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2. Europa als geographische Größe

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Als geographisch-politische Größe gerät Europa erst in den Spätschriften der Bibel, im Neuen Testament, in den Blick: Paulus und seine Reisebegleiter werden in der Apostelgeschichte von einem Mazedonier, der ihnen nachts erscheint, von Troas auf das griechische Festland herübergewinkt, und in Philippi treffen sie auf eine jüdische Gebetsstätte (Apg 16,6–15). Dort wird mit Lydia eine Purpurhändlerin die erste europäische Christin. Dies entspricht heutiger politischer Perspektive, die zudem hinsichtlich der Ostgrenze der Europäischen Union auch noch umstritten ist. Die Missionare um Paulus sind von der römischen Provinz Asia in die Provinz Mazedonien übergesetzt; ob sie selbst dies zusätzlich zu den geographischen Grenzen als Überschreiten in ein neues kulturell-religiöses Gebilde erfahren haben, ist nicht sicher. Auf beiden Seiten der Ägäis wurde griechisch gesprochen.

Nach der biblischen Geographie ist Europa das Siedlungsgebiet des Noah-Sohnes Japhet und seiner Nachkommen. So sieht es die Völkertafel in Genesis 10: Dem Noah-Sohn Sem und seinen Nachkommen sind Mesopotamien und Arabien zugeteilt, Ham hingegen Ägypten mit den angrenzenden Gebieten. Am westlichen Taurusgebirge, im heutigen Südwesten der Türkei, treffen die Gebiete des Noah-Sohnes Sem und seiner Nachkommen, der Semiten, und das Gebiet Japhets aufeinander. Tarsus am Fuße des Taurus, Paulus Herkunftsstadt, war also bereits das Gebiet Japhets; kein Wunder, dass er Japhet am Ende seines Lebens auch bis an seine Grenzen, nämlich bis nach Spanien bereisen wollte.

Es scheint aber, dass die paulinische Mission am Anfang einem biblischen Plan folgt. Im Buch Genesis heißt es über die Noah-Söhne (Gen 9,27): „Weiten Raum schaffe Gott für Japhet und er wohne in dem Haus Sems, Ham aber soll sein Knecht sein.“ Japhet, Griechenland und Europa, sind also Sem verbunden. Dieser Segen wurde schon im antiken Judentum missionarisch verstanden: Japhet – das griechisch-lateinische Europa – soll in den Lehrhäusern Sems sitzen.

In christlicher Deutung finden wir dies bei Irenäus im 2. Jahrhundert wieder: „Der Segen Jafets aber ist dieser: ‚Weiten Raum schaffe Gott für Jafet, und er wohne in dem Hause Sems, Ham aber soll sein Knecht sein‘ (Gen 9,27); und das soll bedeuten, dass am Ende der Zeiten Gott den Ausersehenen des Herrn aus der Berufung der Heiden eine Blütezeit erstehen lassen hat, indem er ihnen die Berufung erweitert hat. Und weiter: ‚Über die ganze Erde ist ihre Rede ausgegangen, bis an die Grenzen der Welt ihre Worte‘ (Ps 19,5)! ‚Weiten Raum schaffen‘ ist nun von der Berufung aus den Heiden zu verstehen, das heißt von der Kirche; und ‚er wohne im Hause Sems‘ soll heißen (er soll wohnen) in dem Erbe der Väter, in Christus Jesus die Erstgeburtsrecht empfangend“.4

Es spricht einiges dafür, dass die Zeilen des Irenäus hier auch die Missionsstrategie des Paulus wiedergeben. Denn Paulus plant im Römerbrief seine Mission bis an die westlichen Grenzen des Gebiets Japhets, d.h. bis nach Spanien, auszudehnen. Die afrikanische Seite des Mittelmeeres von Ägypten bis nach Mauretanien liegt dagegen offenbar nicht in Paulus Aufmerksamkeit. Dies ist eine auffällige Beschränkung, zumal ja schon in der ersten Generation Christen aus den afrikanischen Mittelmeerländern kamen. Sie mag ihren Grund in dem Segensspruch der Söhne Noahs aus dem Buch Genesis haben, der Ham dem Sem nur als Knecht zuordnet.

Auf jeden Fall erscheint in der Mission des Paulus – also in den Spätschichten der Bibel – zum ersten Mal das Gebiet, das sich heute geopolitisch und kulturell als Europa versteht. Es erscheint als eine Größe, die ihre Kultur und Bildung aber nicht aus Herkunftsorten innerhalb ihrer eigenen Grenzen verdankt, sondern weit im Osten. „Licht vom Osten“ lautet der Titel des 1908 erschienenen Hauptwerkes des Ökumenikers und Papyrologen Adolf Deissmann.5 Der Titel beschreibt programmatisch Europas Perspektive auf seine biblischen Wurzeln.

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