. des Autors unser Verständnis des Textes erst zu gewinnen […], [wobei] es im allgemeinen erst die Erfahrung des Anstoßes ist, den wir an einem Text nehmen – sei es, daß er keinen Sinn ergibt, sei es, daß sein Sinn mit unserer Erwartung unvereinbar ist –, die uns einhalten und auf das mögliche Anderssein des Sprachgebrauchs achten läßt“ (H I, 272). Im zweiten Fall meint Vormeinung die „inhaltlichen Vormeinungen, mit denen wir Texte lesen und die unser Vorverständnis ausmachen“ (H I, 272f.) und die unterschieden werden müssen von der inhaltlichen Vormeinung des Textes resp. seines Verfassers, „die da ausgesprochen wird und die ich zur Kenntnis zu nehmen habe, ohne daß ich dieselbe zu teilen brauche“ (H I, 273).

Das Entscheidende ist nach Gadamer, dass im Aufweis der beiden Differenzpunkte ‚Sprachgebrauch‘ und ‚inhaltliche Vormeinung‘ die Bedingungen festgeschrieben sind, unter denen sich ein Interpret mit der Intention auf adäquates Sinnverstehen einem auszulegenden Sachverhalt zuwendet. Da der in beiden Aspekten artikulierte phänomenale Sachverhalt unhintergehbar ist, können m.a. W. Vormeinungen nicht eliminiert werden. In Bezug auf diesen hermeneutisch grundlegenden Strukturverhalt ist es für Gadamer im Sinne der in den Vormeinungen konkretisierten Vor-Struktur des Verstehens notwendig, nun auf Seiten des Interpreten dessen Eigendispositionen transparent werden zu lassen. Ein erster Schritt hierzu ist getan, wenn man „die andere Meinung zu dem Ganzen der eigenen Meinung in ein Verhältnis setzt oder sich zu ihr“ (H I, 273). Damit wird als Minimalstandard der hermeneutischen Erfahrung zugleich eine „Offenheit für die Meinung des anderen oder des Textes“ (H I, 273) exponiert.

Die im Verhältnis der in den Texten sprachlich vermittelten Überlieferung zum Leser dialogisch anmutende Situation, die so auch von Gadamer immer wieder insinuiert erscheint8, darf mit Blick auf das Dialogische allerdings nicht überschätzt werden. Denn in diesem Verhältnis ist für Gadamer zuletzt wesentlich, dass Verstehen „den überlieferten Text nicht als die Lebensäußerung eines Du versteht, sondern als einen Sinngehalt, der von aller Bindung an die Meinenden, an Ich und Du, abgelöst ist“ (H I, 364). Damit wird aber keiner Deutungsbeliebigkeit im Sinne eines Geltungsrelativismus das Wort geredet. Was sich in dieser Basisforderung vielmehr ausspricht, ist die grundlegende hermeneutische Einsicht in die relationale Bedingtheit alles Verstehens. Denn in der „Vielfalt des ‚Meinbaren‘, d.h. dessen, was ein Leser sinnvoll finden und insofern erwarten kann, ist doch nicht alles möglich, und wer an dem vorbeihört, was der andere wirklich sagt, wird das Mißverstandene am Ende auch der eigenen vielfältigen Sinnerwartung nicht einordnen können“ (H I, 273). Dabei trägt die Zuwendung zu so etwas wie einem Text durchaus die notwendige Tendenz in sich, das zu Verstehende so zu erfassen, wie es seiner Eigenintention nach verstanden werden will, und das heißt, die Frage nach dem Maßstab für die Adäquatheit der Verstehensleistung bindet sich an den Sinngehalt des Textes, ohne sich vollständig dabei vom Leser abkoppeln zu können. Denn der als Objektivation des geschichtlichen Lebens gefasste Text erschließt sich nur in der Relation auf den Wirkungsbezug, den der Text auf Seiten des Interpreten entfaltet.

In einer Art von methodischem Postulat – man könnte sogar sagen: hermeneutischem Imperativ – formuliert Gadamer: „Wer einen Text verstehen will, ist […] bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche ‚Neutralität‘ noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein“ (H I, 273f.). Bei sich selbst anzusetzen, ist für Gadamer demnach unumgänglich, sofern der Verstehende niemals sich neutral einem Text zuzuwenden vermag. Neutralität, die zugunsten einer vorgeblichen Objektivität den Anschein eines von sich selbst distanzierten Unbeteiligtseins des Subjekts mit sich führt, gehört, wenn es um das sinnadäquate Verstehen der in Texten uns erreichenden Überlieferung geht, in das Reich der Fiktion. Demgegenüber gilt es für Gadamer, „der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen“ (H I, 274). Es gibt demnach kein Ansich des zu verstehenden Textsinnes. Vielmehr entfaltet sich der Wahrheitsanspruch eines Textes, also die adäquate Sinnerschließung seines Gehaltes allein für und in einem kritisch reflektierten Verstehen. So gesehen besteht die hermeneutische Aufgabe eines mit methodischem Bewusstsein geführten Verstehens für Gadamer darin, „seine Antizipationen [d.i. die Sinnerwartungen, die als Vormeinungen die Zuwendung zum Text motivieren] nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen“ (H I, 274). Erst in der Transparenz seiner Voraussetzungen gelangt der Interpret zur vollen Klärung seiner eigenen Intentionen. Aus dieser hermeneutischen Selbstvergewisserung heraus kann er dann in einer expliziten Weise zu den im auszulegenden Text vertretenen Sinnmeinungen begründet Stellung nehmen. Dabei bleibt selbstverständlich noch völlig offen, ob aufgrund dieser Selbstkontrolle der Interpret hinsichtlich der Sinnmeinungen des Textes sich affirmativ oder kritisch absetzend verhält.

Beschreibt die konstitutive Differenz der Vormeinungen von Text und Interpret in diesem Sinne die Ausgangsposition des hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Interpretationsansatzes, so gewinnt diese Position nach Gadamer ihre Dignität in der sie tragenden und auf entscheidende Weise prägenden „Anerkennung der wesenhaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens“ (H I, 274).

2. Vorurteilshaftigkeit des Verstehens und hermeneutisches Wahrheitsgeschehen

Gadamer unterscheidet zumindest zwei Arten von Vorurteilen. Zum einen gibt es persönliche Vorurteile. Sie sind für andere, aber auch für mich in der Regel ohne weiteres zu durchschauen. Das heißt: Man kann zumindest im Prinzip in einer persönlich aktiv beteiligten Weise mit ihnen umgehen, also auf ihnen bestehen oder sie gegebenenfalls korrigieren. Daneben gibt es zum anderen die von Gadamer so genannten „undurchschauten Vorurteile“ (H I, 274). Es handelt sich hierbei um die eigentlich hermeneutisch relevanten Vormeinungen. Es sind dies die geschichtlich in uns wirksamen Vormeinungen, die uns nicht mehr in ihrem Ursprung unmittelbar zugänglich sind. So haben metaphysische Ideen sich längst außerhalb der philosophischen Spekulationen so sehr in kulturelle, also politische, ästhetische, ethische usw. Selbstüberzeugungen umgemünzt, dass ihnen in dem Maße, wie z. B. Vorstellungen von Glück, Freiheit und Gerechtigkeit individuelle wie gesellschaftliche Ziele ausprägen, mindestens im Blick auf den europäisch geprägten Kulturraum eine universelle Bedeutsamkeit zugesprochen werden kann. Und vielleicht wirken sie gerade dort am lebendigsten nach, wo sie gleichsam als ‚geheime Vorurteile‘ in ihrem geschichtlichen Ursprung sich selbst unbekannt und daher mit bisweilen dogmatischem Anspruch die Meinungsbildung mitprägen.

Die in diesem Sinne undurchschauten Vorurteile werden nach Gadamer durchsichtig nur in einer Analyse, die sich der Frage der positiv verstandenen Vorurteilshaftigkeit allen Verstehens als eines – und das ist wichtig – selbst geschichtlich erwirkten Prozesses nähert. Mit diesem Ansatz der Analyse verbindet Gadamer drei programmatisch in sich verwobene Ziele: Erstens betreibt Gadamer die Anerkennung der Vorurteile als Bedingungen des Verstehens; zweitens geht es ihm dabei zugleich um die Rehabilitierung des Autoritätsbegriffes, womit in eins sich drittens eine Rehabilitierung der Tradition vollzieht.9

Gadamers Analyse der strukturell positiv gefassten Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens setzt ein, indem sie nach dem gegenwärtigen Stellenwert des Vorurteils für den Begriff des wissenschaftlich-methodischen Erkennens fragt. In diesem Sinne erweist sich deskriptiv, dass das Vorurteil heute gewöhnlich negativ konnotiert wird. Aus dieser Zustandserfassung heraus erwächst die hermeneutische Aufgabe, den bedeutungsverschiebenden Prozess zu untersuchen, der begriffsgeschichtlich zur Ausbildung der gegenwärtig negativen Einschätzung des Vorurteils geführt hat. Die Ursache für diese Bedeutungsverschiebung liegt für Gadamer historisch wie sachlich in der, wie er es nennt, „Pauschalforderung der Aufklärung“ (H I, 280), alle Vorurteile zu überwinden. Befördert wird dieser Prozess nach Gadamer durch ein darin selbst ‚undurchschautes Vorurteil‘, das am Grunde dieser Entwicklung diesseits ihrer Selbstauffassungen ihr Wesen bestimmt. In Gadamers eigenen Worten: „Dies grundlegende Vorurteil der Aufklärung ist das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung“ (H I, 275).

Dass sich mit der angenommenen Bedeutungsverschiebung nach Gadamer eine ‚Entmachtung der Überlieferung‘ verbindet, dies zeigt die eigentliche Stoßrichtung seiner Aufklärungskritik an. Sie macht sich mit Blick auf die Aufklärung inhaltlich dabei in erster Linie an deren philosophisch wie wissenschaftlich motivierter Religionskritik fest. Hier geht es darum, die Fragen des Glaubens – sowohl gegenüber der mit theologischer Autorität aufgeladenen dogmatischen Auslegung der Heiligen Schrift wie den daraus sich herleitenden Autoritätsansprüchen – „vorurteilslos und vernünftig [zu] verstehen“ (H I, 276). Die Instanz, die dabei über die Überlieferung und deren Geltungsansprüche befindet, ist die Vernunft. Die Vernunft stellt für die Aufklärung daher nach Gadamer „die letzte Quelle aller Autorität“ (H I, 277) dar. Vor ihrem Richterstuhl müssen sich die Urteile in ihrem Wahrheitsgehalt durch Begründung bewähren, und in diesem Sinne erscheint das auf dem Boden dogmatischer Auslegung fixierte und im Verhältnis zur wissenschaftlichen Kritik entsprechend qualifizierte Vorurteil seinerseits bestimmt durch einen eklatanten Mangel an Begründung. „Das Fehlen der Begründung läßt in den Augen der Aufklärung nicht anderen Weisen der Gültigkeit Raum, sondern bedeutet, daß das Urteil keinen in der Sache liegenden Grund hat, ‚ungegründet‘ ist“ (H I, 275). Zu Recht erkennt Gadamer in dieser Folgerung das Grundmuster des Rationalismus wieder. Seinen Gewährsmann hierfür benennt er selbst, wenn er darauf verweist, dass unter dem Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis Vorurteile ausschalten zu wollen heißt, Descartes’ Prinzip des methodischen Zweifels zu folgen, also nichts gelten zu lassen, was sich nicht als gewiss annehmen lässt.

Nun suggeriert Gadamer allerdings, dass dieser Befund eine Gesamteinschätzung der Tendenzen der Aufklärung erlaube, die so gesehen für ihn im Wesentlichen das Programm einer Diskreditierung des Vorurteiles verfolgt. Hier allerdings ist Vorsicht geboten. Denn indem Gadamer, was er am rationalistischen Erkenntnisbegriff als Fehleinstellung aufdeckt und im Verhältnis zum Vorurteilsbegriff in der Aufklärung wiederfindet, pars pro toto nimmt, schiebt er beiseite, dass die Aufklärung mit Blick auf den nichtwissenschaftlichen Bereich durchaus eine Vielfalt von Vorurteilstheorien entfaltet hat, die sich nicht auf die wissenschaftliche oder philosophische Vorurteilskritik verrechnen lassen. Wenn aber im Rahmen der Aufklärung die theoretische Reflexion die rationalistische Tendenz auf eine Ausweitung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisstandards hinsichtlich der alltäglichen Lebenspraxis gerade mittels elaborierter Vorurteilstheorien einzuschränken sucht, was ja ganz in Gadamers Sinne ist, so wirkt Gadamers extrem kritische Sicht erstaunlich. Die Verwunderung darüber, dass Gadamers pauschale Aufklärungskritik einerseits eigentümlich vage bleibt und zugleich im Grad ihrer Verallgemeinerung historisch nicht zuverlässig ist, legt sich ein wenig, wenn man darauf achtet, dass es ihm material gar nicht so sehr um die Vorurteilstheorien zu tun ist. Worum es ihm vielmehr vorrangig geht, ist die Offenlegung der Vor-Struktur als gleichsam transzendental-hermeneutische Bedingung des Verstehens. Die Vorurteilskritik der Aufklärung ist für Gadamer daher nichts anderes als eine Art Kontrastfolie, vor der er sein eigenes Anliegen zu profilieren sucht, um den Preis allerdings einer problematischen Verengung jener historischen Sachverhalte, die geradezu als Kronzeugen in eigener Sache aufgerufen werden könnten, was meint, dass die Hermeneutik ihrerseits durchaus auf innovative Weise sich das kritische Reflexionspotential der Aufklärung nutzbar machen könnte.

Gadamer jedoch geht es in seinem Versuch einer „grundsätzlichen Rehabilitierung des Begriffes des Vorurteils“ (H I, 281) in Wahrheit nicht so sehr um die Aufklärung und deren Ziele, als vielmehr um die Klärung der hermeneutischen Situation, in der Vormeinungen bzw. Vorurteile unabweisbar mein verstehendes Sein in der Welt indizieren und auch strukturieren. Von daher verbindet sich für seine Hermeneutik mit den faktisch uns leitenden und unser Vorverständnis konturierenden Vorurteilen die „erkenntnistheoretische Grundfrage […]: Worin soll die Legitimation von Vorurteilen ihren Grund finden? Was unterscheidet legitime Vorurteile von all den unzähligen Vorurteilen, deren Überwindung das unbestreitbare Anliegen der kritischen Vernunft ist“ (H I, 281f.)?

In ›Wahrheit und Methode‹ verbindet Gadamer die Antwort auf die erkenntnistheoretische Grundfrage mit der Rehabilitierung des Autoritäts- und Traditionsbegriffs, was seiner Konzeption immer wieder den Ruf eines in ihr gepflegten Konservatismus eingehandelt hat. Um gegenüber solchen Rubrizierungen die philosophische Tragweite der von Gadamer formulierten Trias ‚Vorurteilshaftigkeit, Autorität, Tradition‘ zu ermessen und zugleich für die in seiner erkenntnistheoretischen Grundfrage liegende eigentümliche Provokation zu sensibilisieren, ist es nötig, das von Gadamer ihr eingeschriebene Wahrheitsverständnis wenigstens ein Stück offen zu legen, da bei Gadamer das Wahrheitsverständnis ontologisch betrachtet jene Funktion besetzt, die für Heidegger, an dessen existenzialen Verstehensbegriff er anschließt, das Seinsverständnis als das Unvordenkliche des menschlichen Existenzvollzugs besitzt.10

Traditionelle Auffassungen räumen seit Aristoteles bekanntlich dem Urteil insofern einen privilegierten Platz als Ort der Wahrheit bzw. des Wahrheitsentscheides ein, als sich die Wahrheit als Übereinstimmung von Vorstellung und Sache (adaequatio intellectus et rei) definiert. Nun ist aber für Gadamer eine Sache uns nur im Zugang über unsere Vorurteile bzw. im Lichte unseres Vorverständnisses zugänglich, das seinerseits für seine Bewährung und also Verwandlung in wahre Urteile von der betreffenden Sache her im Modus ihrer Gegebenheit bestätigt wird oder berichtigt werden muss. Durch diesen in sich dynamischen hermeneutischen Zirkel, den man ebenso gut eine hermeneutische Spirale nennen könnte, verliert, wenn man so will, aus hermeneutischer Sicht das Urteil seine privilegierte Stellung, da Gadamer im Ausgang von der Vor-Struktur des Verstehens die wahrheitsfähige und -stiftende Potenz der Vorurteile anerkennt. Diese mit Blick auf die mögliche konkrete Übereinstimmung ihr vorausliegende Potenz erweist sich für Gadamer eben darin, dass mit dem Vorurteil bzw. dem Vorverständnis als transzendentaler Bedingung der Verstehensleistung jene Sinndimension hermeneutisch explizit wird, innerhalb deren die individuell menschliche Selbst- wie Welterschlossenheit ansetzt. Sofern aber das Vorverständnis mein eigenes ausdrückliches Verstehen im Sinne eines ihm vorausspringenden Spielraums der Möglichkeiten immer schon überbietet, wird damit das Wahrsein interpretiert als eine vorgängige Erschlossenheit von Sinn, d.h. als ein Sinngeschehen, das auf den Menschen zukommt und innerhalb dessen der Mensch seine konkreten Verstehensleistungen vollzieht. Nicht zuletzt darum hatte Gadamer für sein Buch angesichts der Skepsis seines Verlegers hinsichtlich der Zugkraft des Titels ›Hermeneutik‹, der ihm nicht nur angestaubt, sondern auch zu sehr nach Theologie zu schmecken schien, in einer früheren Überlegung den Titel ›Verstehen und Geschehen‹ erwogen. Dass dies der hermeneutischen Wahrheitsfrage durchaus angemessen ist, zeigt sich auch daran, dass dadurch, dass im Aufweis der Vorurteilshaftigkeit des Verstehens der Wahrheitsbegriff als Sinngeschehen profiliert wird, dies zugleich eine klare Absage an alle Positionen bedeutet, die von der Annahme eines von uns unabhängigen Sinnes ausgehen. Denn auch die Rektifizierung im Sinne der Falsifikation von Vorurteilen führt zu neuen und nun vielleicht sachangemesseneren Vorurteilen, und d.h., das Verstehen intendiert in seiner Sinnerwartung keinen sich in letzten bedeutungserfüllenden Akten abschließenden Sinn. Für Gadamer ist im Anschluss an Heidegger Sinn als existenziale Struktur immer Richtungssinn.

Zusammenfassend meint die als hermeneutisches Wahrheitsgeschehen gefasste Sinneröffnung in sich jene Bewegung, innerhalb deren die eigenen Vorurteile als Erkenntnis überhaupt erst erschließende im Sinne Gadamers sich nun als rehabilitiert bzw. legitimiert erweisen, und dies zumal in der Unterscheidung von wahren und falschen Vorurteilen. Wahr sind sie, wenn sie sich an der Sache bewähren, und dies geschieht nicht zuletzt auch dadurch, dass das wahre Vorurteil seinen Geltungsanspruch immer wieder zu revidieren bereit ist, während falsche Vorurteile dies nicht tun. In diesem Sinne erfüllt sich für Gadamer die hermeneutische Aufgabe darin, „in konzentrischen Kreisen die Einheit des verstandenen Sinnes zu erweitern. Einstimmigkeit aller Einzelheiten zum Ganzen ist [dabei] das jeweilige Kriterium für die Richtigkeit des Verstehens. Das Ausbleiben solcher Einstimmigkeit bedeutet Scheitern des Verstehens“ (H I, 296). Mit der Einstimmigkeit wird von Gadamer hier der gesuchte formale Maßstab des gelingenden Verstehens formuliert. Die in der Einstimmigkeit gedachte Übereinstimmung zwischen dem von Vorurteilshaftigkeit bedingten Verstehen und der Sache bildet als Kohärenz in sich allerdings keine schlichte Kongruenz ab. Gegenüber dem traditionellen Übereinstimmungsmodell findet sich bei Gadamer eine entscheidende Modifikation. Sie besteht darin, dass die zu verstehende Sache nicht als etwas schlicht Gegebenes erscheint, sondern durch die Vorurteile des Betrachters allererst im Wie ihres Gegebenseins konstituiert wird, weshalb sie auch im Blick auf die Einstimmigkeit als Vollzug des gelingenden Verstehens vom Verstehenden nicht abzuspalten ist. So gesehen kann Gadamer auch herausstreichen: „Der produktive Beitrag des Interpreten gehört auf eine unaufhebbare Weise zum Sinn des Verstehens selbst.“11 Mit anderen Worten bleibt die als Maßstab fungierende Sache, die uns durch unser Von-ihr-angesprochen-Sein für sich einnimmt, in dem damit initiierten Sinneröffnungsgeschehen konstitutiv durch unseren jeweiligen vorurteilshaften Standpunkt bedingt.

So liegt der originelle hermeneutische Beitrag zur philosophischen Wahrheitsdebatte darin, dass in der Anlage der Übereinstimmung das Modell reiner Äquivalenz von Subjekt und Objekt insofern überboten wird, als es in der Weise dynamisiert erscheint, dass Vorurteil und Sache in ihrem auf Einstimmigkeit ausgerichteten Bezug nicht länger mehr für sich fixierte und fixierbare Pole darstellen. Weder gibt es also ein reines Sichzeigen der Sache noch eine völlige Selbstauslöschung unserer Vorurteile, vielmehr unterliegen sie in ihrer Spannung einem dialektischen Bewegungsmuster. Was in dieser dialektischen Struktur an Hegel anklingen mag, ist aber in Gadamers Wahrheitskonzeption keine Bewegung, die ein absolutes Sichwissen des Bewusstseins intendiert, vielmehr im Vollzug der Übereinstimmung demgegenüber eine solch konstitutive Offenheit erzeugt, in der sich für die hermeneutische Reflexion unsere Vorurteile dadurch revidierbar erweisen, dass sie sich für Erfahrungen von Andersheit öffnen. Nach Gadamer wird „das eigene Vorurteil dadurch recht eigentlich ins Spiel gebracht, daß es selber auf dem Spiele steht. Nur indem es sich ausspielt, vermag es den Wahrheitsanspruch des andern überhaupt zu erfahren und ermöglicht ihm, daß er sich auch ausspielen kann“ (H I, 304).

Wie aber kann das eigene Vorurteil in dieses Spiel gebracht werden? Dies geschieht dann, wenn es seiner verborgenen Wirkung enthoben wird, es, wie Gadamer betont, gereizt wird, und was es reizt und in diesem Sinne uns als solches bewusst werden lässt, ist für Gadamer „die Begegnung mit der Überlieferung“ (H I, 304) und in diesem Sinne der Tradition.

3. Überlieferung – Tradition – Wirkungsgeschichte

Diese Begegnung mit der Überlieferung hat nichts Zufälliges oder willkürlich Herbeigeführtes, denn für Gadamer schließt hermeneutisch geschultes Bewusstsein immer auch historisches Bewusstsein ein, was ein Sichverhalten zur Tradition impliziert. Ihr aber, die Gadamer dadurch kennzeichnet, dass sie „ohne Begründung zu gelten“ (H I, 285) beansprucht, gehören wir auf eine wie immer geartete Weise von Vertrautheit je schon zu, weshalb sie als Teil unseres geschichtlichen Seins auf uns, auch ohne ein explizites Bewusstsein bzw. Verhalten zu ihr, eine bleibende Wirkung und Macht ausübt, ohne dass wir dabei ganz in ihr aufgingen. Denn das hermeneutische Bewusstsein weiß darum, dass es zunächst einmal an das, was mit der Überlieferung – etwa als Text – sich zu Wort meldet, Anschluss gewinnen muss und d.h. für die hermeneutische Aufgabe der Sinneröffnung anzuerkennen hat, dass in unserem Verhältnis zur Überlieferung „wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit“ (H I, 300) besteht. Gleichwohl liegt in der Konsequenz dieses ontologischen Modells, dass das Verstehen nun geradezu eine Partizipation am Überlieferungsgeschehen herausfordert.

Alles zu Verstehende, sei es Text oder was auch immer, steht in einer fraglosen „Geltung aus Herkommen und Überlieferung“ (H I, 285), weshalb sich in Abwandlung eines bekannten Foucault-Wortes schlicht sagen lässt: ‚Es gibt Traditionen.‘ Gadamer selbst hat diesen Sachverhalt recht plastisch in einem Gespräch einmal so formuliert: „Wir stehen in Traditionen, ob wir diese Traditionen kennen oder nicht kennen, ob wir uns ihrer bewußt sind oder so hochmütig sind zu meinen, wir fingen voraussetzungslos an – an der Wirkung von Traditionen auf uns und unser Verstehen ändert das nichts.“12 Von daher gehört für Gadamer zum Faktor Tradition, der in jeder Verstehensleistung mitspielt, nicht allein die Vergangenheit, sondern ganz wesentlich auch unsere Gegenwart. Mit anderen Worten gilt es hermeneutisch auf den Wechselbezug von Geschichte und Selbstsein als einer grundlegenden Struktur aller Verstehensleistungen zu achten.

Eine „sachangemessene Hermeneutik hätte im Verstehen selbst die Wirklichkeit der Geschichte aufzuweisen“ (H I, 305). Was damit gefordert ist, nennt Gadamer Wirkungsgeschichte, und das bedeutet zugleich, „Verstehen ist seinem Wesen nach ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang“ (H I, 305). Die Wirkungsgeschichte gilt zu Recht als „das Kernstück der Gadamerschen Hermeneutik“.13 Sie fungiert ihrem Status nach als Prinzip, von dem sich mit Jean Grondin in einer gewissen Zuspitzung sagen lässt, dass aus ihm „sich seine gesamte Hermeneutik nahezu deduzieren läßt“.14 Mit einer paradox anmutenden Formulierung könnte man sagen, dass Gadamers Prinzip der Wirkungsgeschichte eine Philosophie der Geschichte ohne Geschichtsphilosophie sei.15

Im gadamerschen Sinne meint Wirkungsgeschichte jenes Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, in dem die Vergangenheit die Gegenwart durch das Hineinspielen ihrer Überlieferung konstitutiv bestimmt. Von daher muss sich nach Gadamer das historische Bewusstsein in hermeneutischer Reflexion klar werden, dass dort, wo es darum geht, aus der „historischen Distanz eine historische Erscheinung zu verstehen […] wir immer bereits den Wirkungen der Wirkungsgeschichte“ (H I, 305) unterliegen. Wirkungsgeschichte ist also bezogen auf die die Gegenwart im Ganzen durchherrschende und sie bestimmende Geschichte. Geschichte ist qua Wirkungsgeschichte daher nichts Vergangenes und als solches Abgeschiedenes. Vielmehr ist es „die von der hermeneutischen Philosophie gegen die Verkehrung des historischen und philosophischen Bewußtseins der Neuzeit gewendete Wahrheit, daß ‚Geschichte‘ […] von sich aus da ist und so im Gegenwärtigen unberechenbar und unvorhersehbar fortwirkt“.16 Dabei hängt die „Macht der Wirkungsgeschichte nicht von ihrer Anerkennung ab. Das gerade ist die Macht der Geschichte über das endliche menschliche Bewußtsein, daß sie sich auch dort durchsetzt, wo man [wie im Positivismus des historischen Objektivismus] im Glauben an die Methode die eigene Geschichtlichkeit verleugnet“ (H I, 306). Von hier aus ergibt sich für Gadamer die Forderung, „sich dieser Wirkungsgeschichte bewußt zu werden“ (H I, 306) und d.h. als historisches Bewusstsein sich, wie er es nennt, zum wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein auszubilden. Doch auch im Vollzug des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins wird die Geschichte nicht in ihren letzten Zusammenhängen und Motiven aufgeklärt. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Geschichte ist durch das Einrücken in die Überlieferung bestimmt. Dieses Einrücken meint nicht ein ausdrückliches Anknüpfen an die Tradition. Die Überlieferung, in die wir einrücken, springt allen willentlichen Verfügungen voraus und wirkt gerade auch dort, wo sie als solche nicht bewusst ist. Wirkungsgeschichte verläuft also nicht linear und in der Oberfläche plan, sondern ist demgegenüber immer auch die Geschichte der Brüche, des Vergessenen und Entzogenen wie auch des untergründigen Verlaufes. Diese Grundverhältnisse formuliert Gadamer in der Grundeinsicht: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr“ (H I, 281).

Das Bewusstsein der Geschichte ist als wirkungsgeschichtliches Bewusstsein, wie Gadamer unterstreicht, „zunächst Bewußtsein der hermeneutischen Situation“ (HI, 307). Damit wird das Bewusstsein als wirkungsgeschichtliches von Geschichte rückgebunden an den von Heidegger her aufgewiesenen komplexen Grundverhalt der Faktizität des menschlichen Daseins. Entsprechend charakterisiert Gadamer jetzt auch ausdrücklich den Begriff der Situation dadurch, „daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist. Das gilt auch für die hermeneutische Situation, d.h. die Situation, in der wir uns gegenüber der Überlieferung befinden, die wir zu verstehen haben. Auch die Erhellung dieser Situation, d.h. die wirkungsgeschichtliche Reflexion, ist nicht vollendbar, aber diese Unvollendbarkeit ist nicht ein Mangel an Reflexion, sondern liegt im Wesen des geschichtlichen Seins, das wir sind. Geschichtlichsein heißt, nie im Sichwissen aufgehen. Alles Sichwissen erhebt sich aus geschichtlicher Vorgegebenheit“ (H I, 307).

In der so gegebenen Charakteristik der Situiertheit des Menschen klingt als ein zentrales Motiv der gadamerschen philosophischen Hermeneutik die entschiedene Abkehr von der traditionellen Subjektivitätsphilosophie an.17 Sie wird besonders anschaulich im ersten Teil von ›Wahrheit und Methode‹, in dem Gadamer seine Ontologie des Kunstwerkes auf der Basis einer Theorie des Spiels entfaltet. Sie erklärt die Wahrheit des Kunstwerkes bzw. der Kunst nicht mehr aus der Subjektivität des Künstlers oder des Rezipienten. Kunst wird vielmehr von Gadamer als ein Spielgeschehen begriffen, das gegenüber dem Bewusstsein der Spielenden (Künstler, Rezipient) einen Primat besitzt. Hier liegt die Verbindung zur „ontologischen Wendung des Geschichtsbegriffs“18, die sich in Gadamers Situationsbegriff festmachen lässt. Der Einzelne beherrscht nicht die Geschichte, sondern findet sich in sie involviert und erfährt darin die Beschränktheit seiner Handlungsfähigkeit. So gesehen wird im Begriff der Wirkungsgeschichte, ontologisch betrachtet, ein Ansatz exponiert, der an die Stelle eines Primates der Spontaneität des Subjektes das Einbezogen- und mithin dann auch Abhängigsein des Einzelnen von faktisch gegebenen Strukturen setzt.19

4. Spiel und Kunst

Um das für die hermeneutisch reflektierte Selbsterfahrung konstitutive Faktum des in die Wahrheitsspiele der Traditionsbezüge Verflochtenseins des Menschen anschaulich werden zu lassen, lässt sich in einer Entsprechung auf das bereits erwähnte Spielgeschehen zurückgreifen. Um es in seiner ontologisch kategorialen Valenz entsprechend fassen und damit zugleich abschließend Gadamers originellen Beitrag zur Subjektkritik würdigen zu können, ist es nötig, von Beginn an darauf zu achten, dass Spiel hier nicht in der Unterscheidung zu Wirklichkeit aufgefasst werden darf, in welcher Differenz der alte metaphysische Gegensatz von Sein und Schein aufleuchtet. Gadamer geht es wesentlich um den Spielcharakter, und der hat für ihn „einen eigenen Wesensbezug zum Ernsten“ (H I, 107). Diesen Wesensbezug zum Ernsten unterstreicht Gadamer mittels einer in wenigen Strichen skizzierten phänomenologischen Charakterisierung des Zweckes eines Spielgeschehens, der sich ja nur dann erfüllt, „wenn der Spielende im Spielen aufgeht“ (H I, 107f.), d.h., „nur der Ernst beim Spiel läßt das Spiel ganz Spiel sein“ (H I, 108), und wer ein Spiel nicht ernst zu nehmen vermag, wird zum Spielverderber.

Dieses Im-Spielen-Aufgehen zeichnet die phänomenologische Struktur vor, auf die es Gadamers These ankommt, nämlich den „Primat des Spieles gegenüber dem Bewußtsein des Spielenden“ (H I, 110) herauszustreichen. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass im Spiel durch dessen eigenes Fürsichsein die Dominanz der Subjektivität des beteiligten Spielers durchbrochen wird. Denn aus der Perspektive seiner eigenen subjektiven Reflexion heraus ist das Spielgeschehen als Ganzes nicht zu erfassen. „Die Seinsweise des Spieles läßt es nicht zu, daß sich der Spielende zu dem Spiel wie zu einem Gegenstande verhält“ (H I, 108). So ist es vielmehr die Ordnung des Spiels, die den am Spiel Beteiligten ihre darin bestimmten Funktionen zuweist. Die Teilnehmer sind innerhalb der Strukturordnung des Spieles selbst Elemente des Spiels und als solche völlig durch es bestimmt. Wie gerade das Beispiel des Spielverderbers zeigt, sind die Teilnehmer als Elemente für die Spielordnung konstitutiv, da das Spiel in nichts anderem als in ihren Spielhandlungen sich bildet, und dies so, dass die das Spiel konstituierenden Spielhandlungen bereits im Ansatz so in die Ordnung des Spiels einbezogen sind, dass sie in ihrem strukturellen Charakter als Handlungen durch und innerhalb der Spielordnung determiniert erscheinen. So ist es – und Gadamer bezeichnet dies als den „allgemeine[n] Zug […], wie sich das Wesen des Spieles im spielenden Verhalten reflektiert“ (H I, 112) – ein gleichsam phänomenales Urfaktum, dass „Spielen […] ein Gespieltwerden“ (H I, 112) ist. Gadamer spitzt das zu, indem er die Faszination des Spiels darin auszeichnet, dass „das Spiel über den Spielenden Herr wird“ (H I, 112), so dass das „eigentliche Subjekt des Spieles […] nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst“ (H I, 112) ist.

Das Entscheidende ist für Gadamer, dass das Spiel eine seine Teilnehmer übertreffende Wirklichkeit darbietet. So gesehen begreift Gadamer, zusammenfassend gesagt, die Spielbewegung als „gleichsam ohne Substrat. Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt – es ist kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt“ (H I, 109). So gesehen ist die „Seinsweise des Spieles […] also nicht von der Art, daß ein Subjekt da sein muß, das sich spielend verhält, so daß das Spiel gespielt wird. Vielmehr ist der ursprünglichste Sinn von Spielen der mediale Sinn“ (H I, 109). Nach Gadamer folgt aus dieser sprachlichen Beobachtung, dass für die Sprache „das eigentliche Subjekt des Spieles offenbar nicht die Subjektivität dessen [ist], der unter anderen Betätigungen auch spielt, sondern das Spiel selbst“(H I, 109 f.).

Damit hat Gadamer in seiner Reflexion über den Charakter des Spiels nun den Punkt erreicht, an dem sich in der rein phänomenalen Bestimmtheit des Spielgeschehens die Gegenwendung zum traditionell subjektivistischen Standpunkt erweist. Das Subjekt ist seiner Stellung im Fokus der Zentralperspektive verlustig gegangen. Das heißt: Dem neuzeitlichen Prozess der Subjektivierung des Erkenntnis- wie Wahrheitsanspruches widerspricht und gebietet Einhalt die im Spiel sich ereignende ontologische Depotenzierung des Herrschaftsanspruches der Subjektivität. Denn nunmehr bestimmt sich die Wirklichkeit des Subjekts als Einbezogensein in eine Geschehensstruktur, die im scheinbar trivialen Spielbegriff jene prozessualen Strukturen wie hermeneutischen Funktionszusammenhänge sichtbar werden lassen, die in der hermeneutischen Erfahrung als Konstituenten des Wahrheitsgeschehens und des Eingerücktseins in die Überlieferungszusammenhänge aufgewiesen wurden. Und eben diese hermeneutische Verschränkung ist es auch, die für Gadamer dann auch das Spiel zum Leitfaden der ontologischen Explikation der hermeneutischen Erfahrung der Kunst macht.

Kurzbibliografie

Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1986 (Sigel H I).

Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen 1986 (Sigel H II).

Ästhetik und Poetik I und II, Gesammelte Werke, Bde.8 u. 9, Tübingen 1993.

Die Lektion des Jahrhunderts. Ein philosophischer Dialog mit Riccardo Dottori, Münster 2001.

Philosophische Lehrjahre, Frankfurt a. M. 1977.

Philosophen der Gegenwart

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