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Kapitel 2

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Vier Tage zuvor. Ägypten, Jabal ar Rukbah Gebirge

Henri Lafettes Magen rebellierte. Lange würde er diese Fahrt nicht mehr durchhalten können. In seinem Mund bildete sich Kinnwasser. Er würde sich gleich übergeben. Er kannte diesen Zustand nur zu gut. Er kannte ihn aus den Zeiten, wo der Alkohol sein liebster Freund gewesen war. Ein Freund, der ihn vergessen ließ, der ihm sein Wohlbefinden in beschissenen Situationen zurückbrachte. Der von einer Sekunde zur anderen auch zu seinem Feind werden konnte. Er, der verlangte, in den zerrütteten Körper geschüttet zu werden, um mit seiner Essenz das Vergessen zu beschleunigen, hatte oft auf sein Recht gepocht, den Körper auf gleichem Wege wieder zu verlassen, so, als habe er mit seiner Umhüllung nur gespielt.

Heute war es nicht der Alkohol. Es war schon lange nicht mehr der Alkohol, der ihn an den Rand seiner selbst trieb. Nein, darüber war er hinweg. Er hatte es geschafft. Alleine. Trotz seiner Einsamkeit. Ohne Freunde, ohne eine Frau, die ihm beigestanden hätte. Alleine eben. Konsequent, diszipliniert. Aus Angst vor dem Tod, der allgegenwärtig war und ihm Tag für Tag die volle Flasche gereicht hatte. Morgens, mittags und abends.

Henri Lafette sah die Flasche förmlich vor sich und sein Magen schien sich vom bloßen Anblick umzudrehen. Seine Hand klammerte sich an den metallenen Haltegriff über der Beifahrertür, denn seine Füße berührten kaum noch den Boden des Land Rovers, der, bedingt durch die tiefen Unebenheiten der trockenen und steinigen Wüstenlandschaft, mit seiner Federung auf eine harte Probe gestellt wurde.

Lafette wollte seinem Fahrer etwas zuschreien, wollte ihn auffordern, anzuhalten, doch er bekam kein Wort heraus. Sein Mageninhalt schnürte ihm die Kehle zu. Verzweifelt schlug er mit der linken Hand in Richtung des Fahrzeuglenkers, mehrfach und hektisch, die rechte Hand vor den Mund pressend.

Dann wurde er nach vorne geschleudert. Der Sicherheitsgurt fing ihn auf und presste ihm gegen Brust und Magen. Mit der rechten Hand stieß er die Tür des ausrollenden Wagens auf und übergab sich, in dem noch befestigten Gurt hängend, in die Steinwüste mitten im bergreichen Gebiet zwischen Kairo und der israelischen Grenze.

Hustend und laut fluchend, sich mit dem Rücken der rechten Hand über den Mund wischend, entledigte sich Lafette des Sicherheitsgurtes und stieg aus dem Fahrzeug, wo er mit dem Fuß auf dem steinigen Boden ausrutschte und sich gerade noch mit den Handflächen abstützen konnte, um nicht der Länge nach hinzuschlagen.

„Merde! J'en suis las! Wie ich diese Wüste hasse!“

Lafette schlug sich mit der flachen Hand den Staub aus der Hose, breitete seine Arme aus und drehte sich wie suchend im Kreise.

„George, wo bleiben Sie?“, rief er, während seine Blicke die öde Landschaft streiften. „Leisten Sie mir Gesellschaft beim Betrachten dieses unendlichen Nichts!“

Lafette sah hinüber zu seinem Fahrer, der keine Anstalten machte, der sarkastischen Aufforderung nachzukommen und aus dem Landrover auszusteigen.

„Wir müssen weiter! Wir müssen unser Ziel erreichen, bevor es dunkel wird. Die Nacht wird unangenehm kühl werden“, rief ihm der Fahrer zu, den Lafette George genannt hatte und trat zur Bekräftigung seiner Aufforderung das Gaspedal mehrfach durch.

George hat Recht, dachte Lafette. Er hat immer Recht. Gott sei Dank ist es so. Einer muss immer einen klaren Kopf bewahren, hier draußen, in der Wildnis, in einem Umfeld, in dem auch schon mal eine Gefahr lauern kann.

Lafette nickte und ging langsam zurück zum Landrover. Doch er vermied es vorerst einzusteigen. Er hob sein linkes Bein an und stellte den Fuß auf den Einstieg der Beifahrerseite. Es bereitete ihm keine Mühe, denn Lafette war groß. Ein Meter neunzig, kräftig, braungebrannt mit tiefschwarzem, leicht gewellten und nach hinten gekämmtem Haar, in diesem Land eher ein auffälliger Typ.

Er lächelte zu George hinüber und zeigte dabei ein Paar blendend weiße Zähne. Sein Magen schien sich wieder erholt zu haben, Lafette verschwendete keinen Gedanken mehr daran.

„Wie lange noch?“, fragte er sein Gegenüber.

„Na ja, an die zwei Stunden werden es noch sein“, erwiderte der. „Aber das wissen Sie doch selbst. Kommen Sie! Steigen Sie ein! Der Professor erwartet uns.“

George Dumont legte den ersten Gang ein und sah spitzbübisch zu Lafette. Er war ein krasser Gegensatz zu ihm, körperlich, aber auch von der Mentalität her. Er liebte das Leben und er liebte es überall. Diese steinige Wüste konnte ihm nichts anhaben, solange sie ihn in Ruhe ließ.

Er war Single, war noch nie verheiratet und begründete seine Ausgewogenheit mit dieser Tatsache. Bei ihm schien es tatsächlich zuzutreffen. Sein Leben spielte sich außerhalb dessen ab, was andere ihre Heimat, ihren Wohnsitz, ihr Zuhause nannten. Dumont war überall zu Hause und eines wusste er: Wenn seine Zeit gekommen war, in rund fünfzehn Jahren, dann würde er sechzig sein, würde er sich irgendwo auf der Erde an einem paradiesischen Plätzchen niederlassen und sein Lebensende genießen. Doch bis dahin wollte er nicht allzu viele Gedanken daran verschwenden. Das sei hinderlich in dem Leben, das er führte, betonte er stets, wenn Gespräche in diese Richtung gelenkt wurden.

Er sah Lafette von der Seite her prüfend an. Der würde noch weitere zehn Jahre brauchen, bis er die Brocken hinwerfen könnte und ihm würde es schwerer fallen als ihm, durchzuhalten. Vielleicht ist es das Leben, das er geführt hatte, dachte Dumont. Das Leben in Paris, der Stadt, aus der Lafette stammt, die ihn geprägt hat, in Gutem wie in Schlechtem.

Er selbst war Provinzler. Kam aus einem kleinen Ort bei Lyon. Obwohl Lyon eine große Stadt ist, bleibt sie dennoch Provinz, sagte Lafette immer, wenn er ihn ärgern wollte. Wie die Pariser so sind. Alles, was nicht Paris ist, ist eben Provinz. Man muss nur überzeugt davon sein. Die Pariser sind es. Mais oui!

Lafette ließ sich auf den von der Sonnenglut aufgeheizten Sitz fallen und schlug die Beifahrertür zu.

„Also los! Bringen wir es hinter uns!“, rief er. „Auf in den Schlund der Wüste!“

Eine Stunde später erreichten sie die Road Al Hosna Al Arish, der sie in östlicher Richtung folgten, verließen sie aber nach einer weiteren halben Stunde wieder und strebten in holpriger Fahrt den Schluchten südlich des Jabal ar Rukbah Gebirges zu, eine Abkürzung zu ihrem eigentlichen Ziel, dem Ausgrabungszentrum am Ende der kleinen Gebirgskette.

Die Temperatur begann langsam zu sinken und ein angenehmer frischer Fahrtwind wehte durch die offenen Fenster des Geländewagens, umspülte das Gesicht der beiden Insassen und kühlte die Oberkörper unter den durchschwitzten Hemden.

Lafette und Dumont hatten während der letzten Stunde kaum miteinander gesprochen. Lafette kämpfte mit der Übelkeit und Dumont konzentrierte sich auf den Weg, der nun endlich zunehmend ebener und damit befahrbarer wurde.

Die freie endlose Steinwüste verwandelte sich langsam in ein hügeliges Land und mündete schließlich in ein Gebirge, das den Weg zu verschlucken schien. Gleichzeitig brach die Dämmerung herein und Dumont schaltete die Fahrzeugbeleuchtung ein.

Dann hörten sie Motorenlärm hinter sich. Und Schüsse. Kurz darauf folgte ein Einschlag im Fahrzeugheck.

„Dieses Pack!“, schrie George Dumont, trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und sah zu seiner Genugtuung, wie das verfolgende Fahrzeug, ein Geländewagen, das konnte er gerade noch erkennen, in einem Schwaden aus feinstem rotem Staub verschwand.

„Von Reisen in entlegene Wüstenregionen wird dringend abgeraten“, schrie Lafette zurück und umfasste krampfhaft den Haltegriff oberhalb des Türrahmens. „Wir hätten uns daran halten sollen! Wer sind diese Leute? Können Sie sie abhängen?“

„Ich gebe mein Bestes! Es sind Banditen, Terroristen, Wegelagerer, wer weiß das schon so genau!“, schrie Dumont zurück. „Wir sind bald da! Sie werden es nicht wagen, in das Lager einzudringen!“

Im Rückspiegel sah Dumont plötzlich das verfolgende Fahrzeug wir durch einen Schleier näherkommen. Der Fahrer schien die Gegend zu kennen, denn er gab seinem Wagen die Sporen, ohne sich von den dichten Staubwolken einschüchtern zu lassen.

„Sie holen auf!“, schrie Dumont. „Halten Sie sich fest! Ich versuche sie abzudrängen. Sie werden nicht damit rechnen!“

Mit einem kräftigen Tritt stieg Dumont in die Bremsen und sah das andere Fahrzeug auf seiner Seite seitlich auf sie zuschießen. Sofort beschleunigte er den Rover wieder und riss das Lenkrad mit einem starken Ruck nach links herum.

Es krachte, als die beiden Wagen aufeinanderprallten. Lafette klammerte sich verzweifelt mit der rechten Hand am Rahmen des offenen Fensters und der linken am Unterteil seines Sitzes fest. Sein Magen begann erneut zu rebellieren

Mit den linken Türholmen seines Rovers erwischte Dumont das gegnerische Fahrzeug im Bereich der rechten vorderen Stoßstange und hielt mit aller Kraft so lange dagegen, bis sich der andere Geländewagen um seine eigene Achse drehte und von einer riesigen Staubwolke umhüllt wurde. Im Rückspiegel sah Dumont, wie der Wagen nach rechts auf die Beifahrerseite kippte, bevor er endgültig in der riesigen Staubwolke verschwand.

„Ja!“, schrie Dumont triumphierend. „Ja! Es hat funktioniert. Wow! Haben Sie das gesehen, mon ami? Ich habe ihn ausgeschaltet!“

„Ich habe es gesehen“, stöhnte Lafette und als Dumont zu ihm hinüberschaute und sein bleiches Gesicht sah, überkam ihn ein wenig Mitleid.

„Halten Sie noch etwas durch. Zehn Minuten etwa. Dann sind wir da. Wenn es sein muss, nehmen sie sich eine Plastiktüte vom Rücksitz. Müssten noch einige vom letzten Einkauf dort liegen.“

„Wer waren diese Leute? Was wollten sie von uns?“, rief Lafette in das Aufheulen der beschleunigten Gänge.“

„Mit Überfällen dieser Art muss man hier ständig rechnen“, erwiderte Dumont. „Das ist bereits der zweite, der mir in den vergangenen acht Monaten widerfahren ist.“

„Also sind das Wegelagerer? Räuber?“

„Und Halsabschneider. Oder Terroristen. Falls man hier Unterschiede macht. Anschläge in diesem Gebiet sind keine Seltenheit.“

Dumont lachte. Es klang irgendwie erleichtert. „Wie beschrieben Sie es gerade eben so treffend: „Von Reisen in entlegene Wüstenregionen wird dringend abgeraten!“

Es dauerte noch eine knappe halbe Stunde, bis Dumont und Lafette im Lager eintrafen. Man hatte mehrere weiße Zelte in einer kleinen Schlucht aufgebaut, an dessen Ende eine Steilwand wie in einer Einbahnstraße einen Zugang von dieser Seite her verhinderte. So schützte man sich vor eventuellen Überraschungsangriffen der Wegelagerer und Diebe.

Nur vereinzelt waren Einheimische zu sehen, die mit irgendwelchen Dingen durch den aufgewehten roten Sand durch einen Spalt zwischen den Felsen verschwanden. Lafette schaute ihnen nach. Wahrscheinlich lag dort unten der Bereich der Ausgrabungen.

„Hier also graben Sie seit einem halben Jahr?“, fragte er, als er, vor dem Rover stehend die Arme in die Höhe reckte und seinen Körper nach allen Seiten dehnte.

Er ließ seinen Blick über die kleine Zeltstadt streifen und fragte: „Und hier erhoffen Sie sich wertvolle Funde?“ Zweifelnd und stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. „Ich sehe nur Sand. Roten Sand, Felsen und Steine.“

„Wir werden hier etwas finden. Mit Ihrer Hilfe. Sie werden schon sehen!“

Die Stimme ertönte hinter den beiden und Lafette drehte sich erstaunt um. Vor ihm stand ein gütig dreinschauender vollbärtiger Herr, den Lafette um die Siebzig schätzte, gekleidet, wie man sich eben hier in der Wüste kleidete: Khaki unten, Khaki oben und zum Abschluss einen khakifarbenen Stoff-Hut. An den Füßen trug er schwarze enganliegende Stiefel.

Sie erinnerten Lafette an Gamaschen, wie das Militär sie früher getragen hatte. Das deutsche Militär, glaubte er sich zu erinnern. Oder die Polizei? Er kam nicht zu weiteren Überlegungen.

„Darf ich vorstellen?“ George Dumont trat vor und zeigte auf seinen Mitfahrer.

„Henri Lafette, Diplom-Archäologe und unser zukünftiger Mitarbeiter. Professor Benjamin Rosenbaum, unser gemeinsamer Chef.“

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, junger Mann“, sprach der Professor drauflos und der weiße Schnäuzer, der sich von dem übrigen rotbraunen Bart-Wirrwarr in seinem braungebrannten, von der Sonne gegerbten Gesicht absetzte, hüpfte auf der leicht wulstigen Oberlippe.

Lafette sah die Narbe, die von dem Backenknochen der linken Gesichtshälfte des Professors bis unter dessen Haaransatz verlief. Er tippte auf einen Autounfall. Dann fiel ihm die wilde Horde ein, die ihn und Dumont verfolgt hatten. Vielleicht ein Überfall? Kein Wunder in dieser Gegend.

Rosenbaums Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen.

„Ich habe Sie schon erwartet. Es freut mich sehr, dass Sie unsere Arbeit in Zukunft unterstützen werden.“

Er fasste Lafette am rechten Arm und führte ihn in Richtung der Zelte, von wo aus man den Bereich einsehen konnte, in dem die eigentlichen Arbeiten stattfanden. Ein Trupp Männer der verschiedensten Altersklassen, ausnahmslos Einheimische, schaufelten in einem abgesteckten Bereich, als wollten sie Dinge ausgraben, von denen sie wussten, dass sie hier lagerten.

„Diese Leute arbeiten nur ordentlich, wenn sie beaufsichtigt werden“, sagte Rosenbaum fast leise, als könnten die Männer ihn hören. Er musste zu Lafette aufschauen, denn der war mindestens einen Kopf größer als er selbst.

„Nun sind wir zu viert. So kommen auf einen von uns vier oder fünf dieser Leute. Es wird sie motivieren, wenn wir uns persönlich mehr um sie kümmern können.“

Lafette schaute eine Weile den grabenden Arbeitern zu, dann glitt sein Blick hinüber zu den Zelten und schließlich über den roten Sand und die umherliegenden Felsbrocken bis hin zu dem im Abendlicht schimmernden Gebirge des Jabal ar Rukbah Gebirges.

„Auf den ersten Blick sieht es aus, als eigne sich dieser Ort gerade mal dazu, diesen verdammten roten Sand von einer Stelle zur anderen zu bewegen. Aber der Schein trügt.“ Die Stimme des Professors hatte sich leicht angehoben und eine gewisse Euphorie, begleitet von einem heftigen Augenzwinkern, war seinem Tonfall zu entnehmen.

„Ich habe diesen Ort nicht willkürlich ausgesucht, Monsieur Lafette. Im Gegenteil. Als Ägyptologe besitze ich historische Karten, die vermuten lassen, dass hier, in diesem Bereich …“

Rosenbaum machte mit seinem Arm eine weitausholende Bewegung. „Dass in diesem Bereich alte Kulturen gelebt haben. Kulturen aus der Zeit vor Christi Geburt und danach. Wir befinden uns zwar abseits der Pyramiden und der Gräber der Pharaonen, die hinreichend untersucht und erforscht wurden. Aber hier, Monsieur Lafette … hier, fernab von Kairo und den anderen großen Städten, abseits des Meeres, hier an dieser Stelle … ich bin sicher … hier gab es eine Zivilisation. Eine kleine, zugegeben, aber eine Zivilisation.

„Sie glauben, dass hier Menschen lebten, leben konnten?“ Lafette lächelte mitleidig. „Zum Leben gehört Wasser, Professor. Wo zum Teufel gibt es hier Wasser?“

„Es gab Wasser hier. Glauben Sie mir. Ich habe mich in den vergangenen Jahren intensiv mit dieser Frage befasst. Das Wasser kam aus den Bergen und hat den Fellachen ausgereicht, ihren Ackerbau zu betreiben. Sehen Sie, dort hinten, diese flachen Landstreifen? Das waren diese Ackerflächen.“

Professor Rosenbaum atmete schwer. Er nahm seinen Hut kurz ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn unter seinem dichten vollen weißen Haar, um dann einige Schweißtropfen mit Daumen und Zeigefinger von seiner orientalisch anmutenden gekrümmten Nase zu wischen.

„Und in der Nähe dieser bewirtschafteten Ebene haben Menschen gelebt.“ Seine Stimme war fest und bestimmt, als er sagte: „Ich werde ihr Dorf oder Teile davon finden.“

„Fellachen sind Bewohner des Niltals, Professor. Dort lebten bereits zur Zeit der Pharaonen Bauern, die damals den größten Teil der ägyptischen Bevölkerung stellten. Eben, weil dort der Nil die Voraussetzungen für gute Ernten bot. Aber wem erzähle ich das? Sie wissen das doch so gut wie ich und die anderen hier.“

„Ja, ja“. Der Professor klang ungeduldig, fast unwirsch. „Aber diese Bauern, wie Sie sie nennen, waren auch den Launen der Steuereintreiber und vor allem der unregelmäßigen Gefahr der Nilüberschwemmungen ausgesetzt.“

„Jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Sie sind der Ansicht, dass sich ein Teil der Fellachen aus dem Niltal abgesetzt hat, um sich an anderer Stelle niederzulassen.“

„Genau! Und zwar dort, wo es zum einen Wasser gab …“

„Und wo man sie nicht vermutete. Wo man sie in Ruhe ließ ...“

„Wo sie sich ein neues Leben aufbauen konnten. Ich sehe, ich beginne Sie zu überzeugen.“

„Na ja, soweit würde ich noch nicht gehen, Professor. Aber wenn Sie sich derart sicher sind, werden Sie doch Beweise haben.“

„Meine Beweise sind hier drin!“ Rosenbaum klopfte sich mit der flachen Hand auf die Brust und sah Lafette mit großen Augen an.

„Es ist meine innere Überzeugung, die mich hier arbeiten lässt. Die geografische Lage dieser Gegend spricht eindeutig für die Existenz ehemaliger Kulturen.“

„Aber, wenn das stimmt, was Sie sich in Ihrer Überzeugung erhoffen, was versprechen Sie sich von den Ausgrabungen? Was die Bauern und die Fellachen betrifft, ist im Verlauf der Geschichte doch eigentlich alles gesagt worden.“

„Was die Fellachen im Nil-Delta betrifft, sicherlich. Aber hier … hier beginnt die Geschichte dieser Menschen neu. Wir werden es sehen, wenn wir das Dorf gefunden haben. Vergangene Epochen haben uns immer schon Überraschungen bereitet.“

„Sie sagten, wir seien zu viert“, wechselte Lafette geschickt das Thema. „Gibt es da …?“

„Hat Ihnen George unterwegs die Mannschaft nicht vorgestellt? Sieht ihm ähnlich.“

Rosenbaum schüttelte verständnislos den Kopf. „Ja, wir sind zu viert. Mit Ihnen. Luigi Zanolla ist der Vierte im Bunde. Er ist ebenfalls Geologe und er kümmert sich außerdem um unser Wohlergehen. Luigi ist gleichzeitig unser Koch.“

Der Professor packte Lafette erneut am Arm und zog ihn mit sich.

„Verzeihen Sie einem unhöflichen alten Mann. Sie müssen hungrig und durstig sein. Kommen Sie!“

Er nestelte eine silberfarbene Taschenuhr aus einer der zahlreichen Taschen seiner khakifarbenen Jacke und ließ den Deckel aufspringen.

„Passt genau. Luigi wird uns bereits erwarten. Es ist Essenszeit.“

*

In den folgenden beiden Wochen waren die Männer um Professor Benjamin Rosenbaum damit beschäftigt, den roten Sand an der einen Stelle abzutragen und ihn fünfzig Meter weiter entfernt wieder aufzuhäufen. Die so künstlich geschaffene Düne wuchs, ohne dass sich in irgendeiner Weise ein sichtbarer Erfolg, die Grabungen betreffend, einstellen wollte.

„Wir werden ab sofort dort unterhalb des Felsmassivs graben“, hatte Rosenbaum vor drei Tagen verkündet und damit die Arbeit der vergangenen zwei Wochen mit diesem einen Satz in einem Nichts verschwinden lassen.

Der riesige rote Felsblock lag einen guten Steinwurf von der ersten Grabungsstelle entfernt, war an die dreißig Meter hoch und nahezu senkrecht in seiner Anordnung. Eine riesige Sandanhäufung hatte sich mit den Jahren vor dem Felskoloss gebildet.

„Die Leute werden unruhig. Auch sie wollen Erfolge sehen.“

Lafette ließ sich im Schatten des Verpflegungszeltes auf einen geflochtenen Korbstuhl fallen und sah den Professor abwartend an. Dass Rosenbaum trotz der hohen Temperaturen genüsslich eine Tasse heißen Kaffees schlürfte, war Lafette unbegreiflich.

„Die innere Wärme bekämpft die äußere Hitze“, pflegte der Professor in solchen Situationen zu sagen, doch Lafette konnte er mit solchen Thesen nicht überzeugen. Er hob den Arm und zog damit die Aufmerksamkeit von Zanolla auf sich.

„Ein kaltes Wasser bitte, mein Freund. Wenn es so etwas überhaupt hier gibt“, rief er Luigi zu, der beschäftigt hinter der Ausgabetheke des Verpflegungsbereichs hantierte. Lafette sah, wie er die Überreste des Mittagsmahls in Kühlboxen verstaute.

Er wird sie morgen wieder aufwärmen, dachte er. Wie sonst will er mit dem geringen Lebensmittelvorrat, den man mühselig hierherschaffen musste, auskommen? Er wird sie am kommenden Tag mit frischen Lebensmitteln verarbeiten.

Lafette beobachtete Luigi, der aus einer Flasche Wasser in ein Glas füllte und es schließlich zu ihm herüberbrachte.

Sein Blick glitt an der Gestalt des Italieners hoch, als der ihm das Glas in die Hand drückte. Zanolla schwitzte und fuhr sich mit der flachen Hand über den runden Schädel.

Seine Gesichtshaut war nicht braun, wie es Lafette von einem Italiener gewohnt war. Sie war rot, ja, nahezu dunkelrot. Nicht verbrannt von der Sonne. Einfach rot. Ohne Sonnenbrand. Die Arme hingegen, die aus dem weiten geblümten Hemd ragten, waren braun. Tiefbraun. Auf den Fingerrücken der fleischigen breiten Hände hatte sich ein dunkler Haarbewuchs gleichmäßig in eine Richtung gebildet und Lafette fragte sich, ob Zanolla ihn täglich mit einem Kamm durchforstete.

Zanolla trottete davon, dem Schatten spendenden Zelt entgegen. Lafette nahm einen Schluck des kalten Wassers und fühlte das Rinnsal durch seine Kehle hinabfließen, fühlte, wie sich die Erfrischung in seinem Magen ausbreitete. Er nahm einen weiteren Schluck und noch einen. Genüsslich. Jedes Rinnsal, das er durch seine Kehle rinnen fühlte, gab ihm ein Stück Kraft in dieser sengenden Hitze zurück.

Lafette hörte die Stimme des Professors hinter sich und erhob sich aus seiner bequemen Position.

„Die Arbeiter sind dabei, einen Höhleneingang freizulegen“, sagte Rosenbaum und nahm seinen khakifarbenen Hut ab.

„In diesem Felsen gibt es tatsächlich Höhlen. Der Wind hat den Sand weit in den Felsen hineingeblasen und schließlich die Öffnungen verschlossen. Setzen Sie sich! Wir haben es nicht eilig“, forderte der Professor Lafette auf. „George ist bei den Arbeitern. Er wird uns auf dem Laufenden halten. Einen Drink?“

Rosenbaum hielt zwei kleine Flaschen in seiner linken Hand und reichte eine davon Lafette, der sie dankend entgegennahm.

„Sie glauben immer noch an Fellachen-Dörfer … hier, unter dem roten Sand, zwischen den Felsen?“

Lafette sah den Professor fragend von der Seite an und sein Blick hatte einen Hauch von Mitleid.

Rosenbaum nickte, fast unmerklich. Dann zog er einen der Korbstühle neben den von Lafette und setzte sich mit einem Seufzer nieder. Er hob die Flasche mit einer auffordernden Geste in Richtung Lafette und beide nahmen einen Schluck.

„Ja, ich glaube noch daran“, sagte er und Lafette meinte der Stimme ein leichtes Beben entnehmen zu können. „Was sollte ich noch hier, in dieser staubigen Hölle, wenn mich mein Glaube an den Erfolg verließe?“

„Ihr Name“, hub Lafette an. „Ihr Name … „

„Rosenbaum?“ Der Professor lächelte. „Glauben Sie, dass mich dieser Flecken Erde fesselt, weil ich Jude bin? Wollen Sie darauf hinaus? Oder wundern Sie sich, dass ein Deutscher einen solchen Namen trägt? Einen so untypisch deutschen Namen?“

„Aber Sie leben in Deutschland?“

„Sehen Sie … wie soll ich es ausdrücken? Ich bin Deutscher, ja. Aber dieses sogenannte Vaterland sehe ich nur allzu selten. Ich habe dort meinen Wohnsitz, meine Staatsangehörigkeit. Aber verlangen Sie nicht von mir, dass ich die Nationalhymne singe.“

„Es klingt verbittert, wie Sie das sagen.“

Lafette musterte den Professor und zum ersten Mal betrachtete er die Narbe an der linken Stirnseite, die sich vom Jochbein bis unter den Haaransatz ausbreitete. Es musste eine sehr tiefe Wunde gewesen sein, die sich Rosenbaum dort irgendwann einmal zugezogen hatte.

Ein Verkehrsunfall vielleicht, dachte Lafette. Oder ein Überfall dieser … Räuberbanden, denen George Dumont und ich fast in die Hände gefallen wären.

Der Professor spürte den Blick Lafettes auf seinem Gesicht und strich unwillkürlich mit der Hand durch sein Haar.

„Auch das ist ein Andenken an das Land, dessen rechtschaffener Bürger ich immer war. Rechtschaffen wie meine Eltern, deren einziger Makel daraus bestand, nicht in die grundlegenden Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung zu passen. Denn wir Juden strebten ja als fremdartige und minderwertige Rasse die Weltherrschaft an.“

Es klang sarkastisch und traurig zugleich. Der Professor verstummte, wische sich mit der Linken die Haare zurück und setze seinen Hut wieder auf. Er wendete seinen Kopf aus der Blickrichtung Lafettes und schaute über die sonnenreflektierende Ebene, dort wo sich seiner Meinung nach vor langen Zeiten Wasserstellen befanden. Dort, wo er glaubte, dass sich vor langer Zeit die Fellachen niedergelassen hatten.

„Diese Hitze ist manchmal unerträglich“, sagte er, nur um etwas zu sagen, um von dem Thema abzuschweifen, das er eigentlich nicht hatte anschneiden wollen.

„Was ist mit Ihren Eltern geschehen?“

Lafette ahnte die Antwort bereits.

„Sie starben 1944“, antwortete Rosenbaum knapp.

„Im Konzentrationslager?“

„Was wissen Sie denn schon von Konzentrationslagern, Monsieur Lafette? Sie als Franzose …“

„Ich als Franzose war zu dieser Zeit noch nicht geboren, das stimmt. Aber glauben Sie, unser Land würde sich nicht auch zur Zeit meiner Generationen und auch davor und danach mit dem beschäftigen, was damals geschah?“

„Dennoch werden Sie von den Geschehnissen nie die Spur einer Ahnung haben.“

Rosenbaum hielt kurz inne. „Aber was rede ich? Es tut mir leid, Monsieur.“

„Sie waren damals zu jung ...“

„Zu jung, um im KZ zu verfaulen?“ Der Professor lachte kurz auf, doch es war kein Lachen. Es war eine verbitterte Geste.

„Niemand von uns war zu jung dafür. Der gewaltsame Tod machte vor keinem Alter halt.“

„Verzeihen Sie, Herr Professor, ich möchte nicht …“

„Nein, es ist schon gut. Verzeihen Sie einem alten Mann, dem schon wenige Sätze genügen, ihn wieder mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren.“

Rosenbaum erhob sich von seinem Stuhl und ging ein paar Schritte. Lafette sah ihm nach und plötzlich kam ihm dieser Mann zerbrechlich vor, wie er mit dem Rücken zu ihm stand, leicht nach vorne übergebeugt. Ein alter Mann, der die Bürde seiner Vergangenheit nicht abwerfen konnte.

Schließlich drehte Rosenbaum sich um, nahm seinen Hut ab, schlug aus ihm imaginären Sand auf seinem Oberschenkel aus und setzte ihn wieder auf.

Die Sonne brannte.

Es ist zu heiß hier draußen. Wir sollten das Zelt aufsuchen, dachte Lafette. Doch etwas hielt ihn zurück, ließ ihn die brennende Sonne aushalten. Der Jude Rosenbaum fesselte ihn. Es war wie ein Bann. Etwas in ihm wollte seine ganze Geschichte erfahren. Doch der Professor musste bereit sein, sich preiszugeben. Noch war er es nicht, das spürte Lafette.

„Meine Eltern hat man im Konzentrationslager umgebracht“, hörte Lafette den Professor sagen. „Sie hatten große Schuld auf sich geladen. Sie waren Juden. So wie ich Jude bin. Doch ich habe überlebt. Obwohl ich eigentlich tot sein sollte.“

Rosenbaum setzte sich wieder neben Lafette.

„Man hat Sie also doch ins KZ gebracht?“

„Nein, nein, das wäre mein sicherer Tod gewesen. Nein, es war anders.“ Der Professor erhob sich. Sein Gesicht hatte sich verfinstert. Seine Miene schien wie eingefroren.

„Ich möchte Sie nicht mit meiner Lebensgeschichte belasten, Monsieur Lafette. Kommen Sie, sehen wir nach, wie weit George mit seiner Gruppe ist!“

Kaum hatten Lafette und Rosenbaum sich von ihren Stühlen erhoben, kam ihnen auch schon George Dumont entgegengelaufen, roten Sand mit seinen schweren Schuhen nach hinten aufwirbelnd.

„Herr Professor, Sie müssen kommen! Sofort!“, rief er außer Atem schon von weitem, gerade mal, dass er in Hörweite der beiden war.

„Das klingt gut“, lächelte der Professor und sein Gesicht zeigte einen verklärten Ausdruck. als er Lafette ansah. „Sie werden sehen, Monsieur: Die Fellachen hat es doch hierhergezogen.“

*

George Dumont hatte sich auf einem Felsbrocken am Rande der Grabungsstätte niedergelassen, löste die Schnürriemen an seinen knöchelhohen Lederschuhen und streifte sie ab. Als er sie mit der Sohle nach oben kehrte, suchte sich ein Rinnsal von feinem rotem Sand den Weg nach außen und rieselte zu seinen Füßen nieder.

Seine Fußsohlen brannten. An diesem Tag hatte er kaum Gelegenheit zum Ausruhen gehabt, war nicht dazu gekommen, seine Beine mit den schmerzenden Füßen auszustrecken oder sie vorübergehend in kühles Wasser einzutauchen.

Während er die brennenden Bereiche mit dem Handballen massierte, schweiften seine Blicke über das Tal bis hin zu den Erhebungen des Jabal ar Rukbah Gebirges.

Hinter sich hörte er die scharrenden und hackenden Geräusche der Arbeiter, die damit beschäftigt waren, den Eingang der Höhle von Sand und Geröll zu befreien. Abweichend von der eigentlichen Suche würden sie anschließend das Innere der Höhle durchsuchen und feststellen, dass die ganze Arbeit umsonst gewesen war.

Warum sich der Professor auf diese Gegend hier versteift hatte, war selbst George, der das innigste Verhältnis von allen zu Rosenbaum hatte, nie klargeworden. Das geistige Konzept des Professors, nach welchem sich die Fellachen gerade an diesem Ort angesiedelt haben sollten … na ja. Ihm sollte es gleich sein, solange man ihn für seine Arbeiten bezahlte, auch wenn sie sich als nicht allzu befriedigend herausstellten.

„Ich glaube, Sie denken das gleich wie ich“, hörte er von leichtem italienischen Akzent durchsetzte Stimme von Luigi Zanolla hinter sich.

„Ich weiß nicht, was der Alte sich dabei denkt. Ich verstehe es einfach nicht“, sagte Zanolla in ruhigem Ton, doch der Unterton seiner Stimme war umso vielsagender.

„Was gedenkt er hier zu finden? Was gibt es hier außer Wüstenreptilien und Spinnen Interessantes zu erforschen?“

Zanolla ließ sich seufzend auf den Felsbrocken neben Dumont nieder und wischte sich mit einem riesigen Tuch, das er anscheinend stets mit sich führte, über die Stirn und das spärliche Kopfhaar. Seine khakifarbene Hose und das dunkelgrüne Hemd waren völlig durchschwitzt. Kaum hatte er sein Tuch in der Tasche seiner Hose verschwinden lassen, stand ihm bereits wieder der Schweiß auf der Stirn.

„Ich weiß nicht, ob ich das hier noch lange mitmachen werde“, hörte ihn George Dumont, der immer noch dabei war, die Berge mit seinen Blicken abzutasten, sagen.

„Wenn dieses Projekt abgeschlossen sein wird, werde ich nach Italien zurückkehren. Eine ruhige Anstellung in einem Museum, es muss ja nicht gerade der Nachtwächterposten sein, für die restlichen Arbeitsjahre meines Lebens, das wäre schon okay.“

Zanolla stieß Dumont mit dem Ellbogen in die Seite.

„Hören Sie mir eigentlich zu?“, fragte er amüsiert und folgte dem Blick seines Kollegen in die Ferne.

Dumont schien die Frage Zanollas zu überhören.

„Glauben Sie, dass es die Fellachen irgendwann aus dem fruchtbaren Gebiet des Nils nach hier gezogen hat? In diese Einöde, von der der Professor glaubt, dass es einmal hier Wasser gab?“

„Sie zweifeln also auch an der These des Professors?“

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Warten wir es einfach ab. Die nächsten Tage werden über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.“

„Ja, warten wir es ab“, seufzte Zanolla erneut und erhob sich. „Ich werde das Essen vorbereiten.“

Dumont sah noch eine Weile hinter Zanolla her, bis dieser in einem der großen Zelte verschwand. Mit einem letzten Blick über die Berge erhob er sich und trottete der Stelle zu, die seiner Meinung nach bisher kein Fellache zu sehen bekommen hatte.

Schon von weitem sah Dumont, dass das Team gute Arbeit geleistet hatte. Der Eingang der Felsenhöhle lag frei vor ihnen. Die Arbeiter hatten ihre Arbeit eingestellt, denn mit den weiteren Maßnahmen hatten sie nichts zu tun. Sie waren von Professor Rosenbaum instruiert, Zurückhaltung zu üben, wenn Forschungszentren freigelegt worden waren oder die Annahme bestand, dass bestimmte Terrains erst einmal analysiert werden mussten.

Genau das war nun der Fall und so wartete man auf den Professor oder einen seiner Kollegen, um neue Anweisungen zu erhalten.

George Dumont nickte den wartenden Arbeitern freundlich zu und betrat die Höhle durch den türrahmengroßen Eingang. Er musste nicht einmal den Kopf einziehen oder sich gar bücken, so groß war die Öffnung. Er folgte dem freigelegten Gang einige Meter in das Innere und bemerkte erstaunt, dass die Höhle mehr und mehr an Höhe gewann.

Mit seiner Taschenlampe tastete er Meter für Meter der rötlichen Steinformation ab. Erst die Wölbung über ihm, dann die Wände.

Schließlich ließ er den Lichtschein auf fünf nebeneinanderliegenden kleinen Öffnungen in den Seitenwänden des Felsens verharren.

Für ihn hatte es nicht den Anschein, dass diese Öffnungen ein Werk der Natur waren. Dafür waren sie zu gleichmäßig angeordnet. Allerdings befanden sie sich schätzungsweise vier Meter über dem Erdboden. Also vielleicht doch eine Laune der Natur?

Dumont tastete sich mithilfe des Lichtscheins seiner Taschenlampe bis zum Ende der Höhle, die nach sieben bis acht Metern wieder in ihrer Höhe verebbte, um schließlich auf dem Erdboden zu enden.

Der leuchtende Kegel kletterte suchend über den dunklen Felsen, tastete Stein um Stein ab, bis er schließlich an einer dunklen Stelle nahe der Felsendecke innehielt.

„Was mag der Sinn dieser Öffnungen zu sein.“ Dumont strengte seine Augen an, doch das diffuse Licht ließ sich nicht so weit durchdringen, um Einzelheiten wahrzunehmen.

„Da sind noch mehrere solcher Löcher im Gestein.“ Einer der Arbeiter war nähergetreten und zeigte mit seinem gestreckten Arm in die Richtung, in welcher er die Öffnungen wahrnahm.

„Wir brauchen eine Leiter“. Dumont sah den Mann, der sich nach vorne gedrängt hatte, fordernd an. Dieser deutete eine leichte Verbeugung an und verschwand aus dem Inneren der Höhle. Kurze Zeit später kam er zurück, über der Schulter eine ausziehbare Leiter aus Aluminium.

Zumindest die Ausrüstung lässt nichts zu wünschen übrig in dieser Einöde, in der wir nichts Anderes tun, als auf einen großen Erfolg zu warten, dachte Dumont bei sich. Einen Erfolg, an den kaum noch jemand zu hoffen wagt.

Auf sein Zeichen stellte der Mann die Leiter an und setzte einen Fuß unterhalb der unteren Sprosse an, um ein Verrutschen der Planken zu vermeiden.

Dumont stieg zaghaft eine Sprosse nach der anderen hinauf, den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf den Felsen gerichtet.

Schließlich war er so hoch gestiegen, dass die Öffnungen vor ihm lagen. Um in sie hineinzublicken hätte er gerade noch zwanzig Zentimeter höher steigen müssen, doch dann hätte er den Haltegriff an der oberen Leitersprosse aufgeben müssen. Mit dem rechten Arm in die Aushöhlungen zu greifen war jedoch durchaus möglich.

Dumont setzte an, seine Hand in die Öffnung zu stecken, doch dann zuckte er zurück. Er sah nach unten in die erwartungsvollen Gesichter seines Arbeiterteams, dann wieder zu der angeleuchteten Öffnung im Felsgestein in der Wand über ihm.

Ein leichter Schauer und ein Kribbeln in der Bauchgegend überkamen ihn, als er sich vorstellte, dass diese Öffnung vielleicht ausschließlich Nester von irgendwelchen Reptilien oder giftigen Insekten sein würden.

Er schaute erneut nach unten und sah in die Gesichter, in denen sich Zweifel und Erwartung, aber auch Schadenfreude wiederspiegelten.

Ich sollte einen von ihnen beauftragen, fuhr es ihm durch den Kopf. Doch er verwarf den Gedanken sogleich wieder.

Es wäre unfair, dachte er bei sich. Sie profitieren nicht von den großen Funden, wenn es denn welche gibt. Sie erhalten ihren Lohn für getane Arbeit, nicht für offensichtliche Risiken.

Dumont kam eine Idee. „Ein paar kräftige Handschuhe bitte!“, rief er nach unten und wenige Minuten später fing er die von einem der Gruppe hochgeworfenen Arbeitshandschuhe auf, zog sie über und wagte einen erneuten Versuch.

Vorsichtig, sich mit der linken Hand am oberen Ende des linken Holmes festhaltend, wagte er den Vorstoß mit der rechten in die erste, ihm am nächsten liegende Öffnung. Vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, glitt erst seine Hand, dann der Unterarm in die Felsöffnung.

Bis zum Ellbogen war sein Unterarm verschwunden, als Dumont mit dem Kopf schüttelte und den Arm herauszog.

„Da ist nichts“, rief er nach unten. Er tat dies lauter, als es notwendig gewesen war. Es war die Erleichterung darüber, dass im Inneren des Felsen keine Überraschung auf ihn gewartet hatte.

„Diese Höhle ist leer!“, rief er, immer noch in der erhöhten Lautstärke. „Ich werde es mit der zweiten versuchen.“

Kaum, dass er den Unterarm in die Öffnung gesteckt hatte, spürte er einen Widerstand und zuckte unwillkürlich zurück, dass es ihn fast von der Leiter gehauen hätte.

Als sich die Phobie in seinem Inneren etwas gelegt hatte, wagte er einen erneuten Versuch und die Tatsache, dass die Berührung seiner Hand einen harten Gegenstand ertastete, beruhigte ihn einigermaßen. Es war kein Tier, das seine Hand gefühlt. Es war kein Fell und auch keine glatte Haut, wie die einer Schlange. Das, was in der Höhle lag, war einfach nur hart.

Dumont tastete mit der rechten Hand, stehend auf den letzten Leitersprossen, die Linke den Holmen umklammernd, in der Höhle. Dann hatte er wieder diesen Kontakt. Er fühlte den Gegenstand ab und projizierte ihn von seiner Hand auf sein Gehirn.

Leder, dachte er. Es fühlt sich an wie Leder.

Er tastete weiter und konnte schließlich den Gegenstand greifen. Mit Daumen und Zeigefinger fasste er dieses Etwas wie mit einer Zange und zog vorsichtig daran. Schließlich war er imstande, mit der gesamten Hand zuzugreifen und beförderte den Gegenstand schließlich ans Tageslicht.

In seiner Hand hielt er ein Stück gegerbtes und ausgehärtetes Tierfell, dessen glatte Seite nach außen zeigte. Offensichtlich hatte man in dieses Fell etwas eingeschlagen. Etwas, das so groß war wie eine kleine Frauenhandtasche.

Dumont wusste gleich, dass er etwas in der Hand hielt, das eine lange Zeit überdauert hatte. Die Oberfläche des Fells war so trocken, dass er Bedenken hegte, der Druck seiner Hand würde es zerstören.

Vorsichtig stieg er die Leiter hinab, den Fund wie einen wertvollen Schatz in seiner gestreckten Hand haltend. Die Arbeiter, die seine Leiter stützen, wichen zurück und machten Dumont Platz, der seinen Fund nun mit beiden Händen zum Körper zog, um ihn so vor einem Herabfallen zu schützen.

Die Schar der Arbeiter wie in einem Schlepptau hinter sich herziehend, suchte Dumont zielstrebig das Zelt auf, das er mit Lafette teilte und wischte mit einer Bewegung seines Unterarmes die Reste des Frühstückmahls beiseite.

Als er schließlich seinen Fund vor sich auf dem Tisch betrachtete, fielen ihm die überkreuzten Schnüre auf, die ihm durch die Staubschicht auf dem Fell verborgen geblieben waren.

Etwas ist in das Fell eingeschlagen, dachte er. Der Professor muss her. Die Öffnung muss er vornehmen. Das hier ist seine Grabungsstelle. Ein wichtiger Fund wird sein Verdienst sein. Und nach einem wichtigen Fund sieht es verdammt noch mal aus.

Dumont nahm eine Wolldecke von seinem Lager und legte sie vorsichtig über den noch unbekannten Fund. Dann wandte er sich an den Vorarbeiter, eine Art Capo, der sein Vertrauen genoss.

„Du lässt das hier nicht aus den Augen! Hast du verstanden? Ich werde den Professor verständigen.“

„Sie werden sehen, Monsieur Lafette: Die Fellachen hat es doch hierhergezogen.“ Professor Rosenbaum wandte sich zu Dumont, der keuchend durch den Sand pflügte und rief:

„Na, mein Lieber, ich hoffe, Sie bringen gute Nachrichten. Haben Sie etwa den Beweis für die ehemalige Existenz von Fellachen an dieser Stätte gefunden? Was glauben Sie, Lafette, treibt diesen Mann durch den heißen Wüstensand?“

Dumont blieb kurz stehen und legte die letzten Meter gemächlich, aber atemlos zurück.

„Nein, keine Fellachen“, keuchte er, kaum wahrnehmbar. „Es ist etwas Anderes. Sie sollten es sich selbst ansehen.“

Rosenbaum schlug das Herz bis zum Hals, als er das in Fell eingeschlagene Paket in seinen Händen hielt.

Er betrachtete die Schnüre aus Lederstreifen, die den Fund zusammenhielten und unter der dicken Staubschicht kaum zu erkennen waren.

Was erwartet uns? dachte er. In fast ängstlicher Erwartung sah Rosenbaum erst George Dumont, dann Henri Lafette an. Sein Blick glitt weiter zu Luigi Zanolla, der sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn wischte.

Rosenbaum erhielt keine Antwort auf seine Frage, aber er sah die Erwartung in den Gesichtern seiner Mitarbeiter.

Er legte das Bündel vorsichtig auf dem Tisch ab und sah noch einmal in die Runde, als wolle er bereits in diesem Moment um Verzeihung bitten, sollte bei der Öffnung des Pakets etwas schiefgehen.

„Der Knoten ist nicht zu öffnen“, sagte er nach einiger Zeit des Bemühens, ihn mit den Fingernägeln zu öffnen.

Er sah eine Bewegung zu seiner rechten und blickte auf die glänzende Schneide eines langschäftigen Dolches.

„Versuchen Sie es damit“, sagte Lafette aufmunternd. „Ein zerschnittener Lederriemen wird die Geschichte nicht verändern.“

Rosenbaum nickte und nahm das Messer. Dann machte er sich daran, die Klinge mit vorsichtigen Bewegungen über den Lederriemen zu führen.

Dann hatte er es geschafft. Doch das Ziel war noch nicht erreicht. Das in sich verklebte Leder, in das der Inhalt eingeschlagen war, musste er mit dem Messer voneinander lösen. Während der gesamten Prozedur war es totenstill im Inneren des Zeltes. Auch die nach und nach hinzugeeilten einheimischen Arbeiter schienen den Atem anzuhalten.

Rosenbaum legte das Messer beiseite und schlug vorsichtig die Enden des Felles auseinander. Die Enttäuschung war seinem Gesicht anzusehen.

„Papiere“, stöhnte Rosenbaum. „Nur Papiere.“

„Vielleicht haben die Fellachen uns eine Nachricht hinterlassen“, kam die trockene Bemerkung von Dumont, der sofort verstummte, als ihn der strafende Blick des Professors traf.

Rosenbaum wandte sich kopfschüttelnd wieder dem Bündel, bestehend aus aufeinanderliegenden Schriftstücken zu und versuchte die zum Teil verblassten und sichtlich porösen Blätter vorsichtig voneinander zu lösen.

„Pergament“, sagte er leise vor sich hin. „Das ist Pergament. Beschriebenes Pergament. Für die Ewigkeit haltbar gemacht. Was zum Teufel ist das?“

Plötzlich klang seine Stimme erregt.

„Monsieur Dumont, die Leute sollen den Rest des Tages freimachen. Zanolla, Lafette, vor uns liegt ein gutes Stück Arbeit. Noch weiß ich nicht, was das hier zu bedeuten hat. Schieben Sie die Tische zusammen! Wir werden die Blätter voneinander trennen und einzeln sichten. Mein Gott, was kommt hier an Arbeit auf uns zu?“

*

Die Dunkelheit war hereingebrochen. Die einheimischen Arbeiter hatten sich in einem Zelt versammelt und genehmigten sich einen Schluck erfrischenden schwarzen Tees, angereichert mit Gewürzen wie Safran, Rosmarin und Nelken.

Rosenbaum hatte ihnen in seiner Euphorie ausnahmsweise Alkohol erlaubt, den die muslimischen Helfer jedoch mit weit ausholenden Gesten ablehnten. Doch nach Anbrechen der Dunkelheit, in der sie glaubten, dass Allah sie nicht sah, griffen sie hier und da verstohlen nach einem der gefüllten Gläschen.

Der Professor und seine Partner hatten den ganzen Nachmittag damit zugebracht, die einzelnen Pergament-Lagen voneinander zu trennen und auf den Tischen zu verteilen. Rosenbaum zählte rund dreißig Blätter. Dass es sich um Briefe handelte, hatte er bereits während der mühevollen Arbeit festgestellt. Kaum ein Wort war während dieser Zeit gewechselt worden. Jeder der vier Wissenschaftler versuchte konzentriert, keinen der Briefe zu beschädigen. Doch ab und zu verweilten sie über einem der Exemplare, um dem verblassten Text, der sich ihnen offenbarte, einen Inhalt zu entlocken.

„Aramäisch“, sagte der Professor plötzlich. „Sie sind in Aramäisch verfasst“.

„In der Sprache, in der Jesus Christus sich verständigte?“

Lafette sah den Professor erstaunt und erschrocken zugleich an.

„Jesus hat als Muttersprache sehr wahrscheinlich Aramäisch gesprochen, denn sie war zu jener Zeit Umgangssprache in Palästina“, antwortete Rosenbaum und beugte sich näher an eine der Schriften heran. „Aramäisch blieb bis zum Ende des 7. Jahrhunderts im Orient dominant. Erst als das Arabische populärer wurde, verdrängte es das Aramäisch nach und nach.“

„Heißt das, die Schriften könnten aus der Zeit um Christus stammen?“

„Möglich wäre das. Aber auch die anschließenden Jahrhunderte sind möglich. Wir werden die Expertisen abwarten müssen.“

Rosenbaum drehte sich zu seinen Kollegen um. „Ich schlage vor, wir machen Fotoaufnahmen von jedem einzelnen Blatt. Dann können wir den Inhalt in Ruhe digital auswerten.“

„Ich werde das übernehmen, wenn es Ihnen recht ist.“ Es war die Stimme Luigi Zanollas, der sich zum wiederholten Mal mit seinem Taschentuch über die schweißnasse Stirn fuhr.

Rosenbaum nickte und Zanolla traf seine Vorkehrungen für die Aufnahmen. Der Blick des Professors war weiterhin auf die Pergamente gerichtet. Nicht alles, aber ein Großteil von dem, was dort geschrieben stand, konnte er entziffern und deuten.

„Es scheint sich um Briefe zu handeln“, sagte er vor sich hin, was Lafette und Dumont veranlasste, näherzutreten und sich über die Schriften zu beugen, obwohl sie nicht in der Lage waren, auch nur ein Wort zu entziffern.

Auch Rosenbaum tat sich schwer, denn der Schreiber war offensichtlich kein Gelehrter gewesen. Ein einfacher Mann, dachte Rosenbaum. Des Schreibens kundig, wenn auch nur im Mittelmaß, aber immerhin.

Rosenbaum suchte nach einem Absender, einem Namen, den der Schreiber auf dem Pergament hinterlassen hatte.

Dann wurde er fündig. Unter einem der Texte, der in der Mitte eines der Blätter endete stand in der Ungelenkigkeit des ganzen Textes geschrieben: „Der Herr mit uns. Joshua.“

Also kein Apostelbrief, dachte Rosenbaum. Joshua ist kein Apostelname. Es wäre auch zu schön gewesen.

„Was hier vor uns liegt, scheint eine übliche Kommunikation zwischen Bekannten oder Verwandten zu sein“, wandte sich der Professor zu seinen Kollegen, denen die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand.

Zanolla hatte inzwischen seine Fotokamera auf ein Stativ geschraubt und sie über dem ersten Pergament in Stellung gebracht.

„Was ist mit dem Inhalt? Was steht in den … Briefen?“, fragte George Dumont und näherte sich den Schriften, als hoffe er auf die plötzliche Gabe, sie identifizieren zu können.

Wortlos beugte sich Rosenbaum erneut über die Schriften und entzifferte die erste Seite der ausgebreiteten Blätter Wort für Wort.

„So wie es scheint, hatte sich ein Bruder dieses Joshua hier in Ägypten niedergelassen“, erläuterte er nach einiger Zeit des Studiums. „Joshua grüßt ihn von seiner Familie aus Jerusalem und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, ihn in absehbarer Zeit wiederzusehen.“

„Jerusalem?“, wunderte sich Dumont. „Wie kommt eine solche Trennung zustande?“

„Es war nicht unüblich, dass sich Menschen aus dem so genannten geloben Land aus den unterschiedlichsten Gründen in Ägypten niederließen“, murmelte Rosenbaum, während sein Blick weiter über die Briefe streifte. „Auch von Apostel Markus sagt die Überlieferung, dass er bis zu seinem Tod in Ägypten gelebt hat.“

„Dann ist dieser Fund nichts Besonderes?“, ließ sich Lafette vernehmen, der Zanolla bei seinen verzweifelten Anstrengungen, Licht und Bildausschnitt zu vereinigen, beobachtete.

„Das ist nicht wahr! Das glaube ich jetzt nicht“, stöhnte Rosenbaum plötzlich und wischte Lafettes Frage „Habe ich was Falsches gesagt?“ mit einer schroffen Handbewegung weg.

Der Professor hatte sich derart weit über einen der Briefe gebeugt, dass seine Nase fast gegen das Pergament stieß.

„Meine Herren, es ist unglaublich! Unfassbar, was uns diese Schriften offenbaren!“ Rosenbaum streckte seinen Oberkörper aus der unbequemen Haltung und tastete suchend nach einer Sitzgelegenheit hinter sich. Lafette schnappte sich einen der Holzstühle und der Professor ließ sich darauf nieder. Sein Atem ging schwer.

„Meine Herren …“, wiederholte er nach einer kurzen Zeit des Schweigens, die für seine Partner zur Ewigkeit zu werden schienen.

„Fellachen?“

Es war Zanolla, der ob des ungewohnten Gefühlsausbruchs des Professors in seiner Tätigkeit erstarrte.

Ein strafender Blick traf ihn, ehe der Professor antwortete.

„Vergessen Sie die Fellachen. Was man uns hier offeriert …“

Lafette hielt dem Professor eine Trinkflasche hin, die der gierig an den Mund setzte und einige kräftige Schlucke nahm.

„Ein Apostelbrief?“, fragte Dumont vorsichtig, fast flüsternd, so als fürchtete er, den Professor mit seiner Frage körperlich zu misshandeln.

Rosenbaum schüttelte den Kopf.

„Kein Apostel. Ein einfacher Mann des alten Jerusalems. Aber was er uns zu sagen hat … es ist unglaublich!“

Rosenbaum nahm noch einen Schluck aus der in helles Fell eingefassten Blechflasche. Als er sie absetzte, war es so still in dem Zelt, dass ein krabbelnder Skorpion nicht den Hauch einer Chance gehabt hätte, unentdeckt zu bleiben.

„Was hier vor uns liegt, meine Herren, revolutioniert einen Teil des christlichen Glaubens, wenn man diesen Aussagen Glauben schenken kann.“

„Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Professor. Was ist es, was dort geschrieben steht?“, wagte Lafette einen Vorstoß, bereit den Unwillen seines Chefs auf sich zu ziehen.

„Nehmen Sie Platz, meine Herren! Es wird Sie aus den Schuhen hauen.“

„Dieser Joshua bezeichnet sich in diesem Brief, der an seinen Bruder Jonah gerichtet ist, als einen Diener seines Herrn. Damit ist offensichtlich Jesus Christus gemeint“, begann Professor Rosenbaum mit der Erläuterung der Schriften.

„Joshua spricht davon, dass er gerne dem Herrn gefolgt wäre, doch Weib und Kind habe er nicht im Stich lassen können. Den Leidensweg Christi habe er jedoch bis zum Ende aus der Nähe erlebt. Er sei bei der Urteilsverkündung anwesend gewesen und habe dem Kreuzweg beigewohnt. Auch die Kreuzigung habe er aus einer geringen Distanz, wie er sich ausdrückt, miterlebt.

„Ein geheimer Apostel, mon Dieu“, flüsterte Dumont in die erwartungsvolle Stille.

„So könnte man ihn bezeichnen“, nickte der Professor und fuhr fort. „Die Schriften haben teilweise derart gelitten, dass nicht mehr alle Textzeilen zu entziffern sind. Doch sie scheinen irrelevant im Gegensatz zu den lesbaren Passagen.“

Der Professor sah in die Runde. Zanolla wischte sich wieder einmal den Schweiß von der Stirn. Die fotografischen Werkzeuge hatte er neben sich auf dem Boden abgelegt.

Lafette sah Rosenbaum mit ernster Miene an, erwartungsvoll, gespannt auf das, was der Professor weiter offenbaren würde.

Dumont hingegen sah man an, dass er mit den Aussagen Rosenbaums nicht allzu viel anzufangen wusste. Ein leichtes ungläubiges Lächeln umspielte seine Lippen.

Rosenbaum sah es und nickte schweigend vor sich hin. Warten wir einmal ab, wie du reagierst, denn du den ganzen Inhalt des Briefes kennst, sagte er zu sich und laut fuhr er fort.

„Joshua schreibt, er sei bei der Kreuzigung zugegen gewesen …“

„Also doch ein Apostel?“, unterbrach Lafette den Professor.

„Nun warten Sie es doch ab.“ Die Stimme Rosenbaums hatte sich erhoben und demonstrierte, dass nun keine Unterbrechung mehr erlaubt war. Lafette zog die Schultern ein. So hatte er seinen Chef bislang nicht erlebt. Er beschloss, zu schweigen.

„Joshua schreibt, er sei bei der Kreuzigung zugegen gewesen“, wiederholte Rosenbaum mit einem Seitenblick auf Lafette und fuhr fort. „Er sei der einsamste Mensch der Welt gewesen und habe sich abseits versteckt gehalten. Offensichtlich aus Angst vor den Schergen.“

„Um nicht für einen Gefolgsmann von Jesus gehalten zu werden.“ Zanolla stand der Schweiß in Perlen auf der Stirn. Er wischte ihn wie so oft an diesem Tag mit seinem riesigen Taschentuch weg.

„Ja, offensichtlich aus Angst. Sie wissen, was mit den Kleidern Jesu passiert ist?“

„Naja. Die Soldaten teilten sie unter sich auf, sagt die Überlieferung. Lafette schaute von einem zum andern. „Das hat man uns doch schon in der Schule beigebracht.“

„Bis auf den Rock … bestand er nicht aus einem Stück?“

„Ja, ja. Den die Söldner unter sich verlosten. Auch das hat man uns beigebracht.“

„Was ist Ihrer Meinung nach mit dem Rock geschehen? Na, Zanolla, was glauben Sie?“

„Aber Professor!“ Zanolla knüllte sein Taschentuch zusammen und verstaute es in seiner Hosentasche. „Das weiß doch jedes Kind. Dieser Rock … der Heilige Rock, die Tunika, befindet sich im Dom der ältesten Stadt Deutschlands. In Trier. Aber warum fragen Sie?“

„Ich will es kurz machen“, antwortete Rosenbaum und erhob sich. Er drehte sich zu den erwartungsvoll dreinschauenden Männern um, ehe er weitersprach.

„Wenn wir diesem Joshua Glauben schenken können, müssen wir an dieser Behauptung zweifeln. Hören Sie zu! Das, was uns Joshua auf diesen … zahlreichen Pergamenten mitteilt, ist ungeheuerlich. Auf diesen Blättern“ –Rosenbaum zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Papiere hinter sich „auf diesen Blättern behauptet er, dass sich der Rock Christi in seinem Besitz befindet.“

„Dann ist der Mann ein Lügner! Aber was ist, wenn er die Wahrheit sagt? Wer weiß denn schon, welchen Weg diese Tunika genommen hat, ehe sie im Trierer Dom ankam?“

Lafette streckte die Arme aus, als wolle er mit ihnen die Wahrheit einfangen. Dann stieß er George Dumont an.

„Was sagen Sie dazu. Sie lässt die Geschichte wohl kalt?“

„Die Geschichte ist noch nicht zu Ende“, unterbrach der Professor. „Ich würde Ihnen ja gerne beipflichten, denn ich sehe es genauso. Welchen Weg der Rock genommen hat … wer weiß das schon. Im 4. Jahrhundert, so die Überlieferung, hat Helena, die Mutter von Kaiser Konstantin, den Rock –oder Teile davon nach Trier gebracht. Aber trennen wir uns vorerst von dieser Theorie. Hören Sie, was Joshua uns weiter mitzuteilen hat.“

Rosenbaum vertiefte sich ein weiteres Mal über den Pergamenten, ehe er weitersprach.

„Der Rock wurde verlost, das bestätigt Joshua in diesen Briefen. Aber er beschreibt auch, wie er in seinen Besitz gekommen ist. Offenbar ist er in einem Maße mit seinem Gewissen in einen Zwiespalt geraten, dass er sich seinem Bruder Jonah anvertrauen musste. Er beschreibt in vielen Worten des Bedauerns, dass er den Söldner, der in den Besitz des Rockes gelangte, auf dessen Nachhauseweg verfolgte und ihn voller Hass erschlug. Aus Hass dafür, was man seinem Herrn angetan hatte.“

Rosenbaum sah in die Runde, doch niemand machte Anstalten, ihn in seinen Ausführungen zu unterbrechen. „Um es kurz zu machen: Joshua nahm den Rock mit nach Hause, seine Ehefrau nähte ihn luftdicht in ein Fell ein und er versteckte ihn an einem geheimen Ort.“

„Den er in seinem Brief natürlich nicht preisgibt“, bemerkte Dumont lakonisch. „Und wie kommt dann der Heilige Rock in den Dom nach Trier?“

„Die Wege des Herrn sind unergründlich!“, rief Rosenbaum theatralisch. „Vielleicht ist er echt, vielleicht ist er falsch. Wer weiß? Vielleicht ist es ja dieser von Joshua beschriebene Rock, der in Trier aufbewahrt wird. Wenn nicht …“

„Wir werden es nie herausfinden.“ Lafette zündete sich eine Zigarette an.

„Sie wollten doch nicht mehr rauchen“, sagte Dumont zu seiner Rechten.

„Sie haben Recht. Nur diese eine noch. Aber Professor, woher sollen wir wissen, ob es der Rock ist, der in Trier aufbewahrt wird?“

Rosenbaum hatte sich wieder über die Schriften gebeugt und nickte plötzlich begreifend mit dem Kopf.

„Joshua hat den Rock damals versteckt. Er schreibt, dass er für alle Zeit dort sicher sei.“

„Und wo soll das sein?“ Lafette zertrat seine Zigarette, die er gerade angeraucht hatte und zerrieb sie mit der Spitze seines rechten Schuhs.

„Er gibt keine Auskunft darüber. Aber hier steht ein Satz, der wörtlich lautet: Wer aber guten Willens sucht, folge dem Weg, wo Jesus nach Jerusalem einzog. Das Licht der Sonne und die Dunkelheit des Grabes werden sich dort vereinen. Was meint er damit?“

„Wir werden morgen weitersehen.“ Der Professor sah auf die Uhr. „Fast Mitternacht. Senior Zanolla, haben Sie alle Aufnahmen im Kasten?“

Der Angesprochene verneinte, während er gedankenverloren die fotografischen Geräte verstaute. „Um die restlichen Seiten werde ich mich morgen kümmern.“

„Lafette, Dumont. Sie sind mir für die Schriften verantwortlich. Sehen Sie zu, dass sie keinen Schaden erleiden. Wir werden morgen nach dem Frühstück das Geheimnis der Tunika weiter ergründen.“

*

„Haben Sie Luigi gesehen, Monsieur Lafette?“, fragte Rosenbaum, als sich die beiden am Morgen zum Frühstück trafen. „Was soll das bedeuten? Es ist nichts vorbereitet. Will er uns verhungern lassen?“

Lafette blieb nur ein hilfloses Achselzucken. „Ich werde Kaffee kochen“, sagte er und machte sich im Küchenbereich zu schaffen.

„Morgen George!“, rief er seinem Kollegen zu, der augenreibend das Zelt betrat. „Haben Sie Luigi gesehen? Würden Sie mal nachschauen, ob er noch in seiner Koje liegt?“

Aber man suchte Luigi Zanolla vergebens. Seine Lagerstatt war verlassen, ein Teil seines Gepäcks fehlte. Und es fehlte einer der beiden Geländewagen samt einem großen Kanister mit Treibstoff. Doch was am schwersten wog, war die Tatsache, dass Zanolla die fotografischen Aufnahmen, die er von den Schriften Joshuas gefertigt hatte, mitgenommen hatte.

„Wenn die Kopien in falsche Hände kommen, sind wir nicht mehr sicher hier“, sinnierte Professor Rosenbaum vor sich hin. „Wer auch immer die Schriften in die Hände bekommen mag, er wird feststellen, dass sie nicht vollständig sind. Man wird die fehlenden Teile bei uns suchen. Wir werden von hier verschwinden müssen.“

„Was hat Luigi vor?“ George Dumont sah den Professor erwartungsvoll an. „Er ist nicht einmal in der Lage, die Schriften zu entziffern.“

„Er sicherlich nicht, da haben Sie Recht“, nickte Rosenbaum und stützte den Kopf in seine rechte Hand.

„Aber der Klerus beherbergt zahlreiche Menschen, für die es ein Leichtes sein wird, den Inhalt in kürzester Zeit übersetzen zu können.“

„Aber es weiß doch niemand, was tatsächlich hinter der Angelegenheit steckt“, sagte Lafette, während er sich die Hände in einem mit Wasser gefüllten Kunststoffeimer wusch. „Und wenn … ja, wenn diese Tunika tatsächlich existieren sollte, weiß doch niemand, wo sie zu finden ist.“

„Genau das ist der Punkt, Monsieur. Was ich Ihnen gestern Abend nicht erzählt habe, ist die Tatsache, dass in den Pergamenten auf den Aufbewahrungsort hingewiesen wird. Teile dieser Aussagen befinden sich in den Unterlagen, die Luigi mitgenommen hat.“

„Das haben Sie uns verschwiegen? Aus welchem Grund?“

„Weil ich es auch erst seit kurzer Zeit weiß. Während Sie in Morpheus Armen ruhten, habe ich mich heute Nacht mit den Pergament-Blättern beschäftigt.“

„Was haben Sie herausgefunden?“ Lafette trocknete seine Hände ab und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Professor. Dumont rückte näher an die beiden heran und der Professor begann zu erzählen.

„Dieser … Joshua hat die Tunika versteckt. So kann man es verstehen. Das steht zweifelsfrei außer Frage.“

„Aber wo hat er sie versteckt?“

„Sagen Sie es uns!“, drängte Lafette.

„Nichts überstürzen, meine Herren!“, lächelte Rosenbaum. „Erst einmal müssen wir von hier verschwinden. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass wir bald unangemeldeten Besuch bekommen werden.“

George, der dem Dialog interessiert zugehört hatte, fragte:

„Warum sollte man uns dann noch behelligen. Wer die Briefe auch immer besitzt, er wird den Verwahrungsort ausfindig machen.“

„Genau das ist der Punkt, meine Herren. Das eben wird nicht der Fall sein. Unser lieber Joshua hat da nämlich vorgesorgt. Er hat in die Schriften einen Code eingebaut.“

„Und den zu ergründen bedarf es der gesamten Schriften, habe ich Recht?“

„Davon gehe ich aus, mein Freund.“ Rosenbaum sah erst George, dann Lafette nachdenklich an.

„Man wird versuchen, in den Besitz der Schriften zu kommen. Ich denke, wir sollten unsererseits versuchen, diesen verdammten Code so schnell wie möglich zu entschlüsseln, um dem geheimnisvollen Ort auf die Spur zu kommen. Doch dazu müssen wir erst einmal von hier verschwinden.“

Showdown Jerusalem

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