Читать книгу Interreligiöse Toleranz - Группа авторов - Страница 27

Hl. Schrift und Tradition

Оглавление

Fragt man nach friedensstiftenden Ansätzen der christlichen Religion, richtet sich der Blick zunächst unweigerlich auf Jesus von Nazareth. An seiner Person wird deutlich, wie die Spirale von Rache und Gewalt durchbrochen werden kann. Nicht indem Gewalt mit Gegengewalt beantwortet wird, sondern indem der Weg der Deeskalation und des Verständnisses beschritten wird, wie Jesus ihn vor allem mit dem Gebot der Nächstenliebe und sogar Feindesliebe (Mt 5,43–48) aufgewiesen hat. Zudem wird angesichts des Kreuzestodes Jesu deutlich, dass Gott inmitten der Geschichte des Todes, des Hasses und der Gewalt bei den Opfern präsent ist, er den Menschen aus seiner Schuld erlöst und zum wahren Menschsein befreit, zum aufrechten Gang und zum Handeln nach dem Vorbild göttlicher Liebe befähigt. So erfährt die Nächstenliebe bis zum Extrem der Feindesliebe ihre tiefste Begründung.

Während der Apostel Paulus vor dem Hintergrund seiner eigenen jüdischen Biographie das Verhältnis von Christentum und Judentum thematisiert (Röm 9–11) und im Gegenüber von Gesetz und Evangelium die christliche Freiheit (Gal 4,21–31) sowie die Bedeutung des Gewissens (Röm 2, 14–15) betont, gelangen manche frühchristlichen Apologeten zu noch weiter reichenden Gedanken im Sinne einer interreligiösen Toleranz. So prägte beispielsweise Justin der Märtyrer (gest. um 165) das Bild von den Samenkörnern des Logos, die bei den Heiden ausgestreut seien.3 Das erlaubte ihm, die christliche Wahrheit keimhaft in jedem Menschen, nämlich in seiner Vernunft, sowie in der griechischen Philosophie angelegt zu sehen.4 Wenn die Christen darum diesen Logos verkündeten, sprächen sie etwas an, was die Wahrheitsfähigkeit jedes Einzelnen ausmache. Mehr noch: Wer sein Leben mit Hilfe von Vernunftgebrauch gestalte, könne quasi als anonymer Christ gelten.

Justin formulierte aus der Lage einer religiösen Minderheit heraus einen Anspruch, den eigentlich nur eine intellektuell mehrheitsfähige Gruppe stellen kann. Er geht programmatisch den Weg selbstbewusster und vor allem offen geführter Auseinandersetzung, anstatt sich ins Abseits abdrängen zu lassen. Die Konsequenz ist ein hohes Maß an religiöser Toleranzbereitschaft. Sie spiegelt sich auch bei dem lateinischen Kirchenschriftsteller Tertullian (um 160–220) wider. Dieser maß – dem Apostel Paulus folgend (Röm 1,19– 21) – dem Menschen die Fähigkeit bei, in der Welt Gott „als das höchste Große, von Ewigkeit her bestehend, ungeboren, ungeschaffen, ohne Anfang, ohne Ende“5 erkennen zu können. So prägte er das bekannte Wort vom „testimonium animae naturaliter christianae“.6 Demnach sind alle Menschen von Natur aus auf Gott hingeordnet, zur Gotteserkenntnis fähig und damit für die christliche Botschaft ansprechbar. Mehr noch: Aufgrund dieser natürlichen Gotteserkenntnis sprach er sich zudem für die Religionsfreiheit – er prägte den Begriff „libertas religionis“7 – aus: „Es ist ein Menschenrecht und natürliche Vollmacht für jeden Einzelnen, zu verehren, was er meint. […] Es liegt nicht in der Natur der Religion, die Religion aufzuzwingen“.8

Die religiöse Toleranzbereitschaft, wie sie bei den frühchristlichen Apologeten zum Ausdruck kommt, schwächte sich im Laufe der Geschichte zunehmend ab, nicht zuletzt infolge des Toleranzedikts (311), der sogenannten Konstantinischen Wende und der späteren Aufwertung des Christentums zur exklusiven Staatsreligion. Nun verschoben sich die Mehrheitsverhältnisse im Abendland für Jahrhunderte. Der Toleranzgedanke trat in den Hintergrund, ohne jedoch gänzlich vergessen zu werden. In der Theologiegeschichte findet sich fortan eine eigenartige Ambivalenz zwischen der Ablehnung von Glaubenszwang und der Befürwortung von aggressiver Intoleranz gegenüber kirchlichen Abweichlern und Andersglaubenden, zumal sich beides, Geduld (Mt 13,24–30 parr; 1 Kor 3,7) bzw. Freiheit (Gal 4,1–5,13) und Zwangsmaßnahmen (Lev 24,1–16; Dtn 13,6–16; 17,2–16; 13,2–6; Lk 14,23), biblisch begründen ließ. Nach Thomas von Aquin beispielsweise ist die Annahme des Glaubens Sache des Willens, während das Festhalten am Glauben so notwendig ist, dass auch gegenüber Abtrünnigen und Häretikern Zwangsmittel legitim sind.9 Eine rühmliche Ausnahme bildet Nikolaus von Kues (1401–1464), der gegen den religiösen Fanatismus und Religionenantagonismus seine Idee der Toleranz und der Verständigung setzte, basierend auf der allen Religionen zugrunde liegenden Gemeinsamkeit.

Die Forderung nach Toleranz setzte sich im christlichen Abendland ab der Mitte des 16. Jahrhunderts umso entschiedener durch, als sich infolge der Kirchenspaltung eine kirchlich-religiöse Pluralität herauskristallisierte. Weil diese nicht zu beseitigen war, musste man nach einer pragmatischen Möglichkeit suchen, friedlich mit ihr auszukommen. Zur politischen und rechtlichen Anwendung kam eine pragmatisch gefasste Toleranz erstmals beim Augsburger Religionsfrieden (1555), dem Edikt von Nantes (1598) und nach dreißig Jahren Krieg beim Westfälischen Frieden (1648). Doch die Duldung verschiedener Konfessionen oder religiöser Weltanschauungen war lediglich eine pragmatische Art der Toleranz, die allein durch die Autorität gewährt wurde.

Im Zuge der europäischen Aufklärung entwickelte sich der Toleranzbegriff weiter fort. Weil das Christentum aufgrund von Spaltung und kontroverstheologischen Streitigkeiten nicht mehr als gesellschaftliche Einheitsgrundlage dienen konnte, musste für das friedliche Zusammenleben eine neue, allgemeinverbindliche Basis gesucht werden. Die neue Einheit wurde nun nicht mehr theonom, sondern autonom begründet, nämlich mittels der Vernunft. Sie diente fortan dank ihrer universalen Verbindlichkeit als Organ gemeinsamer Rechtsbildung. Ausgehend von der Autonomie des Menschen und seiner Vernunft wurde die Forderung nach gegenseitiger Toleranz grundgelegt, wobei „[i]m 18. Jh. […] die Begriffe Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und Toleranz immer näher zusammen [rücken], so daß sie schließlich wechselseitig füreinander stehen können.“10 Beim Versuch, das Toleranzprinzip rational zu begründen, wurde Kants Verweis auf die Autonomie des Willens und der Vernunft des Menschen prägend: Jeder menschlichen Person gebühre Respekt, denn kraft der Selbstgesetzgebung der Vernunft sei jede menschliche Person ein Zweck an sich; sie besitze Würde und dürfe nicht instrumentalisiert werden. Toleranz bedeutet mehr als bloße Duldung des Anderen: Sie besagt Anerkennung des Anderen, Respekt und Achtung seiner Person aufgrund der ihm zukommenden Würde. So wird in der Moderne die Toleranz allgemein mit der Gleichwertigkeit aller Menschen begründet.

Toleranz wird zu einer bürgerlichen Grundhaltung, die auf Gleichberechtigung und gegenseitigem Gewissensrespekt beruht und das nicht nur im individuellen Bereich, sondern ebenso im religiösen wie politischen. Weil im Zuge der Toleranz die religiösen Differenzen zivilisiert und nicht einfach harmonisiert bzw. nivelliert werden, wird die religiöse Überzeugung Anderer respektiert, ohne die eigene preiszugeben. Eigene Wahrheits- und Absolutheitsansprüche bleiben aufrechterhalten, ohne sie aber politisch oder rechtlich um jeden Preis durchsetzen zu wollen. Dem Anderen wird trotz seiner differierenden Weltanschauung, Identität und Lebenspraxis eine Existenzberechtigung zuerkannt. Interreligiöse Toleranz respektiert das Gegenüber mit der Andersartigkeit seiner religiösen Auffassungen und sucht den ernsthaften, von prinzipieller Anerkennung getragenen Dialog. Sie versucht den Wertekonflikt positiv zu lösen, indem sie sich bemüht, durch einen Perspektivenwechsel den anderen und damit verbunden sich selbst besser zu verstehen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die Religionsfreiheit endlich als grundlegendes Freiheitsrecht, das über die Toleranz hinausreicht und „den Kern der Menschenrechte“11 bildet, zum Bestandteil vieler demokratischer Verfassungsstaaten.

Interreligiöse Toleranz

Подняться наверх