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IV. Eine vielsagende Fehlanzeige: (keine) Fortschreibung evangelischer Lehre? – Wird die norma normata dauerhaft überhöht?

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Die Situation des Luthertums wie des Protestantismus überhaupt ist seit langem davon geprägt, dass ehemals einheitliche Interpretationsgemeinschaften (der Heiligen Schrift) zerfallen, so dass mittlerweile eine Vielzahl unterschiedlicher Kirchen, Denominationen und Gruppierungen besteht, die auf die Reformation zurückzuführen sind.26

Die evangelischen Landeskirchen versuchen ihre Geschlossenheit dadurch aufrecht zu erhalten, dass Pfarrerinnen und Pfarrer im Rahmen der Ordination auf die jeweils geltenden Bekenntnisse verpflichtet werden. – Dadurch ist eine immer prekärer wirkende Situation entstanden: Junge Menschen des 21. Jahrhunderts, die in einem wissenschaftlichen Studium zu verantwortlichen Interpreten der Bibel ausgebildet wurden, verpflichten sich auf die Aussagen von Texten, die einen Konsens aus dem 16. Jahrhundert formulieren. Dass die Voraussetzungen und das methodische Instrumentarium der Auslegung der Heiligen Schrift in den vergangenen Jahrhunderten gleich mehrere Zeitenwenden hinter sich gebracht haben, kann auf diese Weise naturgemäß keine Berücksichtigung finden …

Es fehlt in der Theologie nicht an Stimmen, die anmahnen, dass den in einer Kirche geltenden Bekenntnissen nicht dauerhaft eine hermeneutische Leitfunktion für die Auslegung der Heiligen Schrift zukommen darf – im Gegenteil: Wie oben ausgeführt, legten die Verfasser der Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts großen Wert darauf, dass die entsprechenden Texte als norma normata der Heiligen Schrift als norma normans unterzuordnen und gegebenenfalls anzupassen sind. – Wolfhart Pannenberg bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck:

„Nichts spricht für die Annahme, dass die Väter der Konkordienformel deren zwölf Artikel für den geschichtlich letzten Fall einer solchen anwendenden Interpretation des lutherischen Grundbekenntnisses [d.h. der CA] auf der Ebene kirchlichen Lehrkonsenses gehalten hätten. […] Von daher gesehen muss es als ein Mangel erscheinen, dass es in der weiteren Geschichte der lutherischen Kirchen nicht zu einer Fortschreibung solcher kirchlichen Konsensbildung und also gesamtkirchlicher Lehre gekommen ist. Die lutherischen Kirchen haben offenbar nicht mehr die Kraft für den dazu nötigen Konsens gefunden, obwohl es Herausforderungen und Anlässe genug für eine solche Fortschreibung des kirchlichen Lehrkonsenses über das Bekenntnis der Kirche gegeben hätte. Die Folge des Ausfalls einer solchen Lehrfortschreibung ist die Historisierung des lutherischen Bekenntnisses gewesen, so als ob das 16. Jahrhundert als eine einmalige Heilszeit der Bekenntnisbindung von allen folgenden Zeitaltern der Kirche abgehoben wäre. Das ist zwar lutherische Bekenntnisromantik, aber eine Auffassung, die in den Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts selbst keine Grundlage hat.“27

Ähnlich argumentiert der Systematiker Ulrich Kühn, indem er sich auf eine Aussage in der Präambel der Grundordnung der EKD28 bezieht: „Das ist überraschend. Die Schrift soll nach der Maßgabe des Bekenntnisses ausgelegt werden: Ist das nicht eine Domestizierung der Schrift durch die kirchliche Tradition?“ – Es stelle sich demgegenüber die Frage, „ob die Kirche nicht […] die Pflicht hat, ihre Orientierung an der Heiligen Schrift auch kritisch gegenüber ihrer Bekenntnisbindung zur Geltung zu bringen.“29 Kühn berührt einen wunden Punkt, wenn er die These vertritt,

„dass eine Bindung an das lutherische Bekenntnis, die lediglich die Fragestellungen und Antworten des 16. Jahrhunderts konserviert und repetiert, unzureichend ist und sogar in die Irre führen kann, weil sie den lebendigen Prozess, der zu neuem Bekennen und zu neuer Lehre führt, nicht zu integrieren vermag. Es gibt so etwas wie eine (tötende) Bekenntnisscholastik. Gerade die lutherische Lehre von der Rechtfertigung bedarf einer weiterführenden Interpretation im Lichte der Heiligen Schrift, des ökumenischen Dialogs und der gegenwärtigen Glaubens- und Lebenserfahrung. […]. Es handelt sich hier um eine strukturelle Schwäche der lutherischen Kirchen, die mit ihrem Bekenntnisstand zusammenhängt: Sie sind bekenntnismäßig auf Aussagen des 16. Jahrhunderts festgelegt […].“30

An anderer Stelle geht Ulrich Kühn noch einen Schritt weiter, wenn er bezüglich der Situation in der evangelisch-lutherischen Kirche Sachsens feststellt:

„Gewiss wird die Notwendigkeit einer Hermeneutik des Bekenntnisses […] nirgends bestritten. Jedoch ist eine Weiterführung des Bekenntnisstandes und -inhaltes in dem Sinne, dass die Kirche auch heute verbindliche Lehraussagen trifft, im Grunde in unserer Kirche nicht vorgesehen, ja – in Sachsen – durch eine Verfassungsbestimmung ausdrücklich untersagt. Hier sehen wir die doppelte Gefahr einer Festschreibung kirchlich-verbindlicher Lehre auf dem Erkenntnisstand des 16. Jahrhunderts einerseits und einer praktischen Unverbindlichkeit des Bekenntnisses (wegen seiner zu schwer erkennbaren gegenwärtigen Relevanz) andererseits.“31

Mit Verweis auf die Barmer Theologische Erklärung (1934), die Leuenberger Konkordie (1973) sowie etliche Stellungnahmen kirchlicher Leitungsorgane zu Ergebnissen des ökumenischen Dialogs, die als „lehrmäßige Aktualisierung“ reformatorischer Grundentscheidungen verstanden werden können, heißt es in dem EKD-Text Vom Gebrauch der Bekenntnisse aus dem Jahr 1995:

„Die Notwendigkeit kirchlicher Lehrverantwortung kann naturgemäß nicht auf die Zeit des 16. Jahrhunderts beschränkt sein. Denn die Aufgabe kirchlicher Verkündigung steht ständig vor neuen Herausforderungen und Gefährdungen. […] Wenn es zu solchem vielfältigen ‚Fortschreiben‘ geltender Lehre in der Kirche (im Sinne immer neu notwendiger Orientierung der Verkündigung) nicht käme, würden die in der Reformation getroffenen Lehrentscheidungen und -orientierungen in die Gefahr geraten, zum toten Buchstaben zu verkommen.“32

Kanon und Auslegungsgemeinschaft

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