Читать книгу Afrika - Hans Joachim Gernert - Страница 6

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2. Afrika

Mara war glücklich. So glücklich, wie man nur sein kann, wenn man Schlimmes erlebt und überstanden hat. Wenn man wieder aufatmen kann und Hoffnung da ist, dass alles wieder besser wird. Oder zumindest so wie früher.

Sie freute sich über das neue Programm des Widerstandes, an dem sie lange gearbeitet hatten, die neue Gesellschaftsordnung. Es sah so aus, als würde jetzt, nach der großen Krise, darüber abgestimmt werden. Der Widerstand hatte es geschafft, gehört zu werden. Und Mara war froh, dass ein Teil des Programmes vorsah, dass dem Süden, insbesondere Afrika, geholfen werden sollte. Die Abschottung des Nordens sollte ein Ende haben.

Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie vor einigen Wochen mit Khor geführt hatte. Sie freute sich jedes Mal, wenn sie mit ihm sprechen konnte. Er war ein kluger, nachdenklicher und vielschichtiger Mensch. Je mehr sie ihn kennen gelernt hatte, desto mehr war ihre Bewunderung für den Mann aus Afrika gewachsen.

Das Haus mit dem großen Garten in dem kleinen Dorf hatte sich, ohne dass es geplant war, zum Treffpunkt des Widerstandes entwickelt. Das Haus stand offen für alle, die mitmachen wollten und die Freunde trafen sich gerne hier. Das Dorf war voll Leben, Menschen kamen und gingen und überall wurde diskutiert. Das Haus war der Nukleus des Treibens. Vielleicht lag es auch am Bürgermeister des kleinen Dorfes, der irgendwie selbst zu einer Anlaufstelle geworden war. Er war ein gefragter Ratgeber geworden und stand oft im Mittelpunkt der Bemühungen. Er lenkte sanft, aber bestimmt, die Aktivitäten.

Khor hatte seinen Platz im Garten des Hauses gefunden, hinter den großen Oleanderbüschen, auf der Mauer, wo er für sich sein konnte, ungestört, und doch die Stimmen der anderen und das Leben im Haus hören konnte. Ein bisschen abseits und doch dabei. So wie es für ihn auch die letzten Jahre gewesen war, hier, wohin es ihn verschlagen hatte. Er war immer ein Außenseiter geblieben, auch als Bürgermeister, der Mann aus Afrika. Aber er war auch irgendwie hier angekommen und fühlte, dass er hier sein musste. Man kann viele Heimaten haben.

Mara war zu ihm gegangen und hatte sich neben ihn gesetzt. Sie sagte nichts, weil sie merkte, dass Khor in Gedanken war.

Nach einer Weile wandte er sich ihr zu: „Jeder bemüht sich doch, respektiert zu werden, Anerkennung zu bekommen, ist es nicht so? Das tut man bewusst oder unbewusst. Oder um seine Interessen durchzusetzen. Es ist ja ein gutes Gefühl, etwas entscheiden zu können oder ernst genommen zu werden. Und wenn es nicht so läuft, wie man es sich wünscht, dann ist man enttäuscht. Oder beleidigt. Man fühlt sich zurückgesetzt.“

Mara überlegte. „Und was kann man machen, wenn es nicht so läuft?“ Sie wusste noch nicht, worauf Khor hinauswollte, also nahm sie einen Teil seiner Gedanken auf und fragte nach. Das gab dem anderen ein gutes Gefühl, man zeigte Interesse und ließ Zeit, Gedanken zu formulieren.

„Ich denke, Menschen, die selbstbewusst sind, stellen sich Problemen. Sie versuchen sie zu lösen. Sie lernen, arbeiten an sich und werden stärker. Andere Menschen können das nicht. Sie haben diese Kraft oder das Selbstbewusstsein nicht. Sie ziehen sich zurück, wenn es Probleme gibt, insbesondere mit anderen Menschen. Sie setzen eine andere Macht ein. Sie haben gelernt, sich zu entziehen. Man verweigert sich Anderen. Man weicht aus. Das soll weh tun.“

„Aber ist nicht dieses Verhalten auch die Ausübung von Macht?“

„Ja. Entzug ist eine recht einfache Reaktion, die nicht viel Aufwand kostet. Und man verdrängt das Problem. Man flüchtet vor der Auseinandersetzung. Aber das schafft neue Probleme. Und man kann so wunderbar beobachten, wie der andere in die Falle läuft, weil er nicht versteht, warum er ignoriert wird. Er kann ja nicht so ohne weiteres den Bezug zum eigentlichen Problem erkennen, wenn man es ihm nicht sagt.“

„Ich verstehe. Wer sich verweigert, übt passiv Macht aus?“

„Genau. Und wenn man genau hinschaut, dann geht es meistens um ein Problem, von dem ein Verweigerer glaubt, es nicht zu beherrschen. Wer sich so verhält, zeigt seine Ohnmacht bei der Lösung des eigentlichen Problems. Ohnmacht, ein schönes Wort. Es sagt genau das, was es bedeutet. Ohne Macht.“

Mara lächelte. „Ja. Das stimmt.“ Es war immer wieder erstaunlich, wie tiefsinnig, aber klar Khor über Vieles dachte.

„Und woher kommt Ohnmacht?“, fragte sie.

„Das ist das Gefühl, etwas nicht zu können. Oder nicht zu wissen. Schwach zu sein. Sich nicht durchgesetzt zu haben. Selbstbewusste, starke Menschen verweigern sich nicht. Sie brauchen das Gefühl nicht, durch Entzug der Aufmerksamkeit Macht auszuüben. Aber die Schwachen, die setzen Entzug gezielt ein, um ihre Ohnmacht zu verdecken.“

„Und wie erkennt man das?“

„Na ja, es ist wohl eine Art Fluchtverhalten. Es wird nicht am eigentlichen Problem gearbeitet, sondern auf einer anderen Ebene agiert. Manchmal kann man erkennen, dass es dabei um eine Macht geht, die man glaubt, nicht zu besitzen. Es gibt ja viele Arten von Macht.“

„Aber ist es nicht so, dass Machtstreben oft ihre Ursache in einer früheren Ohnmacht hat?“

„Ja, das ist oft so. Ein prügelnder Ehemann ist immer schwach. Er erkennt nicht, dass sein Problem sein eigenes ist und nicht das seiner Frau. Vielleicht ist er als Kind misshandelt worden. Wer Macht exzessiv ausübt, zeigt wie in einem Spiegel das Ausmaß seiner eigenen Ohnmacht.“

„In einer guten Beziehung sind beide stark. Sie brauchen das nicht.“

Khor sah Mara an. „Ich weiß. Du und Amil, ihr seid in einer solchen guten Beziehung. Amil ist stark und du bist es auch und man kann sehen, dass ihr euch respektiert.“

Mara lächelte. „Du hast Recht. Wir sind verschieden, aber wir respektieren uns. Das hilft sehr. Wir laufen nicht vor Problemen davon.“

„Halt ihn fest. Es gibt nicht viele Menschen, die sich finden.“

„Ja, das werde ich“, versprach Mara. „Aber warum denkst du über Macht nach?“

Khor überlegte. „Manchmal bekommt man Macht, ohne dass man sie gesucht hat. Oder sie gar nicht braucht. Man hat mich gefragt, ob ich bereit bin, der neue Vorsitzende des councils zu werden.“ Er machte eine Pause. „Das ist sehr viel Verantwortung. Ich weiß nicht, ob ich das verdient habe. Und ich habe Angst davor, etwas falsch zu machen. Aber ich will auch nicht ausweichen.“

Mara war im ersten Moment überrascht, das zu hören, aber dann auch wieder nicht. Wer, wenn nicht Khor, mit seinen Erfahrungen aus zwei Welten, zwei Kulturen, hatte die Fähigkeit in einer neuen Gesellschaftsordnung zu einigen, zu verstehen und zu führen? Einer, der auch Afrika, das so lange Zeit isoliert war, kannte. Der es in seinem Dorf geschafft hatte, dass owner und screen-Träger zusammenlebten.

„Du wirst Vieles falsch machen“, sagte sie. „Aber das darfst du, wenn du dir vorher Mühe gegeben hast, alles richtig zu machen.“

Khor lächelte. „Danke, dass du mir die Angst nehmen willst. Aber mich beschäftigt noch etwas anderes. Ist es nicht so, dass Menschen auch ihre Gefühle, Komplexe, Ängste, ja alles mitnehmen, was in ihnen ist, wenn sie ein Amt ausüben sollen? Und wie kann ich verhindern, dass meine Komplexe oder Ängste Entscheidungen beeinflussen? Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn ich Fehler machen würde. Oder der Aufgabe nicht gewachsen wäre.“ „Du bist nicht allein“, war die schlichte Antwort von Mara und dabei beließen sie es.

Eine Weile noch saßen sie nebeneinander und sahen abwechselnd in den Garten und in die Leere, in Gedanken versunken.

Khor würde ein guter Vorsitzender sein, dachte Mara. Sie kannte ihn zwar noch nicht lange. Aber wer sich solche Gedanken machte, der hatte es verdient, Verantwortung zu tragen. Er strebte nicht nach Macht, um eigene Defizite auszugleichen. Da war kein Egoismus bei ihm zu spüren, nur Respekt vor der Macht und Demut, die es immer braucht, wenn man etwas anvertraut bekommt. Man sollte Macht nur Menschen geben, die nicht danach streben. Khor würde es schaffen, zu integrieren. Er könnte der richtige neue Vorsitzende des councils sein. Manchmal sind es verschlungene Lebenswege, die jemand für eine Aufgabe qualifizieren. Für die er jetzt und hier wie gemacht erscheint.

Sie zweifelte nicht daran, dass er gewählt werden würde. War es denn nicht so, dass Menschen, die mehr als nur ein Leben kannten, die viel erlebt hatten, Gutes wie Schlechtes, immer die besseren Führer, immer die besseren Berater waren?

Die, die hinausgegangen waren, die mutig genug waren, um Fremdes kennenzulernen, um Neues zu wagen? Es waren schon immer diese Menschen, die dem Fortschritt geholfen hatten. Weil sie das Beste aus beiden Welten vereinen konnten. Die Vorurteile beseitigt hatten, die man hat, wenn man das Andere nicht kennt.

Mara war Khor dankbar, weil er die Hilfen für Afrika und den Süden koordinierte. Schon vor den Verhandlungen über ein neues Regierungsprogramm wurden sie mit einer unglaublichen Wucht umgesetzt. Die Menschen nahmen die politischen Entscheidungen vorweg und handelten selbst. Ist das nicht auch Wesensmerkmal von Demokratie, Eigenverantwortung zu zeigen? Khor hatte immer mehr Verantwortung für die Hilfe übernommen und begonnen, die Aktivitäten zu strukturieren und zu lenken.

Es war die Dankbarkeit der Menschen im Norden für die Hilfe aus Afrika in der Krise, die gerade vorbei war. Eine Hilfe, die unerwartet und gerade noch rechtzeitig gekommen war. Die Hilfe, die viele gerettet hatte. Und die dazu geführt hatte, dass Khor zu einem der wichtigsten und bekanntesten Männer geworden war.

Diese Krise hatte vieles verändert. Die Not, die sie erlebt hatten, die für alle gleich war, machte jedem klar: wir sind eine Welt, wir sind eine Spezies und wir müssen zusammenhalten, um die großen Probleme zu lösen.

Der Widerstand hatte in den letzten Monaten unter Khor´s Führung einen Wettbewerb für technische Soforthilfe für Afrika organisiert. Alle waren immer noch geflasht von der Resonanz, die der Aufruf hervorgerufen hatte. Menschen hatten ihre Ideen eingebracht, sich in Arbeitskreisen virtuell zusammengeschlossen und Lösungen präsentiert, die fast alle brauchbar und vor allen Dingen schnell umsetzbar waren. Andere waren einfach da, boten sich an, um Arbeiten zu leisten, egal wo und egal was. Jeder fühlte sich für irgendetwas verantwortlich, tat das, was er konnte. Und das Netz brachte sie zusammen.

Das große Problem Afrikas, das knappe und oft verunreinigte Wasser, sollte durch solarbetriebene, mobile Meerwasserentsalzungsanlagen und riesige Pipelines aus dem regenreichen Norden mitten durch die Sahara angegangen werden. Rohrverlegungsmaschinen trieben die Leitungen jeden Tag weiter vorwärts nach Süden. Die Rohre und die Pumpen kamen über den Seeweg direkt aus den Fabriken des Nordens. Die Hersteller und bald auch der council überboten sich, zu helfen, jeder wollte mit dabei sein. Das wieder gut machen, was die jahrelange Abschottung des Südens angerichtet hatte. Überall wurde etwas geplant, montiert oder transportiert.

Es herrschte eine gute Stimmung, es war eine Aufbruchstimmung und die Erleichterung darüber, dass Afrika wieder ein Teil des Ganzen sein sollte, war überall zu spüren.

Die Wasserrohre sollten, wo immer notwendig, Entnahmestellen erhalten, durch Schieberegler oder Ventile zugänglich. Zugang zu sauberem Wasser. Nicht kostenlos, aber zu einem geringen Preis. Denn was keinen Preis hat, ist nichts wert, so behaupten jedenfalls Ökonomen. Und überall dort, wo schon genügend Wasser zur Verfügung stand, wurde gepflanzt und alles angebaut, was dort immer schon zu Hause war und eine gute Ernte versprach. Der Kampf gegen den Hunger und die Dürre war jetzt im Mittelpunkt aller Bemühungen. Die Menschen begannen, sich wieder selbst zu versorgen.

Mara hatte mit Rana, die als Projektleiterin zwischen Nordafrika und Europa hin- und herpendelte, eine App entwickelt, die jedem in Afrika zugänglich war, der eines der kleinen Tablets bekommen hatte, die kostenlos verteilt wurden und die mit Solarstrom funktionierten. Nein, sie wurden nicht eingepflanzt in die Haut wie die screens, man trug sie als Armband oder einfach am Gürtel.

Sie nannten die App für die Tablets „Green“, so wie die Farbe der Auferstehung in der früheren christlichen Lehre, das Symbol für das Leben, den Frühling und das Zeichen dafür, dass alles in Ordnung ist.

Amil und Samir hatten die Algorithmen geschrieben, die hinter „Green“ standen. Dabei nutzten sie die Diagnose von Bildern, die mind in Sekundenschnelle durch den Vergleich von Bildarchiven liefern konnte. Mit der Kamera im screen wurde zunächst ein Bild des Bodens, auf dem angepflanzt werden sollte, aufgenommen und an mind geschickt. Zusammen mit den Positionsdaten des Anfragenden wurde das Bild mit vorhandenen Bildern und den gespeicherten Geodaten verglichen. Das war zwar keine Bodenanalyse vor Ort, aber erstaunlich genau. Die in mind hinterlegten Daten berechneten die Chancen für die Pflanzen, die dort erfolgreich angebaut werden konnten. Überraschend war, dass oft die Pflanzen, die dort traditionell angebaut wurden, von mind vorgeschlagen wurden. Die Menschen in Afrika lachten darüber. Es war ihnen klar, dass die Maschine nur das bestätigte, was man immer gewusst hatte.

Aber die App gab auch ein Tutorial mit Empfehlungen für den Anbau, Pflanz- und Erntezeiten, Pflege der Pflanzen, Schädlingsbekämpfung und Tipps zur Verarbeitung und Vermarktung. Lernt man nicht am schnellsten aus dem Netz, insbesondere wenn man das Gelernte sofort umsetzen kann? Die App wurde innerhalb kürzester Zeit millionenfach angeklickt und die Menschen begannen, Felder anzulegen und die Aussicht auf eine Ernte gab ihnen Hoffnung.

„Die Menschen in Afrika brauchen diese Starthilfe“, hatte Rana argumentiert. „Zu lange haben wir außer traditionellen Erfahrungen und dem, was wir von den Eltern gelernt hatten, keine Impulse und Ideen gehabt. Die Vernetzung der Welt gibt uns die Chance, mehr von dem zu profitieren, was andere wissen.“ Neben „Green“ waren die Tablets mit einer Auswahl von Lernprogrammen, ob Sprachen, Technik oder Naturwissenschaften ausgestattet, mit denen sich jeder weiterbilden konnte. Afrika musste wieder Anschluss gewinnen.

So wurde neben dem Wasser auch Technik und modernes Know- how transferiert. Schon jetzt, nach wenigen Monaten, begannen Landschaften zu blühen, es wurde gebaut und produziert, neue Märkte entstanden und viele fanden Arbeit auf den Feldern oder den Baustellen.

Erstaunlich war die Vielfalt der Wassergewinnung, die Menschen in Afrika während der Isolation entwickelt hatten. Schon immer hatten die Menschen dort gewusst, wie man aus wenig etwas machen konnte. Nebelkollektoren hatten den Morgentau eingefangen, Pflanzen halfen, Wasser zu speichern. Wasserkavernen, die verborgen, aber im Gedächtnis der Menschen waren, wurden genutzt. Und mobile Solaranlagen hatten Wasser aus der Luft kondensiert. Nur so hatten die Menschen bis jetzt überlebt. Mit dem frischen Wasser aus dem Norden, mit verlässlichen Lieferungen in großen Mengen, konnte mehr Land kultiviert und aufgeforstet werden.

Für ein weiteres Problem, die fehlende Energie, war die Lösung Solaranlagen, die Strom erzeugten, der in Wasserstoff umgewandelt werden konnte. Der Wasserstoff wurde in einer speziellen Flüssigkeit gebunden und in Tankwagen und langen Zügen in die energiehungrigen Städte gebracht. Dort wurde die Flüssigkeit separiert und aus dem Wasserstoff wieder Strom gewonnen. Die Sonne Afrikas könnte sich zu einer Industrie entwickeln, davon waren sie überzeugt, eine Industrie, die Energie erzeugen und in den energiehungrigen Norden exportieren konnte.

Es waren vielversprechende Anfänge, der Weg zu mehr Gerechtigkeit und die Hilfe, die sie sich gewünscht hatten. Es würde Jahre dauern, bis das Elend im Süden vorbei sein würde, aber sie hatten begonnen. Arbeitskräfte wurden gebraucht und die Aufbruchsstimmung trug dazu bei, dass die Menschen wieder optimistischer in die Zukunft blickten. Menschen brauchen Ziele. Menschen sind immer bereit, in die Zukunft zu investieren, wenn sie die Hoffnung haben, dass alles besser werden könnte.

Es war Rana, die daran erinnert hatte, dass es neben der Armut und dem Elend auch Reichtum in Afrika gab. Da war dieser Zusammenhalt, eine in vielen Gebieten vielleicht archaisch anmutende Ordnung, die aber oft funktionierte. Es war der afrikanische Weg: mit wenig zusammen viel erreichen. Und die Fähigkeit mit wenig zu überleben. Aber nicht nur das, die Gemeinschaft half dabei, auch glücklich zu leben, das war ebenfalls wichtig. Die Fröhlichkeit der Menschen in Afrika steckte jeden an, selbst die Bedenkenträger im Gebiet des councils. Und war ein Vorbild für viele im Norden. War es nicht so, dass dort der Individualismus so weit gegangen war, dass jeder für sich war und alle glaubten, niemand zu brauchen? „Reich und allein ist nicht glücklich“, hatte Rana das genannt.

Und dann war da das neue politische Programm. Es spiegelte das wider, was sie oft diskutiert hatten und was durch die Befragungen zum Vorschein gekommen war.

Gerade die jungen Menschen wollten weder Reichtum noch Macht um jeden Preis. Jedenfalls nicht auf Kosten anderer. Da war ein neues Denken. Die Wertschätzung für Reichtum und Macht schwand. Das Streben nach Macht und Vermögen durch Einzelne erschien vielen absurd. Sie wollten weg von der Maximierung des Wohlstandes zu einem Wirtschaftswachstum, das sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren sollte. Das war die Philosophie hinter dem Programm Diversity, nämlich die Verteilung von Entscheidungsgewalten und Vermögen in alle Bereiche, die nicht zentral gesteuert werden mussten.

Niemand sollte Land oder Produktionsmittel besitzen, die nicht notwendig zu seinem Lebensbereich oder seinen Aufgaben gehörten, auch nicht der council. Niemand sollte über Fragen des Lebens und Zusammenlebens entscheiden, die für ihn weit weg waren. Es war diese Aufteilung, sowohl der Macht als auch des Eigentums, die die Zukunft gerechter machen sollte. Es sollte zentrale Aufgabe des councils sein, die Mittel, die zur Verfügung standen und ihre Verwendung dezentral zu organisieren. Menschen waren überall klug genug, um ihre Lebensbedingungen und Bedürfnisse zu kennen und lokal für eine Struktur zu sorgen, in der sie ihre Kultur und ihre Ziele verwirklichen konnten.

Das sollte nicht bedeuten, dass es keine Führung geben sollte. Seit jeher hatten Stämme, Völker und Länder Anführer gehabt. Aber die Entscheidungen sollten aufgeteilt werden. Die Regionalisierung der Macht erlaubte Führung, aber sie würde den Zentralismus beenden. Politik würde unabhängig von Ländern, Grenzen oder Regierungen und auch unabhängig vom council sein.

Auch in Afrika gab es Vorbilder für solche dezentralen Strukturen. Die Stämme. Regieren war in der Geschichte Afrikas meist denen vorbehalten, die stark und fähig waren. Jedenfalls in den Zeiten, in denen es keine Kolonialherrschaft gab. Und oft gab es mehrere Führer, etwa die Stammesältesten, Räte oder Familien, denen das Wohl eines Volkes anvertraut war.

Amil hatte diese Systeme beschrieben. Wenn eine Wahl von einem Kandidaten in den westlichen Demokratien knapp gewonnen wurde, dann war der Zweite ausgeschlossen. Er war überstimmt. Auch wenn er viele Wählerstimmen auf sich vereinigt hatte. Wie undemokratisch, denn diese Wählerstimmen waren umsonst, verloren. Sie waren von der Ausübung der Regierungsgewalt ausgeschlossen. Nur Opposition. In vielen Kulturen in Afrika war es dagegen üblich, dass auch der Zweite beteiligt wird. Und der Dritte.

„Das war einer der großen Fehler der Demokratien gewesen, die untergegangen sind“, hatte Mara gesagt. „Die fehlende Bereitschaft, Macht zu verteilen. Und das ist einer der Fehler, die die Macht des councils monopolisiert hatte. Eine Diktatur. Das darf nicht noch einmal passieren. Wir werden alle beteiligen. Durch die Anwendung des Prinzips „Teile und Herrsche“, teilen wir die Mittel und regieren vor Ort. Wir setzen wir eine regionale, ehrliche und damit wirkliche Demokratie um. Macht wird demokratisiert und regionalisiert.“

Mind gab über die screens die Möglichkeit, viele Menschen an politischen Entscheidungen jederzeit teilhaben zu lassen. Eine Art ständige Wahl. Die Basisbefragungen sollten nach und nach Wahlen ersetzen. Die bestehende hierarchische Ordnung würde immer wieder durch Abstimmungen durchbrochen. Und sie wollten in Kauf nehmen, dass nicht jede Entscheidung optimal sein würde, nicht jeder ist ein Experte für alles.

Pluralismus, Schwarmintelligenz, die Vielfalt der Kulturen, alle Möglichkeiten nutzen: mind sollte dieses neue politische System managen. Wozu hat man die künstliche Intelligenz eines Supercomputers?

Plötzlich standen Mara Tränen in den Augen. Sie musste an die Wochen und Monate zurückdenken, die seit dem ersten Angriff auf den Knotenpunkt des Netzes vergangen waren. Und in denen so viel passiert war. Menschen waren gestorben. Der Krieg zwischen dem Widerstand und dem council war kurz, aber furchtbar gewesen. Viele hatten Opfer gebracht. Und alle warteten auf ein neues, gerechteres System. Sie waren es diesen Menschen schuldig, diese Welt zu ändern, zum Besseren zu verändern.

Sie fühlte sich müde, müde von den Anstrengungen. Sie setzte sich auf einen Stuhl und langsam nickte ihr Kopf vor. Ihre Augen schlossen sich und es kam ihr vor, als wäre es gestern gewesen…

Afrika

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