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Kapitel 3

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Rom, vier Tage zuvor

Commissario Marcello Sparacio verstaute in seinem Büro in der zweiten Etage des Polizia-Commissariato in der Via Portuense die letzten polizeilichen Utensilien des täglichen Gebrauchs in seiner Schreibtischschublade.

Seine Dienstpistole und seinen Polizeiausweis hatte er vor sich abgelegt, bereit, beides im dienstlichen Safe zu deponieren. In den kommenden vier Wochen würde er auf all diese Dinge verzichten können. Nichts würde ihn in seinem Urlaub an den kriminellen Sumpf in Rom erinnern.

Wie er seinen Urlaub verbringen würde, hatte er genauestens geplant. Er würde mit Sofia dem Stiefel gegen Süden folgen, mit dem Zug, versteht sich. O mia bella Napoli. Dort würden beide eine schöne Zeit verbringen. Ohne Auto, ohne Telefon, Hand in Hand mit Sofia, den ganzen Tag lang. Niemand würde ihn stören. Vier Wochen! Vier Wochen, die ein kurzes neues Leben bedeuteten.

Sparacio war zufrieden. So zufrieden wie selten in letzter Zeit. Den Urlaub in diesem Jahr hatte er Sofia, seiner Frau versprochen, doch bis zum heutigen Tage hatte er nicht daran geglaubt, dass es auch dazu kommen würde.

Gerade wegen Sofia tat es ihm gut. Sie hatte es verdient, einmal richtig auszuspannen. Abend für Abend hatte sie auf ihn gewartet, doch der Dienst hatte es in den seltensten Fällen zugelassen, gemütlich mit ihr gemeinsam am Abendtisch zu sitzen.

„Was werden sie mit so langen vier Wochen anfangen, Commissario?“, schreckte ihn plötzlich die Stimme von Sergente Enzo Sciutto auf. Er war so in Gedanken versunken, dass er ihn nicht hatte kommen hören.

„Vier Wochen sind eine endlose Zeit in unserem Beruf.“

„Sofia wird es mir schon sagen“, lächelte Sparacio, wobei seine stahlblauen Augen schelmisch funkelten. Er drückte die Schreibtisch-Schublade mit seinem rechten Knie zu.

„Sie hat schon nicht mehr daran geglaubt, einen Urlaub mit mir gemeinsam zu erleben. Aber sie hat es verdient, dass es nach langer Zeit nun endlich dazu kommt.“

„Ja, der Dienst in Rom…“ Der Sergente hob die Augen gen Himmel.

„Den Dienst in Rom verrichte ich nun schon über 25 Jahre“, brummte Sparacio und der Glanz in seinen Augen schien wie weggeweht. Er sah zu seinem Partner hinüber.

„In dieser Zeit haben Sofia und ich einen … Sie hören richtig, Sergente … einen einzigen Urlaub gemeinsam verbracht. Aber dieses Jahr … dieses Jahr werden wir meinen Geburtstag zu zweit feiern. Fern von hier. Ungestört. Kein Telefon. Kein Handy.“

„Sie haben Recht, Commissario“, seufzte Sciutto und breitete in typisch italienischer Weise theatralisch die Arme auseinander. „Fünfzig wird man nur einmal im Leben.“

Dann fiel die weitausholende Geste auf einen Schlag in sich zusammen und die angewinkelten Arme wippten mehrere Male auf und ab, wobei sich Daumen und Zeigefinger der jeweiligen Hände an ihren Spitzen berührten.

„Mich wird man für diese Zeit einem anderen Commissario zuteilen“, seufzte der Gendarm theatralisch. „Ich werde zusehen müssen, dass ich mich nicht zu sehr an ihn gewöhne.“

Sparacio warf Sciutto einen amüsierten Blick zu. Er ist schon eine treue Seele, dachte er bei sich. Er weiß, dass er niemals Commissario werden kann, aber er weiß auch, dass für mich sein Dienstgrad nicht zählt. Dass ich ihn brauche, dass wir gut zusammenarbeiten.

Eigentlich waren der Commissario und er zwei völlig unterschiedliche Typen, was das Äußere anbelangte. Sciutto war einen Kopf kleiner als sein Chef, aber er war ein drahtiger Typ, einer der sich in eine Sache, von der er überzeugt war, festbeißen konnte und wie ein Bullterrier so lange seine Zähne fletschte, bis seine Kundschaft es vorzog, den Kürzeren zu ziehen.

Sparacio war der Besonnenere der beiden, was nicht bedeutete, dass er nicht zuweilen eine gewisse Härte, ja erforderlichenfalls darüber hinaus einen Tick Brutalität an den Tag legen konnte, wenn er es denn für erforderlich hielte.

Sciutto war von Haus aus Carabinieri, doch der Commissario hatte es durchgesetzt, auf ihn für seine dienstlichen Belange zurückgreifen zu können. Solange diese Zusammenarbeit funktionierte, gab es aus der Chefetage kein Veto gegen diese Art der dienstlichen Symbiose.

Das Alter der beiden war nahezu identisch und diese Tatsache hatte schon für manche Übereinstimmung in ihren Ansichten gesorgt.

Als Team sind wir schon okay, sagte sich Sparacio, betrachtete sich noch einmal seinen aufgeräumten Schreibtisch und nahm Pistole und Dienstausweis an sich, um ihn auf dem Weg in die Etage unter ihm im Tresor der Geschäftsabteilung zu deponieren.

„Ich werde dann mal einen Abflug machen, Sciutto“, sagte er und streckte dem Sergente die Hand mit einem kräftigen Druck zum Abschied entgegen. Gerade als er die Tür hinter sich schließen wollte, läutete das Telefon.

„Gehen Sie ran Sciutto!“, rief Sparacio seinem Kollegen zu. „Ich bin dann mal weg.“

Aber irgendwie war dann seine Neugier doch zu groß und er verharrte in der Tür, wohlwissend, das Sciutto ihm ein verneinendes Zeichen geben und mit der erhobenen flachen Hand zum Abschied zuwinken würde.

Doch er täuschte sich. Die Handbewegung des Sergente war eine andere.

„Für Sie, Chef!“, rief er Sparacio zu und gab ihm mit der Bewegung seiner linken Hand, die rechte hielt die Membran der Sprechmuschel zu, entsprechende Zeichen.

Immer noch lächelnd ergriff Sparacio den Hörer, hörte dem Anrufer wortlos zu, nickte schließlich und legte auf.

„Der Capo verlangt nach mir, Sergente“, rief er mit ausgestreckten Armen und lachte. „Will mir und Sofia sicher einen angenehmen Urlaub wünschen. Wir sehen uns in vier Wochen. Machen Sie es gut, Sciutto. Und werden Sie mir nicht abtrünnig!“, rief er im Hinausgehen.

Sciutto hörte draußen die festen Schritte seines Chefs und dann das Schlagen einer Tür.

„Vier Wochen!“ Sciutto breitete die Arme aus und schlug die Augen gen Himmel. „Vier lange Wochen! Was wird in dieser Zeit aus mir?“

*

„Treten Sie näher, Commissario! Na, wie geht es Ihnen?“ Ein Schimmer von Scheinheiligkeit schwang in der Frage des Vorgesetzten mit. „Kommen Sie! Bitte! Schließen Sie die Tür! Es tut mir leid, aber …“

Sparacio fühlte ein Drücken in seiner Magengrube.

„Es tut mir leid“, vernahm er die Wiederholung des begonnenen Satzes und der Druck in seiner Magengegend verstärkte sich.

„Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie.“

„Chef?“ Sparacio ließ die wuchtige Tür des opulenten Chefbüros hinter sich zufallen und spürte, wie ihm etwas die Brust zuschnürte. Er ahnte, dass all seine Planungen wie ein Kartenhaus zerfallen würden.

Nur das nicht! Bitte nicht, dachte er inbrünstig flehend. Und als wäre es die Bestätigung seiner Gedanken, hörte er die Stimme seines Vorgesetzten.

„Es wird nichts aus Ihrem Urlaub, Commissario. Vorerst nicht. Tut mir leid.“

Commissario-Capo Leonardo Balestra erhob sich hinter seinem Schreibtisch und kam auf den ungläubig dreinschauenden Sparacio zu. Er lächelte, fast väterlich, als er kurz den linken Oberarm des Commissario berührte, so wie ein Arzt, wenn er einen persönlichen Kontakt mit einem Patienten herstellen wollte.

„Es tut mir aufrichtig leid, aber ich brauche Sie“, sagte er bestimmt. „Ich brauche Sie heute, jetzt und hier. Sie sind mein bester Mann und die Ermittlungen, die Sie leiten werden, verlangen nach Einfühlungsvermögen und einem gewissen Maß an Diskretion. Gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber der Presse, Sie verstehen?“

Balestra nahm wieder hinter seinem wuchtigen Schreibtisch aus Mahagoni Platz, ohne eine Antwort zu erwarten und stützte seinen Kopf, deren letzte verbliebene Haare er mit einem Rasiermesser zu Leibe gerückt war, auf die verschränkten Hände. Er sah den stumm und verständnislos dreinschauenden Sparacio kurz an, ehe er weiterfuhr.

„Auf dem Petersplatz ist ein Mord geschehen“, hörte Sparacio die sonore, angenehme Stimme seines Vorgesetzten, während der sich ein imaginäres Staubkorn vom Ärmel seines dunkelblauen Sakkos schnippte. „Die Nachricht kam vor einigen Minuten rein. Die Carabinieri und die Polizia Scientifica sind bereits vor Ort.“

„Ein Mord?“ Sparacio spürte, wie sich weiterer Unmut in seinem Körper breitmachte. „Ein Mord? Das kann doch ein anderer Kollege übernehmen. Mein Urlaub …!“

„Sie werden den Fall übernehmen! Ich habe es so beschlossen!“ Balestras Ton ließ keine Widerrede zu und resignierend presste Sparacio die Luft, die er für sein Dementi eingesogen hatte, aus seinen Lungen. „An dieser Sache scheint mehr dran zu sein, als dass es sich nur um einen gewöhnlichen Mord handelt“, fuhr der Commissario Capo in eindringlichem Tonfall fort. „Ein Mann erschien aufgeregt bei der Schweizer Garde und verlangte, in dringender Angelegenheit in den Vatikan vorgelassen zu werden. Vor den Augen der Garde traf ihn kurz darauf eine Gewehrkugel tödlich.“

Balestra drückte seinen schlanken Körper in die Poster seines Drehsessels und wippte mit der Rückenlehne vor und zurück.

„Es muss ein guter Schütze gewesen sein, denn er schoss vom Dach eines Geschäftshauses am Beginn des Petersplatzes auf sein Ziel“, fuhr der Capo fort, ohne die verzweifelte Gestik von Sparacio zu beachten. „Das sind fast 400 Meter, Sparacio. Ein verdammt guter Schütze. Was war so wichtig, dass er den Mann erschießen musste? Was meinen Sie? Glauben Sie immer noch, dass es sich um einen gewöhnlichen Mord handelt, Commissario?“

„Ich kann meinen Urlaub also als gestrichen betrachten?“ Sparacios Hoffnungspegel hatte sich bei null festgesetzt. Er sah seine enttäuschte Sofia förmlich vor seinen Augen und schüttelte verständnislos den Kopf.

Balestra schien seine Gedanken zu erraten.

„Sie werden Ihren Urlaub bekommen, Commissario. Sobald dieser Fall geklärt ist. Und was Ihre Frau angeht: Meine Empfehlung. Sie werden es ihr schon beibringen.“

*

Bereits von Weitem erkannte Sparacio die Ansammlung von Menschen, die rotierenden Blaulichter und hektisch herumlaufenden Carabinieri auf der Piaz-

za Retta.

Sciutto, der angesichts der weiter stattfindenden Zusammenarbeit mit dem Commissario mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht den mit Blaulicht bestückten Alfa Romeo steuerte, bahnte sich unter Zuhilfenahme der unangenehm misstönenden Hupe seinen Weg bis hin zu den Wachhäusern der Gardisten.

„Kommen Sie!“ Sparacio warf die Fahrzeugtür hinter sich zu. Er eilte, sein Jackett zuknöpfend dorthin, wo er die Dienstmützen der uniformierten Kollegen sah und pflügte sich einen Weg durch die gaffende Menge, Sciutto in seinem Sog. Dann stand er vor ihm, vor dem Mann, der auf dem Rücken liegend förmlich in seinem Blut schwamm. Der Mann war tot. Die Arbeit an ihm hatte Zeit.

„Was ist passiert? Was wurde veranlasst?“, wandte er sich an den Dienstgradhöchsten in der Gruppe. „Wie ist Ihr Name?“

„Ich bin Ispettore Folco Merano“, erwiderte der Angesprochene und salutierte mit steifem Rücken. Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm in Richtung der Piazza San Pietro.

„Der Schuss muss aus dieser Richtung gekommen sein“, sagte er. „Offensichtlich vom Dach eines der vorderen Häuser an der Piazza Pio XII. Das dort, mit dem Souvenirladen im Erdgeschoss.

Sparacios Blick folgte dem gestreckten Arm des Gendarmen zu dem Gebäude, das auch ihm für einen Anschlag dieser Art durchaus geeignet erschien.

„Meine Leute durchsuchen gerade das Gelände und die Häuser“, hörte er den Kollegen sagen. „Aber ich mache mir kaum Hoffnung, dass sie Erfolg haben werden, Commissario. Sie sehen ja selbst. Bei dieser Entfernung hatte der Schütze ausreichend Zeit, nach der Tat zu verschwinden.“ Sparacio verfolgte erneut mit seinen Augen die gedachte Linie vom ausgestreckten Arm des Carabinieri ausgehend bis hin zu der vermuteten Abschussstelle.

„Ein verdammt guter Schütze“, sagte er mehr zu sich selbst. „Ein Profi. Ihre Leute sollen jeden Zentimeter durchkämmen! Nach Geschosshülsen, nach Zigarettenkippen, nach Finger und Fußspuren, nach jeder Kleinigkeit“, gab er schließlich Anweisung an Merano. „Ich möchte über jede Einzelheit informiert werden! Was ist mit der Polizia Scientifica?“

„Wir sind mit der Spurensicherung fertig, Commissario“, meldete sich einer der Nichtuniformierten, der auf dem Boden kniend im Begriff war, einen metallenen Koffer zu verschließen. „Sie erhalten meinen Bericht. Das Projektil …“

Er erhob sich aus seiner hockenden Stellung und zeigte auf den Toten. „Das Projektil ist die die Brust eingedrungen und hat den Körper durchschlagen, als wäre er aus Watte. Es ist dort hinter Ihnen in die Wand eingeschlagen und hat dort ein faustgroßes Loch hinterlassen.“

Sparacio nickte. Er kannte den Kollegen. Andrea di Silvio von der Spurensicherung. Ein brauchbarer Mann.

„Eine Militärwaffe, offensichtlich. Wer ist der Mann? Hat er Ausweispapiere dabei?“

Di Silvio nickte kurz und reichte ihm eine Plastiktasche.

„Seine Brieftasche, Reisepass, etwas Geld, diverse Kassenbons, mehr ist da nicht. Der Mann heißt Luigi Zanolla und wohnt laut seinem Passaporto in San Vittorino, einem Vorort von Rom. Wir haben das überprüft. Seine Wohnung liegt an der Piazza del Castello. Die Anwohner sagen, der Inhaber sei mehrere Monate nicht dort gewesen. Aus beruflichen Gründen, vermuten sie.

Der Beamte zuckte die Schultern.

„Sonstige persönlichen Gegenstände? Briefe, Anschriften? Hinweise auf Bekanntschaften des Toten?“

„Nichts Besonderes, Commissario“, meldete sich ein zweiter Kollege der Spurensicherung. „Lediglich eine kleine Digitalkamera. Aber wertlos. Da ist kein Chip drin.“

„Wertlos, sagen Sie?“ Sparacio sah den Kollegen verständnislos an. „Wertlos? Sie wissen doch sicher, dass ein Chip zum Fotografieren nicht zwingend notwendig ist?“

„Nein Commissario. Meine Frau und ich fotografieren noch mit einer alten …“

Sparacio schüttelte den Kopf, was den Carabinieri dazu veranlasste, seinen Satz abrupt abzubrechen. Er murmelte etwas vor sich hin, von dem es besser war, dass es der Kollege nicht hören konnte.

„Wo ist die Kamera? Geben Sie her!“

Eingeschüchtert reichte der Kollege ihm eine Plastiktüte und Sparacio entnahm ihr die Kamera, schaltete sie ein und überprüfte den Inhalt auf dem internen Speicher. Dann schüttelte er den Kopf.

„Nichts. So ein Mist! Wo ist diese verdammte Karte?“

Dann wandte er sich dem Kollegen zu, der einen erleichterten Eindruck machte.

„Wie ist Ihr Name?“, fragte er betont freundlich.

„Folco Testa, Commissario. Es tut mir leid, ich …“

„Hören Sie, Testa! Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Legen Sie sich eine digitale Kamera zu. Eine einfache. Eine kleine“, sagte er fast liebenswürdig. „Es gibt da schon preiswerte Exemplare. Nicht nur Ihre Frau, auch die italienische Polizei wird es Ihnen danken.“

Der Angesprochene nickte ergeben, doch seine Antwort konnte Sparacio, der sich wieder seiner Arbeit zugewandt hatte, nicht mehr hören: „Si, Commissario. Si. Ich werde es tun. Gleich morgen werde ich mir eine Kamera zulegen. Versprochen, Commissario. Gleich morgen.“

*

„Adieu, Luigi!“

Der Mann auf dem Dach des Hauses an der Piazza Pio XII warf einen letzten Blick auf die Stelle, wo das Leben eines Menschen durch seine Hand erloschen war.

Jean-Pierre Merlot schraube in aller Ruhe den Lauf des Gewehres vom Schaft, entfernte das Zielfernrohr und verstaute die Teile in einer Sporttasche, die er für den Transport ausgewählt hatte. Er selbst war mit einem grauen Sportanzug bekleidet, wie ihn viele Menschen in der Stadt zum Joggen benutzten. An den Füßen trug er passende Sportschuhe, ebenfalls in grau. So gekleidet würde niemand Verdacht schöpfen, wenn er die Straßen Roms entlangeilte. Keine Besonderheit: Ein Sportler auf dem Weg ins Fitnessstudio.

Er zerrte den Reißverschluss der Tasche zu und streifte mit seinen Blicken den kalten Betonboden des flachen Daches, von dem aus er den Schuss, und nur den einen, vermerkte er innerlich stolz, abgegeben hatte.

Nach diesem Schuss hatte er die Waffe erneut durchgeladen. Für alle Fälle. Doch es war nicht erforderlich geworden, den Abzug ein weiteres Mal durchzuziehen. Er spürte, wenn er traf. Er spürte aber auch, wenn er sein Ziel verfehlte. Heute hatte er getroffen. Mit einem Schuss. Mit dem ersten Schuss.

Sein Blick streifte weiterhin den Boden. Er suchte nach der Patronenhülse, die beim Nachladen aus der Patronenkammer geschleudert worden war. Seine Blicke tasteten ins Leere. In gebeugter Haltung schritt er die nähere Umgebung seines Aufenthaltes ab und sah schließlich die Hülse. Sie war durch einen Regen-Siphon gefallen und lag für ihn unerreichbar im Auffangnetz unterhalb des metallenen Gitters.

Merlot kniete nieder, wobei sich sein mächtiges Kreuz nach hinten wölbte und nun konnte man die kräftigen Halsmuskeln sehen, die der zurückweichende Kragen des Trainingsanzuges freigab. Alles in allem besaß er für seine achtundvierzig Jahre einen durchtrainierten Körper und bei einer Größe über einen Meter neunzig hatte seine Statur schon manchen Gegner das Fürchten gelehrt.

Andere Menschen einschüchtern, das hatte er gelernt, hatte es zu seiner Profession gemacht. In der Légion Étrangère hatte er acht Jahre lang gedient. Seiner Brutalität und seinem nach vorne drängenden Engagement hatte er es zu verdanken, dass er schon bald in den Rang des Adjutant Chefs aufstieg und für die Ausbildung der gewöhnlichen Mannschaft verantwortlich wurde.

Während des Golfkrieges gegen Saddam Hussein 1991 war er Mitglied der „Division Daguet und nahm an der erfolgreichen Operation „Desert Storm“ und in den Folgejahren an den friedenssichernden Maßnahmen in Kambodscha, Somalia und Ruanda teil.

Er hatte gelernt, Menschen mit der bloßen Hand umzubringen, er hatte alle möglichen Waffengattungen studiert, sich in sie hineingelebt. Inzwischen konnte er einer Fliege auf tausend Meter ins Auge schießen.

Die Patronenhülse war zu tief in den Abflussbehälter gefallen. Er gab sein Vorhaben auf, sie dort herauszufischen und als er sich erheben wollte, verharrte in seiner Bewegung.

Dann plötzlich waren sie da, die Polizeisirenen, genau unter ihm auf dem Largo del Colonnato. Merlot beugte sich tief in die Hocke und versuchte, über die niedrige Brüstung auf die Straße unter ihm zu sehen. Dazu musste er sich flach auf den Boden legen, um zu verhindern, dass man seiner gewahr wurde.

Aus zwei der blau weißen Alfa Romeos sprangen jeweils zwei uniformierte Carabinieri und bahnten sich durch eine Traube von Touristen den Weg zum Eingang des Gebäudes.

Merlot wusste: Das galt ihm. Man hatte die Schussrichtung lokalisiert und vermutete den Schützen offensichtlich gerade hier, genau auf diesem flachen Dach.

Merlot sah sich um. Er suchte einen Fluchtweg. Es gab keinen. Keinen außer dem Weg über das Treppenhaus, den er hierher genommen hatte und den die Carabinieri gerade nahmen.

Er fasste seine Tasche mit dem verstauten Gewehr und rannte zu der Tür, die von unten herauf zum Dach und damit zu ihm führte.

Es gab für ihn keinen anderen Ausweg. Er würde das tun müssen, was er am besten konnte. Er würde kämpfen. Es waren drei Polizisten.

Bilder schossen ihm durch den Kopf. Drei? Was waren schon drei? Er hatte es mehrfach mit bedeutend mehr Angreifern zu tun gehabt. Stets war er als Sieger hervorgegangen. Immer waren es Kämpfe auf Augenhöhe gewesen. Anders als heute. Heute war er von vorneherein im Vorteil. Sie mussten durch diese Tür dort kommen, nacheinander. Sie waren Polizisten, keine Kämpfer, so wie er. Sie hatten keine Chance in seinen Augen.

Er setzte seine Tasche ab und schob sie mit dem Fuß einen halben Meter hinter sich. Dann griff er in den Hosenbund auf seinem Rücken und förderte eine großkalibrige Pistole zutage, zog das Magazin heraus und nickte zufrieden. Er lud sie durch und umfasste den kalten metallenen Griff.

Dann atmete er tief ein und spannte die Muskeln seines Körpers, beginnend bei den Schultern bis hinab zu den Unterschenkeln, dass seine Kleidung sich straffte. Er war bereit. Bereit zum Kampf auf Leben und Tod.

Merlot wartete. Er stand neben der Tür, so, dass sie sich in die entgegengesetzte Richtung öffnen würde.

Er hörte leise Schritte. Flüstern. Sie kamen herauf. Sie wähnten sich sicher.

Merlot konzentrierte sich kurz auf den Verkehr unter ihm auf dem Largo del Colonnato. Keine Polizeisirenen. Man hatte keine Verstärkung angefordert. Vielleicht war man sich nicht sicher, den Schützen hier anzutreffen, oder die Beamten hatten so viel Selbstvertrauen, dass sie glaubten, alleine mit der Situation fertig zu werden.

Die Schritte auf der Treppe kamen näher. Merlots Muskeln spannten sich erneut. Er war bereit. Dann ging alles sehr schnell. Zu schnell für die Carabinieri. Da Merlot die Tür zum Treppenhaus wie zu einer Einladung geöffnet hatte, tastete sich der erste der Gendarmen mit vorgehaltener Maschinenpistole vor. Kaum dass er die letzte Stufe erreicht hatte und der Lauf seiner Waffe einige Zentimeter ins Freie ragte, hatte Merlot diese mit der rechten Hand am Lauf gefasst und dem Carabinieri aus der Hand gerissen.

Durch die Wucht des Zuges wurde dieser nach vorne geschleudert, wobei er über die letzte Stufe der Treppe stolperte und nach vorne auf den Boden fiel. Ein Schlag mit dem Kolben der Waffe in Merlots Händen auf den Kopf des Daliegenden reduzierte die Gegner auf nunmehr zwei.

Die Schritte auf der Treppe verwandelten sich nun in Gepolter, gefolgt von zwei kurzen Salven aus einer Maschinenpistole, die in die Brüstung unterhalb des Geländers einschlugen.

Merlot wusste, was er nun zu tun hatte. Er wusste, was in den beiden Gendarmen vorging. Sie würden auf ein Geräusch lauschen, ein Geräusch, das er verursachen würde, ein Geräusch, mit dem sie hofften, ihn lokalisieren zu können. Er musste diese minimale Überlegungszeit ausnutzen.

Er legte die Maschinenpistole auf dem Boden ab und zog seine eigene Pistole aus dem Holster. Sie hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Dann glaubte er den richtigen Zeitpunkt gekommen.

Mit vorgehaltener Waffe sprang Merlot in die Türöffnung und eröffnete das Feuer auf die Gendarmen, die mit einem solchen Angriff nicht gerechnet hatte.

Die Kraft der Einschläge in ihren Körpern warf sie nach hinten auf die Stufen, so dass sie mit hochgerissenen Armen und verdrehten Gelenken bis zum Treppenabsatz hinunterfielen, wo sie übereinander in einer immer größer werdenden Blutlache reglos liegenblieben.

Merlot fasste seine Tasche mit dem Scharfschützengewehr und warf einen letzten Blick auf den Petersplatz, auf dem die Anzahl der rotierenden Blaulichter der Polizeiautos zunahmen.

Dann lief er die Treppe hinab, vorbei an teils ängstlich weglaufenden, teils schreienden Passanten und eilte die zweihundert Meter zur Piazza Pia, wo er seinen Wagen verschlossen und mit einer Parkscheibe versehen abgestellt hatte.

Niemand nahm von Merlot Notiz, als er kurz darauf den unscheinbaren klapprigen Fiat, einen dunkelblauen Leihwagen der Mittelklasse, den er unter falschem Namen angemietet hatte, in einer abgelegenen Gasse abstellte.

In der Absteige in der Via Cassiodoro, in der er sich eingemietet hatte, würde er für die nächsten Stunden sicher sein. Doch erst hatte er noch etwas zu erledigen.

*

„Eine bodenlose Sauerei!“, tobte Commissario Capo Leonardo Balestra, wobei er in seinem Büro auf und ab lief. Wie konnte das geschehen? Hat man geglaubt, der Schütze ergibt sich, sobald er Polizeiuniformen sieht? Hat man den Beamten nicht gesagt, was sie unter Umständen in dem Haus erwartet?“

Commissario Sparacio hatte keine Ahnung. Er hatte die Carabinieri nicht zum Haus am Largo del Colonnato beordert. Das war bereits vor seinem Erscheinen am Tatort geschehen.

Nun stand er mit Balestra, den es nicht mehr in seinem Büro gehalten hatte und Enzo Sciutto auf dem Dach des Hauses, auf dem der Kampf zwischen dem Mörder Zanollas und den Gendarmen stattgefunden hatte.

Die beiden Toten und den durch einen Kolbenschlag schwer verletzten Carabinieri hatte man bereits abtransportiert. Überall wimmelte es von Beamten der Spurensicherung.

„Untersuchen Sie jeden Zentimeter!“, hatte Sparacio ihnen aufgetragen. „Patronenhülsen, Zigarettenkippen, Fußspuren, einfach alles!“

Sparacio trat an die Balustrade des Daches und sah über den Petersplatz, stellte sich den Weg vor, den die Gewehrkugel des Mörders genommen hatte.

„Ein verdammt guter Schütze“, murmelte er vor sich hin. „Dieser Mann ist ein Profi. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass er uns noch einige Sorgen bereiten wird.“

„Commissario!“

Sparacio drehte sich zu dem Rufer um. Einer der spurensichernden Kollegen, ein junger schlaksiger Mann, winkte ihm aufgeregt zu. Mit einem letzten Blick über den Petersplatz begab er sich zu dem Mann, der mit dem Finger auf den Boden zeigte.

„Ein Siphon“, sagte er. „Es gibt davon mehrere hier auf dem Dach. Sie halten den Schmutz des Regenwassers zurück. Aber nicht nur das Regenwasser. Sehen Sie selbst!“

Der Stolz des jungen Kollegen war unverkennbar und als Sparacio näher hinsah, fiel ihm das glänzende Teil neben dem Unrat ins Auge.

„Gut gemacht, Kollege! Das ist die Patronenhülse einer Langfeuerwaffe. Es wurde nur ein Schuss abgegeben, also wird es die einzige Patrone ihrer Art sein.“

Kurze Zeit später hielt Sparacio die Hülse in seiner Hand. Spätestens von diesem Moment an wusste er, dass er es mit einem Profi zu tun hatte. Er hielt sie Balestra und Sciutto unter die Nase.

„Ein Scharfschützengewehr Kaliber. 50. Ich tippe auf ein Barrett. Die Krone der Erfindung, wenn es um Präzision und Reichweite geht.“

„Sie vermuten doch. Oder sind Sie sich etwa sicher?“ Balestra schaute Sparacio ungläubig an.

„Das Kaliber ist ungewöhnlich und außer einer Barrett ist mir derzeit kein Scharfschützengewehr mit einem solchen bekannt.“

„Und damit kann man auf 400 Meter einen Menschen erschießen?“

„Vorausgesetzt, der Schütze benutzt ein entsprechendes Zielfernrohr. Diese Waffe kommt zum Einsatz, wenn größere Entfernungen und eine massive Durchschlagskraft benötigt werden. Mit diesem Gewehr sind Treffer auf eine Entfernung von bis zu 1,8 Kilometer möglich. Das muss man sich einmal vorstellen!“

Sparacio drehte sich zu dem Kollegen um, der die Hülse gefunden hatte. „Was ist mit den Hülsen am Treppenaufgang?“

„Es handelt sich um Pistolenmunition, Commissario. Kaliber 44 Magnum. Es sind auch Einschläge in der Wand des Treppenhauses vorhanden. Wir werden die Geschosse sicherstellen und vergleichen. Sie erhalten den Bericht so schnell wie möglich.“

*

Monsignore Paolo Tremante starrte auf den elektronischen Chip zwischen den Spitzen seines Daumens und Zeigefingers und sah den Gardisten, der sich stramm vor ihm aufgebaut hatte, fragend an.

„Dieser Chip dort …“ Wachmann Enzo Bertani deutete mit einer Kopfbewegung auf das kleine etwas in der Hand seines Chefs. „Er stammt aus der Kamera des Toten … des Ermordeten.“

Tremante nickte nachdenklich und zog die Stirn besorgt in Falten.

„Ein Mord. Ein Mord vor dem Vatikan. Zu den Füßen des Heiligen Vaters. Die Menschen schrecken vor nichts mehr zurück. Erzählen Sie genau, was geschah! Und … Bertani … was hat es mit diesem Chip auf sich? Aus welchem Grund nahmen Sie ihn an sich. Hat die Polizei …?“

„Nein, Monsignore, die Polizei weiß nichts davon. Ich dachte … als der Schuss fiel und der Mann tödlich getroffen zu Boden stürzte … nein, ich dachte nichts, ich tat es einfach. Der Mann war tot, das sah ich sofort. Doch ich versuchte noch, erste Hilfe zu leisten. Da war nichts mehr zu machen. Aber es bot sich die Gelegenheit, die Taschen des Mannes unauffällig zu durchsuchen.“

„Und Sie fanden eine Fotokamera?“

Bertani nickte. Seine Haltung versteifte sich um eine weitere Nuance. Er sah in Richtung seines Vorgesetzten, doch er sah ihn nicht an. Sein Blick haftete sich auf das linke Ohr des Monsignore, als er zu einer Erklärung anhob.

„Dieser Mann stürzte auf die Wachstation zu und verlangte, vorgelassen zu werden.“

„Vorgelassen?“

„Er wollte zu einem meiner Vorgesetzten, wie er sich ausdrückte. Er faselte etwas von einer Nachricht, die die Welt bewegen würde.“

„Und er wollte diese Nachricht dem Vatikan zukommen lassen? Merkwürdig.“ Tremante betrachtete den Chip in seiner Hand. „Warum gerade der Vatikan?“

„Der Mann sagte, die Nachricht, die er überbringen wollte, beinhalte Erkenntnisse, die fundamental für die katholische Kirche sein würden.“

„Sie haben der Kamera den Chip entnommen.“ Tremante sah Bertani anerkennend an.

„Es besteht doch immerhin die Möglichkeit, dass diese Nachricht, die, wie er sagte, fundamental für die katholische Kirche sein würde, auf diesem Chip gespeichert ist. Ich wollte doch nur …“

„Sie wollten doch nur ...?“ Tremante machte einen Schritt auf seinen Gardisten zu, der zusammenzuckte.

„Sie haben das einzig Richtige getan! Ich danke Ihnen. Gehen Sie nun! Und … Bertani … kein Wort über unsere Unterredung und kein Wort über diesen Chip. Zu niemandem. Auch nicht der Polizei gegenüber. Ich kann mich doch auf Sie verlassen?“

Bertani nickte. „Zu Ihren Diensten, Monsignore. Ich werde schweigen wie ein Grab.“

Als die Tür hinter dem Gardisten ins Schloss gefallen war, eilte Tremante in sein Büro, das nur durch eine Tür von dem Empfangsraum getrennt war, zog die Tür ins Schloss und verriegelte sie. Dann öffnete er das Oberteil des Laptops auf dem wuchtigen, massiven Schreibtisch aus Teak und startete das Gerät.

Während der Laptop hochfuhr, betrachtete er den Chip in seiner Hand. Was würde er darauf vorfinden? Sollte er jemanden hinzuziehen?

Nein, das hat Zeit, beschloss er. Er würde die Sichtung alleine durchführen. Vielleicht war ja auch alles falscher Alarm.

Inzwischen hatten sich die Programme des tragbaren Computers eingerichtet und Tremante gab sein Passwort ein. Dann schob er den Chip in den Leseschlitz und als ihm der automatische Start den Inhalt anzeigte, war der Monsignore sichtlich enttäuscht. Was er dort sah, war eine einzige Bilddatei mit dem Dateinamen Brief01.jpg.

Tremante ließ sich auf den violett gepolsterten Stuhl aus dunklem Edelholz hinter seinem Schreibtisch fallen und öffnete die Datei mit einem Mausklick. Dann war er plötzlich hellwach.

Er ahnte sofort, dass ihm das, was sich ihm dort auf der Mattscheibe des Computers eröffnete, zahlreiche schlaflose Nächte bereiten würde.

Die Schriftzeichen, die sich ihm offenbarten, kannte er. Er hatte dergleichen in seiner Laufbahn in zahlreichen Schriften der christlichen Vergangenheit entziffert. Er war einer der wenigen christlichen Theologen, die mit der Umgangssprache Christi vertraut waren. Dem Aramäischen.

Er rückte seinen Stuhl näher an das Gerät und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. Was er dort sah, hielt er für einen Brief. Natürlich. Der Dateiname hatte es ja bereits angekündigt: Brief01.jpg. Doch dieser Brief musste sehr alt sein, das erkannte Tremante an der Struktur.

Ein Apostelbrief!

Ja, es könnte sich um die Fotografie eines Apostelbriefes handeln. Tremante nickte, doch dann stutzte er.

Obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Satz endgültig entziffert hatte, bemerkte er doch, dass der Satz am Ende des Briefes mitten in seinem Gefüge endete.

Enttäuschung machte sich breit auf seinem Gesicht. Vor ihm eine Kopie von offensichtlich mehreren Seiten eines Briefes, der seiner ersten Einschätzung zufolge vor rund zweitausend Jahren verfasst worden war. Aber wo waren die anderen Seiten? Aus wie viel Seiten bestand dieser Brief? Oder gab es deren mehrere?

Tremante zog ein Taschentuch aus dem linken Ärmel seiner Soutane und wischte sich damit über die feuchte Stirn.

Dann begann er zu lesen, Buchstaben für Buchstaben, Silbe für Silbe, Wort für Wort, Satz für Satz. Je mehr er die Schrift auf dem Bildschirm entzifferte, umso schwerer wurde sein Atem. Seine Hände zitterten. Was sich ihm hier mit der Technik der neuesten Errungenschaft auf einem virtuellen sichtbar gemachten Pergament der Vergangenheit offenbarte, war unfassbar. So unfassbar, dass es nie die Öffentlichkeit erreichen durfte, das erkannte er sofort.

Was sollte er tun? Sein Wissen für sich behalten?

Er überlegte kurz. Nein! Der Inhaber der Kamera ist ermordet worden. Wenn diese Tat etwas mit dieser Schrift zu tun hatte, dann wusste außer ihm zumindest ein weiterer Mensch davon. Der Mörder!

Wer war dieser Mann? Wer war der Tote? Wie gelangte er in den Besitz dieser Dokumente? Wer wusste noch davon?

Das Geheimnis, –bis zu diesem Zeitpunkt war es durchaus als ein solches zu bezeichnen, würde keines bleiben. Irgendwann würde eine Gazette davon Wind bekommen und schließlich würde es sich um die ganze Welt verbreiten. Nicht auszudenken. Es musste etwas geschehen. Tremante griff zum Telefon und wählte eine hausinterne Nummer.

„Eminenz, ich muss Sie dringend sprechen.“

Mit zitternder, aber ruhiger Stimme redete er auf seinen Gesprächspartner ein und nickte mehrmals zur Bestätigung. Kardinal Bendetto Camorra war kein Mann von vielen Worten. Wenige Minuten später stand Tremante vor ihm in seinem riesigen Büro, den Laptop unter seinem Arm.

Wortlos starrte der Kardinal auf das virtuelle Schreiben auf dem Bildschirm und murmelte den Text langsam vor sich hin. Dann riss er seinen Blick von dem Brief, der ihm einen derart großen Schrecken eingejagt hatte und durchschritt den Raum, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Gedanken krampfhaft sammelnd.

Kein Zweifel, das Papier war echt. Es musste echt sein, wenn seinetwegen ein Mensch sterben musste. Sicher, er würde es genauestens auf seine Herkunft überprüfen. Doch das hatte Zeit. Auch auf die Gefahr, dass eine Fälschung vorlag, er würde kein Risiko eingehen. Schließlich wandte er sich Tremante zu.

„Wie ist Ihr Eindruck?“

Tremante atmete tief durch. „Ich glaube, es ist noch zu früh, eine Expertise zu wagen. Auf den ersten Blick erinnert dieses Schriftstück an jene Apostelbriefe, die uns Aufschluss geben über das Leben und Wirken Jesu Christi.“

„Die Echtheit?“ Der Kardinal beugte sich erneut über den Laptop und sog den Inhalt des Schreibens zum wiederholten Male in sich auf. „Was ist mit der Echtheit dieses Schreibens? Wer sagt uns, dass es nicht eine Fälschung ist, mit der man ein Geschäft machen wollte?“

„Sie meinen, der Mörder habe dieses Schreiben selbst erstellt …“

„Was mit den Mitteln der heutigen Technik für einen mittelmäßigen Anwender keinerlei Schwierigkeit mehr darstellt.“

„Aber Eminenz“, gab Tremante zu bedenken. „Dann musste der Fälscher Kenntnisse in der aramäischen Sprache haben oder besser, er musste diese Sprache beherrschen und sie der damaligen Zeit im Ausdruck anpassen. Überdies glaube ich nicht, dass jemand so dumm sein kann, Vertretern des Vatikans die Fälschung einer Schrift vorzulegen, von der er annehmen muss, dass wir ihren Wahrheitsgehalt letztendlich bestimmen können.“

Kardinal Camorra nickte. „Wir können uns kein Urteil erlauben, ehe wir nicht im Besitz der restlichen Briefseiten sind. Doch bislang fehlen uns die Identität des Verfassers und der Name des Empfängers.“

„Ebenso ein Gebet für den Empfänger und ein Segenswunsch, wie es für die Apostelbriefe typisch ist“, ergänzte Tremante.

„Wenn es kein Apostel war … wer war der Schreiber dann?“

Tremante überhörte die Frage seines Vorgesetzten und sinnierte: „Dieses Schreiben ist in Aramäisch verfasst und nicht in Griechisch wie die meisten der uns bekannten Apostelbriefe. Aramäisch war die Sprache unseres Herrn, wobei einige der jüngeren Bücher des Alten Testaments bereits auf Griechisch verfasst wurden. Wir wissen, dass Hebräisch in den letzten Jahrhunderten vor Christus und auch zurzeit Jesu eine tote Sprache war. Die Umgangssprache war zu dieser Zeit Aramäisch, die Schriftsprache der Gebildeten aber Griechisch. Also müssen wir doch daraus schließen, dass der Schreiber offensichtlich ein einfacher Mann war.“

„Ein einfacher Mann wohl. Aber er war keiner der uns bekannten Apostel. Das, was hier andeutungsweise zu entziffern ist …“

Der Kardinal hielt mitten im Satz inne. „Monsignore, wir müssen etwas unternehmen. Sofort! Die Zeit wird uns davonlaufen und es ist nicht auszudenken, was geschieht, wenn es uns nicht gelingt, die restlichen Pergament-Seiten in unseren Besitz zu bekommen.“

Er blieb unmittelbar vor Tremante stehen, so dass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem des Monsignore entfernt war und sah ihm direkt in die Augen.

„Sie, Tremante, werden das in die Hand nehmen. Ich verfüge hiermit, dass Sie den Vatikan verlassen und in weltlichem Gewand für Gott und die Menschheit das Original finden werden. Und nicht nur diese eine Seite. Wir brauchen den kompletten Brief, wenn der christliche Friede in Zukunft gewährleistet sein soll.“

„Aber Eminenz, wie stellen Sie sich das vor? Wo soll ich mit der Suche beginnen? Es existieren keinerlei Anhaltspunkte …!“

„Finden Sie heraus, wie der Tote an diese Fotografie gelangt ist. Finden Sie den Mörder, bevor die Polizei es tut. Heften Sie sich an seine Fersen. Dann werden Sie an Ihr Ziel gelangen!“

„Man wird uns die Briefe nicht einfach so herausgeben.“ Tremante atmete schwer. „Ich kann doch nicht mit Gewalt …?“

„Denken Sie stets daran, was auf dem Spiel steht“, sagte Camorra leise, fast zischend. „Jesus Christus ist für die gesamte Menschheit gestorben.“

Das Gesicht des Kardinals war auf einmal wie verwandelt. Fast liebevoll sah er Tremante an, als er sagte: „Auch du hast nun einen Auftrag für die Christenheit zu erfüllen, mein Sohn. Und nun geh! Du wirst den richtigen Weg schon finden!“

*

Jean-Pierre Merlot stoppte seinen unscheinbaren Fiat vor einem bestimmten Anwesen an der Piazza del Castello. Dann beobachtete er das Haus aus seinem Wagen heraus.

In der vierten Etage befand sich die Wohnung von Luigi Zanolla. Er kannte sie. Erst gestern hatte er mit Luigi die halbe Nacht dort durchgesoffen. Es war eine interessante Nacht gewesen, zumindest für ihn. Der Alkohol hatte Zanollas Zunge gelöst und ihm Einblicke in Dinge gegeben, die er kaum zu glauben wagte.

Nun war Zanolla tot. Getroffen von einer Kugel aus seinem Scharfschützengewehr.

Merlot lächelte. Er hatte ihn erledigt, bevor er irgendjemandem von dem erzählen konnte, was er in der vergangenen Nacht ausgeplaudert hatte. Dieser geldgierige Dilettant hatte sein Wissen in den Vatikan transportieren wollen.

Wäre es ihm gelungen … Merlot wollte nicht daran denken. Obwohl, eine Seite der Schriften hatte Zanolla auf dem Chip seiner Digitalkamera, das hatte er ihm gestern Abend selbst erzählt. Aber, mein Freund, hatte er weiter geplaudert, ich habe alles mehrfach gesichert.

Merlot wusste nicht, was Zanolla mit mehrfach gemeint hatte. Hatte er mehrere Kopien eines einzelnen Dokuments oder Kopien von mehreren Dokumenten gesichert? Zanolla hatte dichtgehalten, als er ihn diesbezüglich ausquetschen wollte.

Du bist mein Freund, hatte Zanolla ihm lächelnd geantwortet. Aber auch für Freunde ist es gut, wenn sie manchmal nicht alles wissen.

Merlot stieg aus seinem Fahrzeug aus und überquerte die Straße. Neben dem Eingang des Hauses blieb er stehen und sah sich um.

Es war eine wenig frequentierte Straße, was den Fußgänger aber auch den Fahrzeugverkehr betraf. Niemand der wenigen Passanten, die mit sich selbst beschäftig zu sein schienen, schenkte ihm auch nur einen Teil ihrer Aufmerksamkeit und so fasste Merlot den Entschluss, die Wohnung Zanollas aufzusuchen.

Er drückte gegen die Tür. Sie war verschlossen, automatisch verriegelt. Merlot wollte gerade seinen rechten Zeigefinger auf eine der zahlreichen Klingelknöpfe legen, als er im Flur Schritte hörte. Die Tür öffnete sich und an ihm vorbei stürmte ein etwa 15jähriger Junge mit einem Skateboard unter dem Arm, um dieses auf der Straße fallen zu lassen und sich selbst darauf zu schwingen, gekonnt, wie Zanolla feststellen musste.

Dann hörte er das Schleifen der Haustür über den Fliesen und aus seiner Beobachtung gerissen, stemmte er sich gegen die Tür, gerade noch im rechten Moment. Es hätte kaum eines Zentimeters mehr bedurft und er hätte sich in der gleichen Situation wie zu Anfang befunden.

Merlot mied den Aufzug und nahm die Treppe. Er ließ sich Zeit. In keinem Fall wollte er verdächtig erscheinen, falls ihm jemand begegnete.

Niemand begegnete ihm auf dem Weg bis oben. Dann stand er vor Zanollas Wohnung. Er sah auf die Uhr. Seit dem tödlichen Schuss auf Zanolla waren nun eineinhalb Stunden vergangen. Er musste sich beeilen. Auch die Polizei würde sich für die Wohnung des Toten interessieren.

Merlot nahm ein Etui aus seiner Jackentasche, öffnete es und nahm zielgerichtet zwei schmale Werkzeuge heraus. Eines davon schob er in den Zylinder des Schlosses, das andere führte er darüber ein und bewegte es einige Male seitlich hin und her. Ein leises Klick verriet ihm, dass seine Bemühungen von Erfolg gekrönt waren.

Merlot sah sich noch einmal im Treppenhaus um. Keine Menschenseele weit und breit. Aus einem der oberen Stockwerke hörte er eine keifende Stimme und das ergebene Ja, ja eines Mannes. Die italienischen Frauen, dachte er und nickte. Fast wie bei uns in Frankreich. Ach was, wie überall eben.

Er öffnete die Tür leise und mit einem letzten Blick auf die Treppe verschwand er in der Wohnung Zanollas.

Es roch nach Bier, Schnaps und nach französischen Zigaretten, als er in das Zimmer trat, in welchem er mit Zanolla gestern Abend gesoffen hatte.

Französische Zigaretten! Verflucht! Er musste den Geruch aus der Wohnung verbannen. Wenn die Polizei eintraf, durfte es nach abgestandenem Zigarettenrauch stinken, nicht aber nach abgestandenem französischem Zigarettenrauch. Man würde Schlüsse ziehen. Man würde nach einem Franzosen suchen, der die Bekanntschaft Zanollas gemacht hatte. Wenn alles gegen ihn liefe, würde man einen Bezug zu ihm herstellen.

Merlots Blick huschte durch den Raum, als wolle er alles mit seinen Augen fotografisch festhalten. Dann eilte er zum Fenster und riss es auf. Beide Flügel. Er suchte nach dem Aschenbecher und fand ihn unter einer Illustrierten auf dem Tisch.

Er sah aus dem Fenster. Nein, keine Chance zum Ausleeren. Er musste den Inhalt des Aschenbechers mitnehmen. Er riss eine Doppelseite aus der Illustrierten und schüttete den Inhalt auf das Blatt und wickelte ihn darin ein. Den gefüllten Papierballen verstaute er in seiner rechten Hosentasche.

Dann sah er sich weiter im Raum um. Die Gläser, die Flaschen. Sie alle trugen Fingerabdrücke. Von Zanolla und … die seinen.

Merlot sah erneut auf die Uhr. Wie viel Zeit blieb ihm bis zum Eintreffen der Polizei? Er beschloss, erst die Daten des Computers zu sichten und drückte auf den Startknopf des unförmigen Gehäuses. Während der PC hochfuhr, streifte sich Merlot ein Paar dünne Gummihandschuhe über und wischte mit seinem Taschentuch darüber, um alle Abdrücke zu vernichten. Dann räumte die leeren Flaschen in eine Plastiktüte, die neben einem der zerschlissenen Sessel lag.

Die Gläser auf dem Tisch! Er musste sie auswaschen!

Merlot lauschte auf. Eine Polizeisirene! Waren sie schon auf dem Weg hierher?

Die Windows-Melodie erklang. Der PC war hochgefahren. Merlot sah auf die Gläser, auf den PC. Dann entschied er sich. Mit einer Bewegung seines Unterarms wischte er die Gläser vom Tisch und zertrat sie mit seinen breiten Sohlen zu winzigen Scherben, bis er sich sicher war, dass alle Spuren auf dem Glas vernichtet worden waren. Dann wandte er sich dem Computer zu und zog die Tastatur zu sich heran.

Er brauchte nicht lange zu suchen, dann wurde Merlot fündig. Zanolla hatte sich nicht die Arbeit gemacht, die Dateien zu verschlüsseln, zu verstecken oder mit einem Schlüsselwort zu versehen.

Wichtig, hatte er den Ordner genannt. Merlot lächelte. Wichtig. Etwas Dümmeres war Zanolla nicht eingefallen. Merlot öffnete den Ordner. Insgesamt fünf Dateien waren darin abgelegt. Bild1 bis Bild5 waren die Untertitel. Merlot öffnete die erste Datei.

Verdammter Mist! entfuhr es ihm. Was sich ihm offenbarte war eine Schrift, die er nicht zu deuten wusste. Dass sie alt war, das sah er sofort.

Merlot hatte gestern Abend darum gebeten, einen Blick auf das Schriftstück werfen zu können, doch Zanolla hatte nicht mit sich handeln lassen. Es reicht, was ich dir sage, mein Freund, hatte Zanolla geantwortet. Wenn es so weit ist, werden wir weitersehen.

Merlot sah erneut auf seine Uhr. Im gleichen Moment hörte er draußen Autotüren schlagen. Vorsichtig sah er aus dem Fenster und wusste sofort, wer dort unten angekommen war. Er kannte diese Typen, ja er konnte sie riechen.

Er zog einen Speicherstick aus seiner Jackentasche und begann, die Dateien zu überspielen.

Merlot sah erneut aus dem Fenster. Zwei Männer in Zivil und einer in Uniform standen an der Haustür. Offensichtlich warteten sie darauf, dass man ihnen öffnete.

Die Speicherung war zur Hälfte erfolgt. Merlot verfluchte den Computer Zanollas, ein veraltetes Modell, das einige Zeit für eine solche Aufgabe beanspruchte.

Merlots Augen begannen zu flackern. „Komm schon!“, sagte er laut und umfasste den Stick, um ihn nach Beendigen des Speichervorgangs sofort entfernen zu können.

Es verbleiben noch 30 Sekunden, las er die Mitteilung auf dem Bildschirm. Merlots Atmung wurde hektischer. Es kam ihm vor, als läge er als Legionär mit seinem Scharfschützengewehr irgendwo an einer Front. Sein Herz begann heftiger zu schlagen.

Ein erneuter Blick aus dem Fenster sagte ihm, dass sich die Haustür geöffnet hatte. Ein Uniformierter betrat als letzter das Treppenhaus.

Speicherung beendet. Merlot nahm die Mitteilung wahr und zog den Speicherstick aus dem Slot. Auf einer Anrichte sah er eine Briefmappe liegen. Zanollas Mappe. Mit einer schnellen Bewegung griff er zu. Dann schaltete er den Computer aus und öffnete die Tür zum Flur.

Unten hörte er Stimmen. Die Männer unterhielten sich, während sie die Treppe hinaufstiegen.

Nach unten war ihm der Weg versperrt. Merlot warf einen kurzen Blick auf die Treppe, die in die oberen Geschosse führte.

Die Schritte von unten kamen näher. Er entschied sich. Leise die Tür hinter sich zuziehend schlich er lautlos zur Treppe und eilte die Stufen hinauf. Keinen Augenblick zu früh, denn vom Treppenabsatz der halben Etage sah er bereits die Köpfe der Polizisten, die vor der Wohnungstür Zanollas verharrten.

Es dauerte nicht länger als bei ihm selbst, bis einer der Polizisten die Tür geöffnet hatte. Als die Männer in der Wohnung waren und die Tür sich hinter ihnen schloss, eilte Merlot die Stufen bis zur Haustür nach unten, überquerte die Straße und saß schließlich schwer atmend in seinem Fiat.

Als er nach oben zum Fenster der Wohnung Zanollas sah, bemerkte er, wie einer der Polizisten nach unten sah, als suche er etwas.

Merlot startete seinen Wagen und brauste davon, seiner Absteige in der Via Cassiodoro entgegen.

*

Als Commissario Marcello Sparacio, Sergente Enzo Sciutto und Ispettore Folco Merano an der Piazza des Castello ankamen, standen sie vor dem verschlossenen Eingang zur Wohnung Zanolla.

„Der Hausmeister muss her“, brummte Sparacio. Seine Laune war auf dem Tiefpunkt angekommen. Immer wieder musste er daran denken, wie Sofia heute Abend reagieren würde. Reagieren auf den geplanten Urlaub, der wieder einmal nicht stattfinden konnte, obwohl er hoch und heilig versprochen hatte, dass es dieses Mal klappen würde.

Er drückte auf einen Knopf, neben dem in Großbuchstaben das Wort Hausverwalter stand. Keine Reaktion. Sparacio versuchte es mehrmals hintereinander, es blieb ruhig.

„Verdammter Mist!“ Es klang erneut brummig. Dann legte er die flache Hand auf eine unbestimmte Anzahl Klingelknöpfe und drückte sie gemeinsam.

Die Tür öffnete sich und kurz darauf standen sie vor der Wohnungstür. Sie war verschlossen.

„Öffnen Sie!“, sagte er zu Sciutto, der umständlich in seinen Taschen kramte und schließlich ein Öffnungsbesteck ans Tageslicht förderte und die Tür nach innen aufdrückte.

„Die Tür war nicht verschlossen“, flüsterte Sciutto. „Nicht verriegelt, meine ich. Nur ins Schloss gezogen.“

„Öffnen Sie ein Fenster!“ Sparacio gab Sciutto einen Wink. „Dieser Gestank.“

„Zigaretten, kalte Zigarettenasche“, ließ sich nun auch Folco Merano vernehmen. „Französische. Gitanes oder Gauloises, kaum eine andere stinkt erbärmlicher. Da lobe ich mir Virginia-Tabake oder …“

„Hatte Zanolla Zigaretten bei sich?“, unterbrach Sparacio den Exkurs seines Kollegen.“ Ich habe bei seinen persönlichen Sachen jedenfalls keine gesehen.“

„Nein, Zigaretten waren keine dabei, Chef. Der Ascher ist auch leer.“ Sciutto schüttelte zur Bestätigung den Kopf und wollte nach dem Aschenbecher greifen.

„Nicht anfassen!“, rief Sparacio und konnte gerade noch verhindern, dass Sciutto seine Prints auf dem gläsernen Teil hinterließ. „Es sieht so aus, als habe Zanolla Gäste gehabt in den vergangenen Tagen.“

„Gäste nennen Sie das?“ Sciutto schaute empört auf die Scherben am Boden neben dem kleinen Couchtisch. „Vandalen waren das. Ein Gelage. Sehen Sie doch nur die vielen Flaschen in der Plastiktüte!“

„Ich glaube eher, die Gläser, oder was von ihnen noch übrig ist, können uns mehr sagen. Glauben Sie, Sciutto, dass Gläser so zerbröseln, wenn sie zu Boden fallen?“

„Sie glauben, da hat jemand nachgeholfen? Warum sollte er das tun?“

„Sehen Sie irgendwo einen vollen Aschenbecher? Die ganze Bude riecht nach abgestandener Zigarettenasche. Und der Aschenbecher ist leer. Ist das nicht seltsam? Ich denke, es war jemand vor uns hier“, sinnierte Sparacio. „Der Mord ist nun über zwei Stunden her. Ich vermute, hier hat jemand etwas ganz Bestimmtes gesucht.“

Sparacio sah sich in dem Raum um, der offensichtlich noch nie gesäubert worden war. Der blaugrüne Stoff der durchgesessenen Sessel war mit Flecken übersät, der kleine Couchtisch mit der Glasplatte hatte lange keinen Reinigungslappen gesehen. Die gardinenlosen Fenster zeugten von liebloser Wohneigenschaft.

Alles in allem hatte Sparacio das Gefühl, dass diese Wohnung nur selten bewohnt wurde. Dennoch, in den letzten Tagen hatten sich hier Menschen aufgehalten.

Zanolla, ja sicher, dachte Sparacio. Aber er war nicht alleine hier. Wer war seine Begleitung, sein Besuch? Jemand, der seine Spuren verwischen wollte? Sein Mörder? Hatte Zanolla vor kurzem mit seinem Mörder hier zusammengesessen?

„Chef, der Computer. Die Rückseite ist noch warm.“ Sparacio wurde von Sciutto aus seinen Gedanken gerissen und sah seinen Mitarbeiter fragend an.

„Das Netzteil an der Rückseite, Chef. Es ist noch warm. Jemand hat den Computer vor nicht allzu langer Zeit benutzt.“

„Schalten sie ihn ein!“ Zanolla hatte offensichtlich etwas, das auch andere begehrten. Sparacio überlegte. War das der Grund, warum man ihn umgebracht hatte? Was wollte Zanolla im Vatikan? Seine Fotokamera! Es waren keine Fotos darauf.

Sparacio erinnerte sich. Die Chipkarte! In der Kamera fehlte die Chipkarte. In Sparacio baute sich ein Verdacht auf.

„Chef, der PC!“ Sciutto machte Sparacio Platz, der sofort begann, den Computer auf seinen Inhalt zu durchsuchen. Es dauerte nicht lange, bis er den Ordner mit der Bezeichnung Wichtig lokalisierte. Er öffnete ihn und als er die fünf Dateien nacheinander öffnete, glaubte er, einiges besser zu verstehen.

„Sciutto! Merano! Wir nehmen das Gerät mit. Alles andere bleibt so wie wir es vorgefunden haben. Die Spurensicherung, sie soll sich sofort um das hier kümmern.“ Sparacio machte eine weit ausholende Armbewegung.

Alte Schriften, dachte Sparacio. Liegt das Geheimnis in den alten Schriften in diesem Ordner mit der Bezeichnung ‚Wichtig‘? Warum um Himmels Willen hat der Besucher die Dateien nicht gelöscht? Kopiert hat er sie doch mit Sicherheit.

Sparacio nickte wissend. Er hatte keine Zeit mehr dazu. Das konnte nur bedeuten, dass der Unbekannte kurz vor ihrem Eintreffen noch in der Wohnung war.

Sciutto und Merano schauten erschrocken auf ihren Vorgesetzten, der lauthals zu fluchen begann.

„Zehn Minuten früher! Io stupido, porca puttana! Zehn Minuten früher und wir hätten das Schwein erwischt!“

*

Merlot warf einen kurzen Blick nach oben, zum Fenster der Wohnung Zanollas und trat das Gaspedal durch. Er hätte sich ohrfeigen können. Wie ein Amateur hatte er sich benommen. Die Dateien hatte er auf seinen Stick gesichert. Doch die Originaldateien, sie befanden sich noch auf der Festplatte des Computers.

Die zertretenen Gläser. Jeder halbwegs logisch denkende Polizeibeamte würde seine Schlüsse daraus ziehen.

Die leeren Bierflaschen …. Man würde sie finden. Es gehörte zur Routine der Ermittler. Ab sie würden keine Abdrücke darauf finden ...

Selbst wenn etwas auf seine Anwesenheit in der Wohnung Zanollas deuten sollte, was konnte man ihm letztendlich nachweisen? Dass er in der Wohnung Zanollas war, mit ihm gemeinsam gesoffen hatte? Es war nichts Strafbares daran. Sie waren Freunde, er und Zanolla, schon über Jahre. Das würde man herausfinden. Und was die zertretenen Gläser betraf: Was tat man nicht alles im volltrunkenen Zustand. Und außerdem: Er hatte die Festplatte oder den Ordner mit den Dateien nicht gelöscht. Also hatte er nichts gewusst von alledem, das müsste man doch annehmen.

Merlot konnte der Zukunft beruhigt entgegensehen. Es gab keine Beweise gegen ihn, nicht einmal Anhaltspunkte. Vermutungen vielleicht. Doch was waren denn schon Vermutungen? Merlot lächelte. Vermutungen sind wie Träume. Sie platzen, wenn man sie nicht in Beweise umwandeln kann.

Dann brachte er den Leihwagen zurück und schlenderte zu seinem billigen Hotel in der Via Cassiodoro. Es gab einiges zu tun für ihn.

Er schloss die Tür des Hotelzimmers von innen ab, nahm aus dem Kleiderschrank aus einer flachen Tasche einen Laptop und schloss ihn an. Während das Gerät hochfuhr, galt sein Interesse der Mappe Zanollas, die er öffnete und durchsuchte. Zum Vorschein kamen ein Arbeitsvertrag mit einem gewissen Professor Rosenbaum, diverse Landkarten, die Gebirgszüge irgendwo in Ägypten zeigten, Wegebeschreibungen und diverse Abrechnungen.

Sieh einer an! Merlot breitete einer der gefalteten Landkarten auf dem Tisch aus und betrachtete die rot markierten Stellen. Danke, mein Freund! Merlot lachte lautlos vor sich hin. Nun wusste er genau, wo er ansetzen würde.

Kurz entschlossen wählte er eine Nummer auf dem vorsintflutlichen Telefon auf dem Nachtisch. Als sich die Fluggesellschaft meldete, buchte er einen Flug gleich für den kommenden Morgen.

„Ja, Kairo, Sie haben richtig verstanden. Nonstop? Sehr gut. Können Sie mir ein preiswertes Hotel empfehlen, für zwei bis drei Tage?“

Merlot notierte: Hotel Cairo Marriott in Kairo. Er lächelte zufrieden. Was immer die Schriften beinhalteten, in Kairo würde man sie ihm übersetzen. Denn dass sie ein großes Geheimnis bewahrten, aus dem er seinen Profit würde schlagen können, daran hegte er keinen Zweifel mehr.

Showdown Jerusalem

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